Urs Tillmanns, 14. Mai 2022, 12:13 Uhr

Buchtipp: «Hinter Mauern – Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen»

Während früher psychiatrische Kliniken gerne aus dem Bewusstsein verdrängt wurden, sind diese Institutionen in den letzten Jahren immer stärker ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Wie lebten die Menschen zu Beginn des letzten Jahrhunderts dort? Wie wurden sie therapiert? Welche Arbeiten verrichten Sie, und wie verbrachten sie ihre Freizeit?

Der vorliegende Bildband, zugleich Katalog der gleichnamigen Ausstellungen in Heidelberg, Ittingen und Bern (siehe Hinweis am Schluss des Artikels) bricht dieses Tabu und gibt uns Einblick in die Irrenhäuser oder Heil- und Pflegeanstalten – wie sich die meisten nannten – des Zeitraums von 1880 bis 1935. Die Urheber dieser Bilder sind meist unbekannt, weil die Bilder in der Regel von Psychiaterinnen und Psychiatern oder vom Pflegepersonal zur internen Dokumentation oder zu Schulungs- und Ausbildungszwecken gemacht wurden und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Davon abweichend gab es anderseits auch Bilder, die bewusst zur externen Aufklärung in Broschüren oder Artikeln verwendet wurden, um über Therapiemethoden zu berichten oder um den Ruf dieser Institutionen zu pflegen, beziehungsweise zu verbessern. Dazu wurden gelegentlich auch externe Berufsfotografen beauftragt.

Die Fotos stammen aus einem riesigen Fundus von rund 3000 Bildern, die in den Archiven von sechs Anstalten schlummerten und für die Ausstellung und dieses Buch sorgsam ausgewählt wurden. Sie zeigen einerseits Ansichten der Räumlichkeiten und Einrichtungen sowie das Personal von damals, anderseits aber auch Fotos von Insassen in Gruppen, als Einzelporträts, bei der Arbeit oder in ihrer Freizeit. Besonders die Porträts sind aussagestark und zeigen die Verfassungen und Stimmungen der Personen auf eindrückliche Weise.

Abweichend von der Aussage, dass die Bilder vorwiegend vom Personal aufgenommen wurde, belegt das Buch in zwei Aufsätzen die fotografierende Ärztin Dr. Marie von Ries-lmchanitzky sowie der Psychiater Hermann Rorschach, deren Bilder eine durchaus professionelle Qualität aufweisen. Zudem ist in den beiden Texten auch viel über deren fotografische Motivation und Arbeitsweisen zu erfahren. Überhaupt sind die Textteile des Buches sehr lesenswert und informativ, wenn man sich für den Einsatz der Fotografie in den damaligen Anstalten und für die üblichen Therapiemethoden interessiert.

Für wen ist dieses Buch? Es deckt vor allem zwei Interessensgebiete ab: Einmal das Leben und die Vorgehensweise in den damaligen Institutionen zur Pflege geistesbehinderter Menschen, dann aber auch den entsprechenden fotohistorischen Aspekt des Zeitraumes von 1880 bis 1935. Es öffnet damit einen Wissens- und Sachbereich, der bisher bildmässig weitgehend unbekannt war.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Verlags

Viele psychiatrische Kliniken in der Schweiz beherbergen einen Fundus an historischen Fotografien, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen und die bis anhin noch nie untersucht wurden. Glasdiapositive und -negative, lose Papierabzüge und Fotoalben gewähren faszinierende Einblicke in die Zeit der Modernisierung dieser Einrichtungen – und zugleich in die Geschichte der Fotografie. Das damals neue Medium wurde von Psychiaterinnen und Psychiatern eingesetzt, um Diagnosen anhand von Merkmalen zu erfassen, aber auch, um der Öffentlichkeit das Leben hinter Anstaltsmauern näherzubringen. Mit zunehmend handlicheren Kameras konnten auch die bescheidenen Freizeitaktivitäten, Festivitäten und kreativen Freiräume festgehalten werden.

Das Buch Hinter Mauern und die gleichnamige Ausstellung in der Sammlung Prinzhorn (Heidelberg), im Thurgauer Kunstmuseum (Warth) und im Schweizerischen Psychiatrie-Museum (Bern) machen diese Zeitzeugnisse nun erstmals der Öffentlichkeit zugänglich. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln untersuchen die Autorinnen und Autoren kritisch die Verwendungszwecke des Mediums Fotografie in der Psychiatrie.

 

Der Inhalt

Markus Landert / Katrin Luchsinger / Stefanie Hoch
Vorwort – Ein kritischer Blick auf den Einsatz von Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz um 1900

Katrin Luchsinger – Fotografie in psychiatrischen Anstalten der Schweiz zwischen 1880 und 1935

Urs Germann – Arbeit als Therapie. Anstaltsfotografie und Patientenarbeit in der Zwischenkriegszeit

Martina Wernli – Vor der Linse. Dr. Marie von Ries-lmchanitzky als fotografierende und fotografierte Ãrztin in der Klinik

Stefanie Hoch – Der Löwe, der im Kreis fuhr, oder das Doppelleben der Fotografien

Sabine Münzenmaier – Aufnehmen, vergleichen, bewerten. Von den Anfängen der Psychiatriefotografie und den fototechnischen Möglichkeiten zwischen 1850 und 1930

Anhang

 

Die Autorinnen

Katrin Luchsinger ist Kunsthistorikerin und arbeitet heute freischaffend zu Themen wie Kunst und Psychologie, Material Cultures und Inklusion. Bis 2019 lehrte sie an der Zürcher Hochschule der Künste Kunstgeschichte der Neuzeit und leitete am dortigen Institute for Cultural Studies in the Arts mehrere SNF-Projekte zum künstlerischen Schaffen in der Psychiatrie um 1900.

Stefanie Hoch ist Kulturwissenschafterin und seit 2012 als Kuratorin am Kunstmuseum Thurgau in der Kartause Ittingen tätig. Davor arbeitete sie 2008–2012 als Kuratorin an der Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum.

 

Bibliografie

Hinter Mauern – Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen 1880 bis 1935

132 Seiten, 35 farbige und 66 sw-Abbildungen
gebunden, fester Umschlag, Format 24 x 29,7 cm
1. Auflage, 2022
Texte Deutsch und Englisch
Herausgegeben von Katrin Luchsinger und Stefanie Hoch. Mit Beiträgen von Urs Germann, Stefanie Hoch, Markus Landert, Katrin Luchsinger, Sabine Münzenmaier und Martina Wernli
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich
Preis: CHF 49.00, EUR 48,00
ISBN 978-3-03942-056-8

Das Buch ist im Buchhandel erhältlich, kann bei Verlag direkt bestellt oder hier im Ausland geordert werden.

Das Buch zu den Ausstellungen

Das Buch «Hinter Mauern» begleitet folgende Ausstellungen:
• Heidelberg: Sammlung Prinzhorn: 24. März bis 31. Juli 2022
• Kartause Ittingen, Kunstmuseum Thurgau: 2. Oktober 2022 bis 16. April 2023
• Bern, Psychiatrie-Museum: 26. Mai 2023 bis 30. April 2024

 

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