Zum 50. Todestag des Schweizer Jahrhundertkünstlers zeigt das Kunsthaus Zürich unter dem Titel «Alberto Giacometti – Material und Vision» über 250 seiner Werke in Gips, Stein, Ton und Bronze. Die Bedeutung des Mediums Fotografie zur Verbreitung und Bekanntmachung lässt sich an Giacomettis Œuvre beispielhaft aufzeigen.
Zu den vielen neugierigen Menschen, die das kleine, legendäre Atelier an der Rue Hippolyte Maindron 46 in den 1950er Jahren in Paris aufsuchten, zählten auch berühmte Fotografen. Sie setzten den eigenwilligen Bildhauer und Maler mit einer seiner lebensgrossen Plastiken oder einer Handvoll seiner kleineren Figuren in Szene und rückten ihn, teils auch mit Fotolampen, in ein schönes Kunstlicht. Die Porträtbildnisse erschienen in Zeitungen oder Zeitschriften und gingen um die Welt. Als kleine Sensation galt die Ausstellung im Jahr 2011 im Bündner Kunstmuseum (Fotointern berichtete). Die gezeigte Leihgabe der persönlichen Fotosammlung von Giacometti mit Porträts von Fotografen wie Gordon Parks, Arnold Newman, Sabine Weiss, Robert Doisneau, René Burri und weiteren bekannten Namen erschien auch als Buchpublikation.
Das Kunsthaus Zürich präsentiert nun eine einmalige, nicht wiederholbare Ausstellung. Gezeigt wird der ganze Giacometti mit Werken von allen Schaffensperioden mit zum Teil noch nie gesehenen Arbeiten aus Ton, Plastilin und Gips. Die Materialität der Werke wird in den Mittelpunkt oder besser Vordergrund gerückt. Im Zentrum sind 75 fragilste Gipsfiguren, die der jüngste Bruder von Alberto, Bruno und seine Frau Odette Giacometti 2006 der Alberto Giacometti-Stiftung geschenkt hatten. Bedeutende Exponate sind im Katalog zur Ausstellung als Einzelabbildungen wiedergegeben. Viele dieser Aufnahmen hat der Fotograf Stefan Altenburger realisiert. Bei einer sachlich tadellosen Fotografie eines Kunstwerks ist fotohandwerkliches Können gefragt, aber auch der Blick für das Wesen der Figur, Skulptur oder des Objekts. Denn nur mit geschultem Auge gelingt es, den Werken gerecht zu werden. Für das Plakat und den Banner am Kunsthaus, den Katalog zur Ausstellung, eine separate Broschüre, sieben Postkarten und die Pressebilder war der Fotograf Dominic Büttner besorgt.
Alberto Giacometti, früheste Werke: 1901 – 1919: Kindheit und erstes Schaffen / 1920 – 1924: Ausbildung in Paris. Angaben zu den Figuren: (v. l. n. r.) Bruno als Kind, um 1917, Gips; Kopf Diego, um 1914, Plastilin; Schüler von Schiers, um 1917, Gips; Kopf der Mutter, um 1920, Gips; Kopf Diego, 1925, rötlich geschlämmt; Die Mutter des Künstlers, 1927, Bronze
Der Kurator Philippe Büttner hatte jeweils mehrere Figuren für die zu erstellenden Stillleben zusammengestellt. Nach kunsthistorischen Gesichtspunkten, also entsprechend ihrem Entstehungsdatum und der Schaffensperiode, wurden sie geordnet. Die fotografische Aufgabenstellung war laut dem Konzept der Ausstellung, das Material der Werke besonders gut zur Geltung zu bringen. Gemeinsam mit der Grafikerin Lena Huber wurde die Inszenierung der Objekte umgesetzt. Vor grau gestrichener Wand, auf grauem Boden oder Tisch stehend, hat Büttner die Objekte in weichem Licht festgehalten. Zwei Sunbounce Reflektoren am Galgen über den Werken erlaubten eine naturähnliche Beleuchtung von oben herab und punktuell eine subtile Lichtführung mit einzelnen Lichtakzenten.
Alberto Giacometti, Werke 1949–1965. Foto: Dominic Büttner
Fotografiert hat Büttner mit einer Contax 645 und Phase one Digital back sowie Broncolor- und Prophoto-Blitzlicht. Messerscharf sind die Figuren allesamt wiedergegeben. Der Fotograf hatte sich bei seiner Arbeit ganz bewusst zurückgenommen. Er habe keine effekthascherischen Aufnahmen machen, sondern den Figuren ihren Raum entsprechend ihrer Bedeutung geben wollen, schildert er seine Vorgehensweise. Seine Lichtführung nennt er zenitales Licht.
Alberto Giacometti «La main», 1947. Gips und Eisenstab, bemalt, 65,5 x 79 x 12 cm. Foto: Dominic Büttner
Viele der Arbeiten sind in dieser Form noch nie so fotografiert worden. Die Idee der Grafikerin Lena Huber, eine Kopfskulptur auf den Boden zu stellen, erweist sich als besonders geglückt. Eine spannende Beziehungskonstellation unter den Figuren hat sich so ergeben. Als Cover des Katalogs wurde ein Ausschnitt des Stilllebens gewählt. Die gesamte, besonders gelungene Werkgruppe von Büttners Fotografien als stimmige Figuren-Ensembles, welche die Bronze, den teils auch bemalten Gips, das Plastilin, den Stein, den Ton oder das Holz erkennen lassen, ist im Kiosk des Kunsthauses in einer separaten Broschüre «Alberto Giacometti, Das plastische Werk in 47 Objekten / The Sculptural Achievement in 47 Works» erhältlich. Das Titelbild zeigt als kleine Hommage an das Schaffen von Ernst Scheidegger eines seiner Stillleben mit Giacomettis Gipsfiguren wie sie im Atelier in Paris vom Künstler selbst nebeneinander gestellt worden waren. Alle Stillleben von Dominic Büttner sowie ein kurzes Making-of zur Entstehung der Aufnahmen, das einen spannenden Einblick gewährt, finden sich auf Büttners Webseite unter www.buettner.ch/giacometti.
Alberto Giacometti, Werke 1914–1965. Foto: Dominic Büttner
Im Begleittext zu seinem Bildband «Alberto Giacometti –Spuren einer Freundschaft» erwähnt der Fotograf Ernst Scheidegger drei seiner Kollegen, die im Atelier des Künstlers länger verweilen durften: Man Ray, Henri Cartier-Bresson und Brassaï. Er selbst, seit 1943 mit dem Plastiker und Maler befreundet, war ein willkommener Gast, durfte vielleicht am allerlängsten bleiben, genoss auch das Vertrauen der Familie, nahm sich diskret zurück und störte deshalb keineswegs, nicht nur wegen seiner leisen Leica Kamera.
Ab Anfang der 1950er Jahre entstanden intime Atelier-Einblicke der Entstehungsprozesse am Ton, am Gips und an der Leinwand. Die detailreichen Darstellungen von Giacomettis Atelier und seinem Konterfei stiessen bei einigen Zeitzeugen auch auf Ablehnung: zu nah, zu direkt, zu viel Gips und Dreck, zu chaotisch, insgesamt zu ungeschönt. So hatte man kaum einen anderen Künstler in seiner Werkstatt je gesehen und kennengelernt.
Durfte man das wirklich alles so zeigen? War das nicht voyeuristisch? Ging Scheidegger damals zu weit, wenn er sogar in einem Haufen Gipsabfall noch ein spannendes Stillleben entdeckte und dieses als veröffentlichungswürdig einstufte? Festzustellen gilt: Giacometti hatte es zugelassen, genau so und nicht anders. Sein Werk war damals nicht unumstritten, die fotografische Arbeit von Ernst Scheidegger ebenso.
In dem von ihm selbst gegründeten Verlag brachte Scheidegger 1962 als erstes Buch «Jean Genet – Alberto Giacometti» mit 19 seiner Atelier-Fotografien heraus. Die Bilder von Giacometti, seinen Händen voller Gips, seiner Kleidung voller Gipsspuren sind zu Klassikern mutiert, das Buch ist noch heute in unveränderter Form im Verlagsprogramm von Scheidegger & Spiess aufgeführt.
Künstlerutensilien von Alberto Giacometti. Foto: Dominic Büttner
Längst sind die intimen Atelier-Bilder Teil des kollektiven Gedächtnisses, des kulturellen Erinnerns und in ihrer spezifischen Qualität anerkannt. Mit wissenschaftlichen Methoden lässt sich nicht erfassen und messen, inwiefern ebendiese Fotografien einen relevanten Beitrag zu Giacomettis Berühmtheit geleistet haben. Aber nur die Nähe, auch die emotionale und intellektuelle zu einem Künstler und seinem Werk erlaubt ein Verstehen, ein Mitfühlen, ein sich Hineinversetzen in eine andere Welt. Zumindest aus psychologischer Perspektive kann das festgestellt werden. Und ebendiese Nähe zu Giacometti und seinem Œuvre, zu seinem Wesen und demjenigen seiner Figuren lässt sich im Geist mithilfe der Atelier-Bilder mit den vielen Ton- und Gipsbüsten und den spindeldürren Kunstskulpturen besonders gut heraufbeschwören. Mit Giacometti an seinen Gipsskulpturen arbeitend, hat Scheidegger international bedeutende Zeitdokumente geschaffen. Das Erkennen des fotogenen Potentials der weissen Gipsfiguren, das sensible Sehen von feinen Grautönen im Weiss, hatte der Fotograf bei Hans Finsler, dem legendären Lehrer der Kunstgewerbeschule der Stadt Zürich, gelernt.
Alberto Giacometti arbeitet an einem Porträt von Isaku Yanaihara. Paris ca. 1960. Foto Ernst Scheidegger, © 2016 Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich, © Pro Litteris, Zürich.
Scheidegger ist es zu verdanken, dass wir den spannenden Einblick vom Balkon des Ateliers herab kennen. Mit seinem linken Auge sehen wir Giacometti beim Malen zu. Er ist umgeben von seinen Skulpturen, die teils am Boden und auf dem Arbeitstischen stehen, seinen Büsten und kleinen Figuren auf Beistelltischen und Regalen. Allesamt sind sie auf den Künstler gerichtet, einer Entourage gleich, und scheinen ihrem geistig-schöpferischen Vater in sonderbar anmutender Beseeltheit beim Malen zuzuschauen, ihn wie Kinder oder Schüler über seinen Rücken hinweg bei der Arbeit zu beobachten. Scheidegger, mit seinem Schalk und sicheren Blick für potentielle Situationskomik, hatte, als er die Szene von oben herab sah und einen passenden Bildausschnitt wählte, ganz bestimmt den Humor in dem Vorgefundenen erkannt.
In der Ausstellungsarchitektur im Bührlesaal des Kunsthauses Zürich ist die Werkstatt-Atmosphäre, die Ernst Scheidegger in seinen Reportagefotografien Mitte des letzten Jahrhunderts visuell dokumentiert und interpretiert hatte, aufgegriffen und den engen Raumverhältnissen der Ateliers von Paris und Stampa nachempfunden. In abstrahierter Form, stilsicher rekonstruiert und reduziert, erwirken die vielen Eingrenzung der kleinen Räume und Raumeinheiten, teils mit Sichtfenstern für Durchblicke versehen, eine Art fotografisches Sehen mit vorgegebenen Bildausschnitten und Standpunkten. Jeder Raum stellt ein eigentliches Zeitfenster dar, in dem die Werke, entsprechend den Schaffensperioden zugeteilt sind. Naturalistisches, Figürliches, Avantgardistisches, Surrealistisches, Köpfe, winzige Büsten, spindeldürre Gestalten auf überdimensionalen Sockeln, Objekte und Gemälde. Assoziationen mit Schaubuden oder Guckkasten werden geweckt.
Alberto Giacometti «Femme couchée», 1929, Foto: Stefan Altenbuger
Die Figuren erscheinen in eigentümlicher Weise beseelt, schauen uns an, sprechen uns an, erzählen Geschichten: So wird Giacometti als magischer Puppenspieler erlebbar, die Fäden seiner schöpferischen Welt fest in den Händen, sein geistiger Kosmos als Bühnenverbund kleiner Parzellen, jede Figur zur Selbst-Inszenierung belebt. Entlang der breiten Passagen begegnen uns einige der berühmten Bronzefiguren wie «Le Chariot, der Wagen», «La Main, die Hand», einmal in Gips und einmal in Bronze, «Le Chien, der Hund», melancholisch, zutiefst traurig, mit hängendem Kopf und durchhängendem Rücken. Vor ihm liegen unter Glas, quasi als fiktionale Grabstelle, seine eigenen «Gebeine», die mit Isolier- und Trennmittelschichten überzogenen Originalteile aus Gips. Ein Memento mori, das jede Darstellung eines Totenschädels in den Schatten zu stellen vermag. In einem separaten Kabinett sind sieben grossformatige Schwarzweissfotografien des deutschen Modefotografen Peter Lindbergh präsentiert, der Giacomettis Meisterwerke nach seinem Gutdünken für die aktuelle September Ausgabe 2016 des deutschen Blau-Magazins ablichten durfte.
Und da wäre noch diese herzergreifende Geschichte mit der kleinen, naturalistischen Gipsbüste «Bruno als Kind, um 1917», die Giacometti als 16-Jähriger von seinem Bruder angefertigt hatte. Bereits mit diesem Werk offenbart sich die Begabung des Jugendlichen. Die kleine Büste von Bruno ist allen, die sich Scheideggers Fotografien sehr genau angeschaut haben, vertraut. Im Bildband «Spuren einer Freundschaft» ist sie im Atelier von Stampa auf einem Stillleben Scheideggers zu sehen und dann ein weiteres Mal; 1966 stand die weisse Gipsbüste noch immer in Stampa auf dem Regal über der Kommode im ungeheizten Atelier des Künstlers. Am obersten Bildrand zeigt sie Scheidegger neben der Büste «Schüler von Schiers, um 1917». Im Vordergrund ist der aufgebahrte Sarg von Alberto Giacometti, mit einem weissen, mit Häkeleien verzierten Laken bedeckt und Kränzen geschmückt. Scheidegger hatte in dem Atelierraum über Nacht die Totenwache gehalten und tagsüber aufdringliche Fotoreporter abgewehrt, die das Sargfenster aufschrauben wollten. So beschreibt er es im Begleittext seines Fotobuchs. In der Ausstellung findet man die Fotografie im Raum «Stampa» in einer Glasvitrine, in der ein Exemplar des Bildbandes an ebendieser Stelle aufgeklappt liegt. Die Gipsbüste des kleinen Bruders über dem Sarg von Giacometti ergibt zusammen mit den anderen Figuren und Bildern ein Stillleben, das eine unglaubliche Emotion erkennen lässt.
Copyright der Abbildungen (falls nicht anders erwähnt): Kunsthaus Zürich, © Succession Alberto Giacometti / 2016 ProLitteris, Zürich
Text: Monica Boirar
Dauer der Ausstellung: bis 15. Januar 2017
Weitere Informationen finden sich auf der Webseite des Kunsthauses Zürich
Lesen Sie mehr zur Ausstellung Alberto Giacometti im Musée Rath (Fotointern berichtete), Genf im Jahr 2010, die den Fokus auch auf Giacomettis Beziehungen zu Genf ausgerichtet, wo er während den Kriegsjahren lebte.
Lesen Sie mehr zur Ausstellung der Giacometti-Porträts im Bündner Kunstmuseum im Jahr 2011 (Fotointern berichtete).
Publikationen:
«Alberto Giacometti – Material und Vision». Die Meisterwerke in Gips, Stein, Ton und Bronze Gips, Plastilin, Stein, Holz: Giacomettis Umgang mit Werkstoffen neu beleuchtet.
Herausgegeben vom Kunsthaus Zürich. Mit Beiträgen von Philippe Büttner, Casimiro Di Crescenzo, Catherine Grenier, Tobias Haupt, Christian Klemm, Kerstin Mürer und Stefan Zweifel
CHF 59.00 | EUR 58.00
1. Auflage 2016, gebunden, 22 x 27 cm
240 Seiten, 224 farbige und 36 sw Abbildungen
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich
ISBN 978-3-85881-525-5
«Alberto Giacometti. Das plastische Werk in 47 Objekten». Diese Publikation wird nur im Shop des Kunsthaus Zürich verkauft (Auflage 2000 Exemplare). Sie hat 6 Seiten als Umschlag und 16 Seiten im Inhalt. Das Format ist 20.5 x 29 cm. Auf dem Cover ist ein Foto von Ernst Scheidegger zu sehen. Der Preis liegt bei ca. CHF 20.–
Jean Genet «Albert Giacometti». Mit Zeichnungen von Alberto Giacometti und Fotografien von Ernst Scheidegger. Unveränderte Neuausgabe 2004 der Erstausgabe von 1962.
Gebunden, 22 x 28.5 cm. 80 Seiten, 16 Zeichnungen und 19 Schwarzweiss-Fotografien
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich
CHF 25.– / EUR 25.–
ISBN 978-3-85881-051-9