Die Grafische Sammlung der ETH Zürich hat ihre neuste Ausstellung «Andy Warhol – The LIFE Years 1949–1959» eröffnet. Ein sensationeller Fund von frühen Zeichnungen nach Fotovorlagen aus den 1950er Jahren erschliesst neue Facetten des «King of Pop Art». Zur Ausstellung, die noch bis 17. Januar 2016 dauert, ist auch ein Buch erschienen.
Endlich ist der lange gehegte Wunsch von Paul Tanner, Leiter der Grafischen Sammlung der ETH Zürich, eine Ausstellung mit Arbeiten von Andy Warhol realisieren zu können, in Erfüllung gegangen. Als im Jahr 2011 der Münchner Kunsthändler Daniel Blau, Sohn von Georg Baselitz, ein Konvolut von rund 400 frühen Zeichnungen aus dem Nachlass von Andy Warhol entdeckte, hielt die Kunstwelt den Atem an. Man ahnte sogleich, dass es fortan einen bis anhin noch unbekannten Warhol zu entdecken gab, einen Warhol vor seinem Durchbruch mit Serienproduktionen mit Motiven aus der Populärkultur. Seit dem Jahr 2013 wandert die Ausstellung mit den frühen Zeichnungen nun von Museum zu Museum. Das Angebot des Kunsthändlers Blau, mit dem Tanner seit den 1990er Jahren befreundet ist, für Zürich eine andere Gruppe von Zeichnungen zusammenzustellen, nahm dieser gerne an. Am vergangenen Dienstag, den 3. November 2015 wurde die Ausstellung mit mehr als 80 Zeichnungen und so genannten Abklatschen derselben unter Beisein von über hundert Besuchern eröffnet.
LIFE Cover Bilder ausgestellt in der Grafischen Sammlung der ETH Zürich
Fotografien dienten Andy Warhol bekanntlich als Vorlagen seiner Arbeiten, mit denen er weltberühmt wurde: Elvis Presley, Marylin Monroe, Liz Taylor, die Campbell’s Suppendosen und Coca-Cola Flaschen hat er mit seiner Handschrift des Unpersönlichen und einer variantenreichen Farbgebung stilsicher transformiert, zigfach vervielfältigt und die Ergebnisse zur Kunst erklärt. Konsumgüter und Ikonen wurden zu seinem Markenzeichen. Doch kein Meister fällt vom Himmel. Wie wurde aus dem jungen «Graphic Designer» Andrew Warhola einer der prominentesten Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts?
Ausstellungsstrecke mit LIFE-Magazinen in der Grafischen Sammlung der ETH Zürich
«What’s in a picture?», die eingangs gestellte Frage anlässlich ihrer Eröffnungsrede entnahm Alexandra Barcal, die Kuratorin der Ausstellung, einer Rubrik des legendären amerikanischen LIFE Magazins. Die Leserschaft wurde darin Anfang der 1950er Jahre aufgefordert, sich im Interpretieren von Fotografien zu üben und sich dabei an die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte zu erinnern. Das Einzelbild war jeweils einer Fotoreportage entnommen, die schon einmal im Magazin zusammen mit einem Textbeitrag publiziert worden war. Die Frage evozierte ein doppeltes Erinnern: an das Ereignis selbst wie auch an die medienwirksame fotojournalistische Publikation desselben im Blatt.
Mother Embracing Girl.
Links: LIFE vom 2. April 1951, S. 86, Anzeige von United Jewish Appeal, Photo: unbekannt, © The Jewish Federations of North America, Inc., Courtesy Daniel Blau München
Rechts: Andy Warhol (1928-1987), o.T. (Mother Embracing Girl). Um 1955, Bleistift und Tinte auf Papier (bestehend aus drei collagierten Blättern), 60 x 68.2 cm, © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts Inc. / 2015, Pro Litteris, Zürich, Courtesy Daniel Blau München (Pressebilder Grafische Sammlung der ETH Zürich)
Angesichts der präsentierten Tinten-Zeichnungen in der Ausstellung drängt sich nun aber eine ganz andere Frage auf: «What’s in a line?» Da wäre als erstes die handwerkliche Seite zu erwähnen. Mithilfe seiner «Blotted-Line»-Technik fertigte Warhol für ein «abgetupftes» Bild zuerst eine Bleistiftskizze einer Fotografie an, legte darüber ein wasserundurchlässiges Papier, malte dann die Umrisse mit wenigen weiteren Linien in Tusche nach, um von der noch nassen Tinte einen Abklatsch auf Aquarellpapier herzustellen. Weil aber beim Abklatsch nur gerade eine «abgetupfte» Linie, eine «blotted-Line» übrig bleibt und das Bild bis fast zur Unkenntlichkeit verschwindet, ist die Zeichnung aus Tinte oftmals interessanter, als das endgültige Original, das der Künstler erstellt hatte. In Tinte zeigt Warhol Umrisse von Körpern und Gesichtern, von ihrem jeweiligen Kontext gelöst, Ausschnitte, auf das absolute Minimum reduziert. Mimik, Gestik, Körperhaltung. Die Augen, oftmals nicht ausgearbeitet, sind befremdend leer und erinnern an den starren Ausdruck von Totenmasken oder Gesichter ägyptischer Büsten.
Was ist in der Linie? Dieser Frage ist offenbar auch der Kunsthändler, Daniel Blau nachgegangen, als er durch die Entdeckung des sensationellen Fundes von Zeichnungen aus dem Nachlass, von einer sicheren Ahnung getrieben, damit begann, in den LIFE Magazinen nach den fotografischen Vorlagen zu suchen. Wonach hatte der in Malerei und in Gebrauchsgrafik ausgebildete Warhol in den Werbebildern und Reportagefotografien der Zeitschrift LIFE als junger Mann, Anfang 20, gesucht, als er sich in den Kopf gesetzt hatte, Künstler zu werden?
«Two Girls», um 1954, Bleistift und Tinte auf Papier in der Ausstellung der Grafischen Sammlung der ETH Zürich
Was ist in der Linie, wenn alle grauen Zwischentöne, wenn die nuancenreichen Zeichnungen in den hellsten und dunkelsten Partien einer Schwarzweissfotografie entfallen? Die Umrisslinie mitsamt Augen, Nase, Mund und Haaren, auf dem Plakat zur Ausstellung und dem Cover des gleichnamigen Buches zu sehen, sind einer Porträtfotografie von Edward Steichen entnommen. Das Bild von Greta Garbo erschien im LIFE Magazin vom 10. Januar 1955, im Jahr 1928 war es entstanden. Der Porträtfotografie immanent, die Warhol zur Linie reduzierte, ist der Fotograf Steichen hinter der Kamera mit seinen Gedanken und Gefühlen, mit seinem Gestaltungswillen und fotografischen Talent. In der Linie ist aber auch die Kommunikation zwischen Steichen und dem Hollywoodstar Garbo, die dazu geführt hat, dass sich die Diva zu dieser einmaligen Körperhaltung mit den Händen am Kopf hat hinreissen lassen. Das alles ist in der Linie; mit entsprechendem Hintergrund- und Kontextwissen können wir es sehen.
Bilder-Cluster der Ausstellung in der Grafischen Sammlung der ETH Zürich
Insgesamt 28 besonders spannende Beispiele einer unmittelbaren Gegenüberstellung von Fotografien und Zeichnungen sind im Bildband zur Ausstellung präsentiert. So ist beispielsweise in der Umrisslinie des Profis eines Gesichts mit dem Zeigefinger am Mund die sensible Porträtfotografie von Gordon Parks, ein junges Mädchen, gedankenversunken, den Blick nach oben gerichtet, in die Ferne schauend, mit dem Zeigefinger am Mund zu sehen. In der Linie bleibt die Lust, den Finger in den Mund zu nehmen, übrig.
Links Fotografie von Lewis W. Hine, rechts Zeichnung von Andy Warhol (Buchzitat Seiten 72 und 73)
Von der Werbung für Kodak-Filme ist das strahlende Lächeln des jungen porträtierten Mannes in der Linie. Auch von den beiden Porträtfotografien zweier Knaben ist in der Linie das Lächeln. Hinzu kommt eine neue Linie, die die beiden Jungen in eigentümlicher Weise miteinander verbindet. Im Porträt des finnischen Komponisten Jean Sibelius, der sich konzentriert mit gesenkten Augen inszeniert, ist die Totenmaske ebendieses Gesichts in der Linie.
Links Kodak Werbung, rechts Zeichnung von Andy Warhol (Buchzitat Seiten 86 und 87)
In den von Russ und Staub verdreckten traurigen Gesichtern der rund 50 Knaben auf der Fotografie von Lewis W. Hine, die, ihrer Kindheit beraubt, unter erbärmlichsten Bedingungen arbeiten mussten, ist die Gruppe von Knaben in der Linie. Von den beiden Mädchen im Badeanzug mit langem Haar, Kopf an Kopf nach vorne geneigt, vielleicht Steine oder Muscheln betrachtend, ist die Konzentration und die Kontemplation in der Linie.
Links Porträt von Jean Sibelius fotografiert von Yousuf Karash, rechts Zeichnung von Andy Warhol (Buchzitat Seiten 110 und 111)
In der Umarmung einer jüdischen Mutter ihres verängstigten Mädchens ist die bedingungslose Liebe und unendliche Zärtlichkeit einer Mutter in der Linie zu sehen. Dem Alltag enthoben, ist als Essenz ein Gedanke, ein Gefühl, die Komplexität der Welt, auf etwas Einziges, auf etwas Wesentliches in der Linie reduziert. Wenn auch noch Kandinskys berühmte Flächen und Punkte entfallen, dann hat die Reduktion in der Linie ihre höchste Form angenommen, dann ist die Anlage von Warhol als unerreichbarer Meister im Umdenken von existierenden Bildanlagen für eigene Zwecke, wie ihn Alexandra Barcal in ihrem Essay im Bildband bezeichnet, in seinem Frühwerk erkennbar.
Links zwei Knaben fotografiert von Henk Jonker und Maria Austria, rechts Zeichnung von Andy Warhol (Buchzitat Seiten 140 und 141)
In der Ausstellung der Sammlung der ETH Zürich sind die Cover-Bilder und Innenseiten der LIFE Magazine aus den 1950er Jahren, die Warhol als Vorlagen für seine Linienkompositionen benutzte, in einer langen Glasvitrine ausserhalb der Sammlung zu sehen. Die Präsentation der Zeichnungen im Cluster mit Bildern, die teilweise sehr hoch gehängt sind, stellt insbesondere für Menschen im Rollstuhl keine optimale kuratorische Lösung dar. Vielleicht hätte hier das Prinzip «weniger ist mehr» den Zugang zu den Zeichnungen erleichtert. Die eine oder andere Gegenüberstellung von Fotografie und Zeichnung, gerade so, wie diese im Buch so vortrefflich vorzufinden ist, wäre für ein vergleichendes Sehen mit grossem Anreiz verbunden gewesen. So bleibt nach dem Besuch in der lohnenswerten Ausstellung der gelungene Bildband für einen vertieften Einblick in die frühen Foto-Zeichnungen, die der junge Warhol dem fotografischen Mikrokosmos des legendären LIFE Magazins entnommen hat.
Links Zeichnung von Andy Warhol, rechts Fotografie von Gordon Parks Buchzitat (Seiten 166 und 167)
Text: Monica Boirar
Informationen zur Ausstellung auf einen Blick
Ort: Graphische Sammlung der ETH, Rämistrasse 101, Zürich
Öffnungszeiten:
4. November bis 23. Dezember 2015, 4. Januar bis 17. Januar 2016,
Montag bis Sonntag von 10:00 bis 16:45 Uhr
Eintritt: frei
Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite der Grafischen Sammlung der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich
Führungen: «Kunst am Montagmittag» jeweils von 12:30 bis 13:00 Uhr im Rahmen der aktuellen Ausstellung |
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09.11.2015 | What’s in a picture … Einführung zur Ausstellung mit Alexandra Barcal |
16.11.2015 | Formen der Monotypie Andy Warhol und seine «blotted line» mit Paul Tanner |
23.11.2015 | Linien aus Punkten und Klecksen – Die Technik der «blotted line» Im Versuchslabor mit dem Team des Restaurierungsateliers |
30.11.2015 | Andy Warhol revised Georg Frei (Thomas Ammann Fine Art) im Gespräch mit Paul Tanner |
07.12. 2015 | The Golden Age of Fotojournalism Ein Porträt der amerikanischen Zeitschrift LIFE von Olaf Kunde, Fotograf und Kommunikationswissenschaftler |
14.12.2015 | Death and Disaster Andy Warhols «Electric-Chair»-Serie, von Isabelle Scheck |
Weitere Infos unter www.gs.ethz.ch/ausstellung/montagmittag.html |
Buchpublikation zur Ausstellung
Andy Warhol «The LIFE Years 1949–1959»
Graphische Sammlung der ETH Zürich (Hg.)
Textbeiträge: Paul Tanner: Vorwort, Dank, «Die Tradition der Monotypie und Andy Warhols Blotted-Line», Alexandra Barcal: «Die Kunst der Reduktion oder what’s in a picture …», Olaf Kunde: «The Golden Age of Photojournalism: Das amerikanische Magazin LIFE (1936–1972)»
Hirmer Verlag, München
196 Seiten, 123 Abbildungen in Farbe und S/W, Texte: D/E, 24 x 32 cm, gebunden, Schutzumschlag
ISBN 978-3-7774-2438-5
Preis: CHF 45.80, EUR 34.90, (Ausstellungspreis CHF 35.00)
Rechtliche Anmerkung
Alle Urheberrechte bleiben vorbehalten. Sämtliche Reproduktionen sowie jegliche andere Nutzungen ohne Genehmigung – mit Ausnahme des individuellen und privaten Abrufens der Werke – ist verboten.