Urs Tillmanns, 8. Oktober 2017, 10:00 Uhr

Die dreidimensionale Fotografie im Greyerzer-Museum in Bulle

Im «Musée gruérien» in Bulle ist derzeit eine Sonderschau über Stereofotografie zu sehen. Sie erklärt nicht nur die dreidimensionalen Verfahren von den Anfängen bis in die Gegenwart, sondern sie präsentiert bisher praktisch nie gesehene Bilder der Freiburger Fotografen Simon Glasson, Rodolphe Bochud, Rodolphe de Boccard, Louis de Boccard und Pierre Joseph Rossier. Sie sind Pioniere der Stereofotografie im 19. Jahrhundert und hatten mit ihren doppeläugigen Kameras nicht nur die Regionen und Gebräuche Freiburgs mit Raumbildern festgehalten, sondern auch Ansichten aus fernen Ländern wie Madagaskar und Japan mit nach Hause gebracht.

Die Ausstellung in Bulle spannt aber noch einen weitaus grösseren Bogen: Sie beginnt mit einem Nachbau des ersten Stereobetrachters von Charles Wheatstone, mit dem der Engländer 1838 – ein Jahr vor der offiziellen Erfindung der Fotografie – das Prinzip des stereoskopischen Sehens erklärte. Das Prinzip besteht darin, dass mit einer Doppelkamera zwei Bilder aufnimmt, die um den Augenabstand verschoben sind. Bei der Betrachtung wird jedes Bild dem entsprechenden Auge zugeordnet, wodurch ein Raumeindruck entsteht. Das Gerät ist interaktiv, und man kann damit verschiedene Bilder mit wirkungsvollen Bildtiefe anschauen.

Der Nachbau des Stereobetrachters von Charles Wheatstone in der Ausstellung ist ideal, um das Prinzip des stereoskopischen Sehens zu erklären.

Weiter sind in der Ausstellung Stereobilder und -verfahren aus allen Epochen in fünf Abteilungen zu sehen, sei es als seltene Originalbilder, sei es in verschiedenen Projektionen, zu denen die entsprechenden Polarisations- oder Anaglyphenbrillen dem Besucher zur Verfügung stehen. Dies zur grossen Begeisterung eines jungen und älteren Publikums, das sich gleichermassen sowohl an den historisch interessanten als auch originellen Raumbildern interessiert zeigt.

Die Initialzündung der Ausstellung geht auf eine frühere zurück, nämlich auf die Schau «Fous de couleur», die vor rund zwei Jahren im gleichen Museum zeigt und «Autochrome», die ersten Farbfotografien vornehmlich aus der Freiburger Region, zum Thema hatte (Fotointern berichtete).  Nahliegend, dass auch in der jetzigen Ausstellung Autochrome-Bilder zu sehen sind und mit ihrer eingefärbten Kartoffelstärke als Farbgeber vor allem deshalb begeistern, weil sie auch nach über hundert Jahren absolut farbecht und unverblichen sind.

Stereo-Autochromeplatte von Simon Glasson. Als Inhaber eines Fotogeschäfts in Bulle war er bezüglich neuer Techniken immer auf dem Laufenden und dürfte auch als einer der ersten die Farbplatten der Gebrüder Lumière ausprobiert haben

Die Ausstellung ist vor allem fünf Pionieren der Greyerzer Region gewidmet, die sich alle intensiv mit dem räumlichen Sehen und der dreidimensionalen Fotografie befasst hatten und deren Leben und Wirken mit dieser Bilderschau in Erinnerung bleiben soll. Sie haben sich teils als Amateure teils von Berufes wegen mit der Fotografie befasst und haben mit ihrem Schaffen viel zur fotografischen Dokumentation insbesondere der ländlichen Lebensgewohnheiten beigetragen.

 

Pierre Joseph Rossier (1829-1886)

Pierre Rossier wuchs in Grandsivaz (Broye) in einer grossen Bauernfamilie auf, wird Lehrer und begibt sich im Alter von 26 Jahren nach London, wo er sich mit der Kollodium-Fotografie auseinandersetzt. Der Londoner Stereoverlag Negetti & Zambra, der weltweit und erfolgreich Stereobilder vertrieb, ermutigt ihn als offizieller Fotograf nach Asien zu reisen und dort Aufnahmen von Land und Leute exklusive für den Verlag zu fotografieren. Von 1858 bis1862 bereist er dafür Indien, China, die Philippinen, Japan und Thailand und dokumentiert das dortige Leben und Gebräuche. 1862 kehrt er in die Schweiz zurück, zunächst nach Freiburg, doch lässt er sich bald in Einsiedeln nieder, um dort ein fotografisches Atelier zu betreiben. Ein Jahr später finden wir ihn wieder in Freiburg, wo er mit seinem Studio bald für Porträtbilder im Carte-devisite-Format und Stereobilder, die damals stark in Mode kamen, bekannt wird. Fotos aus der Freiburger Region von Pierre Rossier sind rar geworden. Obwohl er Hunderte Ansichten fotografiert hat, sind heute nur rund 150 Cartes-de-visites und vielleicht etwa 50 Stereobilder von ihm erhalten geblieben.

1865 heiratet Pierre Rossier, doch stirbt seine Frau bald nach der Geburt ihres Sohnes. Gleichzeitig läuft sein Geschäft immer schlechter, so dass er beschliesst nach Paris auszuwandern, wo er im Alter von 57 Jahren stirbt.

 

Louis de Boccard (1866-1956)

Auch der Freiburger Louis de Boccard ist von fernen Ländern begeistert und wandert 23jähriger mit einer Gruppe aus Freiburg nach Argentinien aus. Er lässt sich zunächst in der Kolonie Bragado in der Umgebung von Buenos Aires nieder und durchsteift als Naturforscher und Fotograf expeditionsmässig mehrere südamerikanische Länder, die er leidenschaftlich und gekonnt fotografisch dokumentiert. Das Greyerzer Museum konnte dieses Jahr den fotografischen Nachlass von Louis de Boccard erwerben, in welchem sich etwa zehn Stereobilder aus Argentinien, Uruguay und der Schweiz befinden.

 

Rodolphe de Boccard (1898-1935)

Rodolphe de Boccard von Givisiez wanderte in den frühen 1920er-Jahren mit den französischen Truppen nach Madagaskar aus, wo er sich dem Anbau von Kaffee, Eukalyptus und dem Bau der Eisenbahnlinien durch die riesigen Waldgebiete widmet. Seine Nachkommen, die nach 1970 wieder in die Schweiz zurückgekehrt sind, haben eine Schachtel mit 300 Stereobildern sorgsam behütet, die heute als fotografischen Nachlass von Rodolphe de Boccard das Leben vor einem knappen Jahrhundert in Madagaskar erhalten geblieben sind. Diese seltenen Bilder wurden dem Museum zu Reproduktionszwecken zur Verfügung gestellt und bilden so einen Teil dieser Ausstellung.

Plantagenarbeiter auf Madagaskar, aufgenommen von Rodolphe de Boccard

 

Rodolphe Bochud (1856–1944)

Rodolphe Bochud war als Priester, Historiker, politischer Chronist und Amateurfotograf eine bekannte Persönlichkeit in seinem Dorf Neirivue im Greyerzer Hochland. Zwischen 1880 und 1910 hat Rodolphe Bochud mehrere Hundert Fotos aufgenommen, welche das tägliche Leben der Bevölkerung von Neirivue und der Umgebung zeigen. Der Nachlass, der sich im Museum in Bulle befindet, umfasst mehrere Hundert Negative sowie Abzüge und Stereodiapositive von denen einige Teil dieser Ausstellung sind.

 

Simon Glasson (1882-1960)

Simon Glasson hat sich nach 1910 mit der Fotografie befasst und 1921 seine «Photo-Hall» in Bulle als Fotofachgeschäft eröffnet. Während er sich vor allem der Gebirgsfotografie und Postkartenmotiven widmete, die sich im aufblühenden Tourismus offenbar recht gut verkauften, kümmern sich seine Gemahlin Rose und sein Mitarbeiter Victor Gremion um die Porträtaufnahmen im Studio und das Fotografieren von Reportagen. Im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit hat Simon Glasson zahlreiche Stereoaufnahme in Schwarzweiss realisiert, die vor allem Familienmotive zeigen. Das Greyerzer Museum konnte 2002 den Nachlass von Photo Glasson erwerben.

Eine Dorfszene in den 1920er-Jahren fotografiert von Simon Glasson. Interessant ist nicht nur die damalige Mode, sondern auch die Dame in Vordergrund, die in einen grossen Stereobetrachter schaut.

 

Die Stereofotografie im Wandel der Zeit

Die räumliche Bilddarstellung erlebt alle paar Jahrzehnte einen Boom, der nach einer gewissen Zeit wieder abflaut. Die erste Stereowelle dürfte nach 1850 stattgefunden haben, nachdem das Stereoskop von Brewster (siehe unser Einstiegsbild) populär und als preisgünstiger Stereokartenbetrachter weit verbreitet wurde. In der Folge schossen dann auch die Stereokarten-Verlage wie Pilze aus dem Boden und boten überall ihre neuesten Ansichten von fernen Städten und Landschaften an, aber auch Märchen- und Theaterszenen bis hin zu Bildserien mit weniger gesellschaftsfähigem Inhalt. Mit der Nachfrage nach mehr und besseren Bilder finden wir gegen Ende der 1850er-Jahre immer bessere und teurere Stereokameras, meist aus edlen Hölzern, die nicht nur von Berufsfotografen benutzt wurden, sondern zunehmend auch von Amateurfotografen – «Dilettanten», wie man sie damals unabschätzig nannte.

Die Ausstellung gibt auch einen knappen Überblick zur technischen Entwicklung der Stereokameras und -betrachter. Jede Stereoepoche brachte wieder neue und spannende technische Lösungen

Einmal um die Jahrhundertwende und dann wieder Mitte der 1920er Jahre bis zum zweiten Weltkrieg finden wir weitere Stereoepochen, in welchen das Raumbild wieder auf Interesse stiess. Stereobilder waren so etwas wie «Uropas Fernsehen». Man reichte sich die eben erworbenen Stereokarten herum, und jeder betrachtete diese in seinem Stereoskop.

Damit mehrere Leute gleichzeitig Stereobilder betrachten konnten, kam der Berliner August Fuhrmann auf die Idee, grosse kreisrunde Anlagen zu bauen, um diese sogenannten «Kaiserpanoramen» in vielen Städten insbesondere in Deutschland mit Eintrittsgeld zu betreiben. Eine Kleinversion eines solchen «Kaiserpanoramas» ist ebenfalls in der Ausstellung als äusserst seltenes Stück in tadellosem Zustand zu sehen.

Als «Kaiserpanoramen» bezeichnet man kreisförmig angeordnete Geräte oder Anlagen, an denen mehrere Personen gleichzeitig Stereobilder betrachten können. Das Miniatur-Kaiserpanorama in der Ausstellung ist sehr selten und in hervorragendem Zustand. Eingeklinkt ein weiteres Autochrom-Stereobild von Simon Glasson

In den 1950er Jahren wurde die Stereofotografie abermals sehr populär, als die Firma Sawyer′s in den USA eine Stereokamera auf den Markt brachte, mit der eigene Stereo-Bildpaare auf normalem Kleinbild-Diafilm erstellt werden konnten. Die Bilder wurden in speziell gestanzte Scheiben montiert und vermittelten mit einem speziellen Betrachter einen räumlichen Eindruck. Solche «View-Master»-Scheiben gab es bald auch kommerziell mit Bildserien zu verschiedensten Themen wie Ferne Länder, Sehenswürdigkeiten sowie Märchen-, Walt-Disney- oder Tiermotiven.

«View-Master» machte vor rund 50 Jahren die Stereofotografie erneut populär. In der Ausstellung können sich auch Kinder von der eindrücklichen Bildwirkung überzeugen.

In jüngerer Zeit versuchte sich auch das 3D-Fernsehen durchzusetzen, doch verhinderte das beschränkte Angebot an entsprechenden Sendungen und die zwingende Verwendung von Stereobrillen den erhofften Erfolg. Allerdings könnte schon bald eine nächste Stereowelle anstehen, die «Virtual Reality» heisst und bereits vor der Türe steht.

Urs Tillmanns

Weitere fotografische Highlights im Musée gruérien:

• Daguerreotypen von Girault de Prangey
• #tradifri (Traditions fribourgoises) Freiburger Tradtionen durch den Sucher contemporärer Fotografen (bis 26.11.2017)
•  «Nova vida – Brésil Portugal». Fotografisches Forschungsprojekt über  Thomas Brasey

Das Museum ist ganzjährig täglich von 10:00-12:00 und 13:30-17:00 Uhr geöffnet, jedoch jeden Montag geschlossen. Führungen sind in Französisch, Deutsch und Englisch nach Voranmeldung möglich.

Musée gruérien
Rue de la Condémine 25
CH-1630 Bulle
Tel. 026 916 10 10

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