Urs Tillmanns, 6. Februar 2022, 12:14 Uhr

Was, wenn das Eis schmilzt?

Ursprünglich stammen die Inuits wahrscheinlich von einem asiatischen Volk ab und wanderten etwa 3000 bis 2500 vor Christus durch die Beringstrasse nach Alaska und schliesslich über Kanada bis nach Grönland. Sie haben sich längst den dortigen klimatischen Verhältnisse angepasst, leben jedoch heute in einfachen Holzhäusern und ernähren sich in der ewigen Eiswüste und extrem tiefen Temperaturen vom Fischfang und von der Robbenjagd.

 

Fridolin Walcher zeigt auf einer Grönlandkarte die Route der Schweizer Expedition, an der er 2018 als Fotograf teilgenommen hatte

Begonnen hatte alles vor rund zehn Jahren, als Fridolin Walcher mit Benedikt Wechsler, dem späteren Schweizer Botschafter in Dänemark, das Kulturzentrum «Bsinti» Braunwald aufbaute. Daraus ist eine tiefe Freundschaft geworden, und als Benedikt Wechsler dem Fotografen Fridolin Walcher sagte, es sei eine zweiwöchige wissenschaftliche Expedition nach Grönland in Planung, bewarb sich Fridolin als Fotograf und wurde ausgewählt. Es sollten Teilnehmende aus den verschiedensten Tätigkeitsfeldern mit dabei sein: Wissenschaftler, Diplomaten, Geschäftsleute, Medienvertreter und Kunstschaffende, um zusammen einen Bericht über den Klimawechsel in Grönland zu verfassen. «Ich habe schon als Kind davon geträumt, einmal die riesige Eiswüste Grönlands zu besuchen. Ich habe nie damit gerechnet, aber jetzt ist der Traum in Erfüllung gegangen» sagte Fridolin Walcher.

 

Das Leben bei den Inuits

Fridolin Walcher hat zunächst an der Expedition teilgenommen, die ihn durch die Weiten Grönlands führte bis zum East Grip auf 2700 Meter über Meer, eine Forschungsstation im Zentrum der Insel und dann weiter zum Petermanngletscher auf 80 Grad Nord. Zum Ende der Expedition entschied sich Fridolin noch alleine drei Wochen bei den Inuits in Kullorsuaq zu verbringen. Kullorsuaq ist im Norden eine der drei nördlichsten Siedlungen der Insel, mit 450 Einwohnern, davon 90 Kinder. Recht abgelegen, denn der nächste kleine Nachbarort mit rund 180 Menschen, Nuussuaq, liegt 52 Kilometer im Süden und nach Savissivik im Norden sind es 274 Kilometer. Erreicht werden diese Orte mit Hunde- oder Motorschlitten, oder mit dem Kurs-Hubschrauber, der bei schönem Wetter zweimal pro Woche kommt.

 

In Kullorsuaq gibt es rund 450 Einwohner. Sie leben von der Jagd und vom Fischfang und wohnen in festen Häusern 

Kullorsuaq ist einer der wichtigeren Orte der Region, der von der Grönländischen Versorgungsunternehmen Nukissiorfiit mit Trinkwasser aus einem Schmelzsee und Strom beliefert wird, über eine medizinische Versorgungsstation verfügt sowie über eine Schule für die 90 Kinder. Am Ende der Schulzeit ziehen die meisten von ihnen in die nächsten Orte auf der Insel, nach Ilulissat, in die Hauptstadt Nuuk oder nach Kangerlussuaq mit dem internationalen Flughafen, der die verkehrstechnische Anbindung an das Heimatland Dänemark oder nach Amerika sichert und ursprünglich eine Militärbasis war. Viele verlassen die einfache Lebensweise und wandern aus, weil sie sich in Europa oder Amerika bessere Existenzmöglichkeiten versprechen. Von 15 Schulabgängern in Kullorsuaq haben sich 2018 nur gerade zwei entschieden Jäger und Fischer zu bleiben, die andern verlassen den Ort und ziehen in den Süden. Sie wissen genau, was sich ihnen in der wärmeren Welt bietet, denn selbst in Kullorsuaq gibt es Internet. Und mit einem USB-Stick als Mitbringsel, oder sonst einem IT-Gadget, kann man Freunde gewinnen …

 

Fridolin Walcher wohnte drei Wochen bei den Inuits und hat viele von ihnen porträtiert.

Die Bilder sind noch bis 20. März 2022 in seiner Ausstellung im «Bsinti», dem Ort für Alpine Fotografie, in Braunwald zu sehen

Für Fridolin Walcher, der die Einsamkeit liebt, war Kullorsuaq der ideale Aufenthaltsort, um die Menschen zu porträtieren und deren Lebensweise kennenzulernen. Kommt hinzu, dass hier Birgitta aus Deutschland lebt und die Verständigung unterstützen konnte. Birgitta war vor langer Zeit nach Kullorsuaq gekommen, um die Sprache der Einheimischen, das Kalaallisut, zu studieren, verliebte sich in einen inuiten Jäger – und blieb. Sie stellte Fridolin alle wichtigen Leute der Siedlung vor, den Fischern und Jägern, dem Gemeinvorsteher, dem Schulleiter und den Schülern. Und so gehörte Fridolin rasch zu ihnen – auch wenn sie sich kaum verständigen konnten. Aber viel zu reden gab es kaum und man tauschte sich in der Regel mimisch oder mit einem entsprechendem Schulterzucken und Augenrollen aus.

 

Hunde- und Motorschlitten sind die einzigen Transportmittel der Jäger. Kajaks sind unabdingbar für die Jagd nach Narwalen

Die Fisch- und Jagdutensilien warten auf ihren nächsten Einsatz

Das Leben bei den Inuits scheint uns eintönig. Die meisten sind Selbstversorger und gehen dem Fischfang, der Robben- oder Narwaljagd nach – mehr oder weniger das Einzige, was regelmässig auf dem Speiseplan steht. Im Sommer kommt dann und wann ein Versorgungsschiff und bringt Lebensmittel für das einzige Kolonialwarengeschäft im Ort, um in den monotonen Menüplan mit vitaminreichem Gemüse und Früchten als Delikatessen etwas Abwechslung zu bringen. Doch von November bis Juni kommt kein Schiff durch das meterdicke Eis …

 

Heilbutt ist das einzige Exportgut im Dorf. Aufgrund der Meereserwärmung steigen die Fänge in Kullorsuaq. Früher kam er nur im Süden Grönlands vor

Ebenso der gestreifte Seewolf, der eigentlich nur auf dem Seegrund lebt. Er ist ein äusserst kraftvoller Fisch, der noch lange nach seinem Fang um sich beisst

Immer wenn ein Hubschrauber auf dem Flugfeld von Kullorsuaq landet, ist das ein kleines Volksfest. Was ihm wohl für Menschen entsteigen? Meist sind es Familienangehörige, die in der 1200 Kilometer entfernten Hauptstadt Nuuk oder in llulisaat etwas zu erledigen oder einen ärztlichen Termin hatten, selten kommen Wissenschaftler und Forscher. Was bringen sie wohl mit?

 

Neben Fisch- ist Robbenfleisch ein wichtiger Teil der Ernährung der Inuits. Viel grösser ist die Auswahl nicht in dieser Eiswüste

Nach der Jagd ruhen sich die Schlittenhunde aus. Sie sind Freunde und wichtige Jagdpartner

Fridolin hat sich mit einigen Einheimischen angefreundet und konnte, wann und wo immer sie hingingen, mit seiner Kamera dabei sein. Es sei interessant gewesen ihren Ritualen und Gepflogenheiten zu folgen, beim Fischen, bei der Jagd und beim Ausnehmen der Beute zuzusehen. Unterwegs isst man die Leber der Beute – roh, oder man kocht das Fleisch in Eiswasser. Dabei standen auch die Hunde nicht abseits und bekamen mit den dicken Fettbrocken der Narwale ihren Festschmaus. Man gewöhnt sich an die trockene Kälte, die im Sommer in Kullorsuaq angenehme minus 10 Grad beträgt. Kälter ist es im Landesinnern, und auf dem East Grip betrug die Temperatur minus 30 bis 40 Grad. Da werden die einfachsten Verrichtungen mühsam, auch der Filmwechsel – denn Fridolin hat die meisten Aufnahmen auf Film fotografiert.

 

Neuerdings kommen Eisbären ins Dorf auf der Suche nach Nahrung, was eine grosse Gefahr für die Bevölkerung darstellt

 

Was, wenn das Eis schmilzt?

Ob man vom Klimawandel im eisigen Grönland etwas merkt? Ja, meint Fridolin. Es sei wärmer geworden. Die Gletscher in Grönland fliessen schneller – vor zehn Jahren flossen einige mit zwanzig Metern pro Tag ins offene Meer hinaus, heute fliessen diese mehr als doppelt so schnell. Auch merke man die Erderwärmung auch daran, dass die Niederschläge häufiger sind, und dass das Meer später gefriert, was normalerweise im November der Fall ist – dieses Jahr aber erst im Januar, wie Fridolins Freunde erzählten. Zudem wären schon öfters Eisbären ins Dorf gekommen, weil sie Futter suchen, was für die Bevölkerung äusserst gefährlich ist. Auch könne in Kullorsuaq heute mehr Heilbutt gefangen werden, der früher vor allem im Süden Grönlands vorkam. Heilbutt ist ein wichtiger Exportartikel Grönlands, der tiefgefroren aufs Festland geflogen, dort verarbeitet wird und schliesslich bei uns «fangfrisch» auf den Teller kommt.

 

Die Prozession bringt eine verstorbene Einwohnerin zum kleinen Friedhof von Kullorsuaq

Sie findet im Eis ihre letzte Ruhe

Und wenn das Eis schmilzt? Grosses Schulterzucken bei den Inuits – man lebt von Tag zu Tag und stellt sich bewundernswert jeder Veränderung. Die Jungen wandern aus und die Alten gehen dem Narwalfang und der Robbenjagd nach – Tag für Tag …

Ob sich mit der Expedition und der Abgeschiedenheit in Kullorsuaq der Jugendraum von Fridolin Walcher erfüllt hat? «Absolut! Es war eine grossartige Lebenserfahrung, die mit vielen Freundschaften und unvergesslichen Momenten belohnt wurde» resümiert Fridolin. «Ich habe gelernt, mit wie wenig man auskommen, wie man sich unter so einfachen und klimatisch extremen Verhältnissen zurechtfinden kann, und wie anpassungsfähig der Mensch ist. Vor den Inuits habe ich grosse Achtung, davor wie sie ihre Gegenwart und ihre Zukunft meistern – auch und gerade wenn das Eis schmilzt …»

Expeditionsfotos: Fridolin Walcher
Text: Urs Tillmanns

Die Ausstellung

Noch bis 20. März 2022 sind die Bilder von Fridolin Walchers Grönland-Aufenthalt im «Bsinti – Ort für Alpine Fotografie» in Braunwald zu sehen. Sie zeigen an mehreren Wänden die verschiedenen fotografischen Themen der Reise von faszinierenden Landschaften über Porträts der Inuits bis hin zu ihren Lebensgewohnheiten. Das Bsinti mit seinem vielfältigen Kulturprogramm ist auch Veranstaltungsort regelmässiger Vorträge und Lesungen.

Weitere Informationen zum Bsinti finden Sie hier.

 

Der Fotograf

Fridolin Walcher wurde 1951 geboren, wuchs in Braunwald auf und wurde so schon früh vom Leben in den Alpen geprägt. Nach der Matura und dem Abschluss als Reallehrer unterrichtete er an einer Realschule im Kanton Glarus. Seine berufliche Laufbahn als Fotograf begann 1990. Er arbeitete an Ausstellungen im In- und Ausland zu verschiedenen alpinen Themen und publizierte viele Artikel und Bücher zur alpinen Fotografie sowie Sozialreportagen rund um den Globus. Er ist Mitbegründer der Fotoagentur Lunax und Mitglied der vfg (Vereinigung fotografischer Gestalter/innen). Er ist er immer seinem Wohnkanton Glarus treu geblieben, hat jedoch jeweils mehrere Monate in Nordschweden, Westafrika, Indonesien, Brasilien, Südfrankreich, Berlin, Bulgarien und Südafrika verbracht. Fridolin Walcher lebt heute in Nidfurn und betreibt in Linthal sein «Bilderlager», das auf Vereinbarung besichtigt werden kann.
Weitere Infos dazu in einem Artetv-Film auf Youtube und auf https://walcherbild.ch/

 

Die Bücher zur Expedition

War die interdisziplinäre Expedition ein Erfolg? Das Ergebnis der Expedition wurde in zwei Büchern veröffentlicht, eines als Expeditionsbericht mit Fotografien von Fridolin Walcher und Grafiken von Martin Stützle, ein zweites, das die Stimmungsberichte und Ortsbeschreibungen der Teilnehmenden enthält.

«The Glacier’s Essence. Grönland – Glarus: Kunst, Klima, Wissenschaft», © 2020 Scheidegger & Spiess, ISBN 978-3-85881-665-8 (siehe Fotointern Buchbesprechung)
«Greenland Expedition 2018 – Experiences and reflections on climate change», © Leister Foundation, ISBN 978-3-033-07107-0

 

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