Urs Tillmanns, 29. Oktober 2017, 09:00 Uhr

Im BelleVue Basel: Andreas Seibert – «Erd_reich»

Andreas Seibert ist fasziniert von der Urbanisierung in China, die in einem rasanten Tempo voranschreitet. Dennoch sieht er in der aktuellen Entwicklung eine grosse Gefahr: «Unser Wirtschaftssystem basiert auf endlichen Rohstoffen. Obwohl wir dies wissen und damit auch verstehen, dass dieses System nicht nachhaltig ist und demnach dringend einer Kursänderung bedarf, ist diese nicht zu erkennen.»

Andreas Seibert ist freischaffender Fotograf und befasst sich mit sozialkritischen Themen. Er hat viele Jahre in Japan gelebt und hat sich intensiv mit der Urbanisierung in China auseinandergesetzt. (Foto: Urs Tillmanns / Fotointern)

Seiberts Impressionen sind eindrücklich – zeigen das aufstrebende China aus einer bisher unbekannten Perspektive. Sie machen Neugierig, man will mehr über die Problematik der Urbanisierung in China erfahren, will wissen, wie Andreas Seibert in China unterwegs war, was er erlebt hat und wie er fotografiert. Fotointern hat in im BelleVue Basel interviewt.

 

Die Ausstellung im BelleVue in Basel zeigt zwei verschiedenartige Arbeiten: einmal Steinbrüche aus dem Baselbiet, dann eine Serie über die Urbanisierung in China. Welches ist der Grundgedanke dieses Konzeptes?

Der Rohstoff «Stein». Aus dem Stein werden Baustoffe gewonnen, die China im Rahmen einer gewaltigen Urbanisierung in unvorstellbaren Mengen verbraucht werden. Aber auch unser Erdmaterial ist endlich. Das Phänomen der Urbanisierung in China fasziniert mich, und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, dieses zu fotografieren. Es fasziniert mich zu sehen, wie sich die Millionenstädte immer noch weiter ausdehnen, nicht nur in die Höhe sondern vor allem in die Breite wachsen. Es werden Dörfer abgerissen und deren landwirtschaftliche Flächen zwecks besserer Bewirtschaftung zusammengelegt. Die Dorfbewohner werden umgesiedelt. Dabei geht es übrigens nicht nur um Baumaterial, sondern genauso um andere Rohstoffe – Kupfer beispielsweise, dessen Preis extrem in die Höhe geschnellt ist, weil alle diese Hochhäuser Unmengen von Kabel für elektrische Installationen verschlingen.

 

China ist im Umbruch, das zeigt nicht zuletzt ihre Bildreihe deutlich. Es werden Gebäude abgerissen, die noch weiterhin nutzbar wären. Ist dieser Verbrauch an endlichen natürlichen Ressourcen in China augenfälliger als anderswo?

Nicht unbedingt. Es gibt ihn natürlich in Europa und in Amerika genau so, nur in China geht alles viel schneller und in einer unvorstellbaren Dimension. Dahinter steht eine gigantische Planwirtschaft: Die Städte werden rasant vergrössert, die Leute in den umliegenden Dörfern werden umgesiedelt; Bauern werden zu Städter gemacht, die kein Land mehr bebauen sondern konsumieren sollen. Das Credo: Chinas exportorientierte Wirtschaft soll sich vermehrt auf den Binnenkonsum abstützen können.

 

Wie wird für die betroffene Bevölkerung gesorgt? Werden die Leute umgesiedelt oder entschädigt?

In den meisten Fällen werden sie umgesiedelt, und sie erhalten eine neue Wohnung. Ob das in Wirklichkeit auch immer so glatt abläuft, sei dahingestellt. Wenn die Menschen eine neue Wohnung im urbanen Raum zugeordnet bekommen, dann fehlt ihnen oft der sozialen Zusammenhalt, das soziale Gefüge, das sie von ihrem Dorfleben her kannten. Aus ihnen werden Einzelpersonen, die alleine in grossen Gebäuden wohnen. Damit sind sie besser kontrollierbar. Ob dies auch ein Zweck und Ziel der Urbanisierung ist?

 

Aufgrund des Persönlichkeitsschutzes wird es immer schwieriger Bilder von Menschen zu publizieren. Ist das in China auch schon ein Thema und wie gehen Sie damit um?

Grundsätzlich frage ich, ob ich die Leute fotografieren darf. Somit ergeben sich keine Missverständnisse und den Porträtierten ist klar, warum ich sie fotografieren möchte und in welchem Kontext ihr Bild allenfalls erscheinen wird. Es kann jedoch durchaus zu unangenehmen Situationen kommen. Einmal bin ich zufällig an eine Menschenansammlung gekommen, die aus guten Gründen, die ich hier nicht darlegen kann, einen Polizisten, der verängstigt in seinem Auto sass, zur Rechenschaft ziehen wollte. Dort wurde mir von Polizisten klar und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich als Fremder, dazu noch mit einer Kamera, hier nicht erwünscht sei.

 

Sie fotografieren noch immer analog. Keine Lust in die digitale Welt umzusteigen?

Nein, es gibt für mich auch keinen Grund. Die meisten meiner Aufnahmen mache ich seit 2011 mit einer Fujifilm GF670, die ein fantastisches Objektiv hat. Selbst mit 400-ISO-Film ist die Schärfe absolut überzeugend. Dann habe ich meisten meine Leica MP dabei und bin damit viel unauffälliger als mit einer grossen Spiegelreflexkamera. Je weniger man als Fotograf auffällt, desto besser die sind die Chancen, dass man mit besseren Bildern belohnt wird.

Lassen Sie dann die Filme in China entwickeln?

Nein. Dort gibt es natürlich auch gute Labors, doch ich nehme meine Filme mit nach Japan oder Europa, denn hier kenne ich die Labors.

Leben Sie da nicht in einer ständigen Ungewissheit, ob die Bilder etwas geworden sind?

War diese Unsicherheit nicht typisch für Fotografen früherer Zeit? Und waren ihre Aufnahmen schlechter als die heutigen? Nein. Ich erachte diese Unsicherheit sogar als positiv. Denn man weiss bis zum Schluss nicht, ob die Bilder, die man Tag für Tag aufnimmt, technisch wirklich gut sind, ob sie gelungen sind. Das erzeugt eine Spannung, mit der man jeden neuen Tag mit dem Vorsatz, nochmals alles zu geben, beginnt. Das kann nur gut sein.

 

Sie decken mit Ihren eindrucksvollen Bildern Missstände auf, die nachdenklich stimmen? Welches ist damit Ihre Kernbotschaft?

ich hoffe, meine Fotografie stellt Fragen: Wie wollen wir gemeinsam auf diesem Planeten leben? Was ist uns wichtig und was nicht? Wie sehen wir unsere gemeinsame Zukunft und wo unsere Verantwortung? Vielleicht regt meine Arbeit zu grösseren Diskursen an. Diskursen, die unsere – westlich geprägte – Welt dringend benötigt, meine ich.

Das Interview führte Urs Tillmanns

Fotos: Copyright © Andreas Seibert / Pro Litteris

Die Ausstellung «Erd_reich» von Andreas Seibert ist noch bis 10. Dezember 2017 zu sehen im

BelleVue – Ort für Fotografie
Breisacherstrasse 50
CH-4057 Basel

Öffnungszeiten
Samstag und Sonntag, 11 bis 17 Uhr
Mittwoch, 17.30 bis 19 Uhr
(Am Samstag, 4. November, geschlossen ab 15 Uhr)

Führungen an den Sonntagen
29. Oktober, 15 Uhr, in Gebärdensprache mit Lautsprache mit Lua Leirner
5. November, 14 Uhr; 12. November, 14 Uhr; 19. November, 14 Uhr; 26. November, 14 Uhr mit Regine Flury oder Anne Hody
10. Dezember, 14 Uhr mit Regine Flury und Andreas Seibert

Finissage
So, 10. Dezember, 17 Uhr Gespräch mit Andreas Seibert. Moderation: Richard Spillmann

Filmvorführung:
«From Somewhere to Nowhere – Unterwegs in China mit Andreas Seibert». Ein Film von Villi Hermann, 2009 (nach dem gleichnamigen Buch von Andreas Seibert).
Mittwoch, 22. November, 19.30 Uhr

Weitere Informationen unter www.bellevue-fotografie.ch

 

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