Urs Tillmanns, 18. Mai 2024, 11:35 Uhr

Buchtipp: Fritz Franz Vogel «Kitsch per Post»

Vor mehr als 100 Jahren herrschte in Europa eine Postkartenmanie. Mehr als 300 Verlage soll es gegeben haben, die für jede Gelegenheit und mit grossen Aufwand passende Postkarten produzierten. Dieses Buch vermittelt einen Eindruck über die Bedeutung und Vielfalt solcher Fotopostkarten.

Diesmal besprechen wir keine Neuerscheinung, sondern ein zehnjähriges Buch, das irgendwie in Vergessenheit geraten ist. Weshalb? Weil es sich mit dem Randthema von «Kitschpostkarten» befasst, ein Thema, das wahrscheinlich zu wenig populär war, um sich ein für damals 78 Franken teures Buch zuzulegen. An Originalität jedoch hat «Kitsch per Post» nichts eingebüsst – und an Wertigkeit auch nicht.

Das Buch präsentiert sich edel – ganz im Stil damaligen Zeit – mit einem passend gestalteten Velours-Einband in fünf verschiedenen Farben. Dieser ist zudem mit einer Aussparung versehern, in der ein Originalprint zu sehen ist; bei jedem Buch ein anderer. So haben die Bücher auch einen unikaten Wert und stellen ein einmaliges Sammlerobjekt dar.

Man muss sich gedanklich in die damalige Zeit zurückversetzen, um den Sinn dieses Buches und die Bedeutung der Postkartenmanie zu verstehen. Damals gab es wahrscheinlich das Wort «Kitsch» noch gar nicht, und der grafische Zeitgeist sowie die Kommunikationsmöglichkeiten waren ganz andere als heute. Es war eine Zeit, als die Postkarten ganz gross in Mode kamen, die besonders beliebt waren, weil neben der meist liebevoll verfassten textlichen Botschaft das Begleitbild der Vorderseite diese noch passend unterstützte. Es gab sie zu allen Anlässen, als erste Liebeserklärung oder als späteren Liebesbeweis, zur Geburt eines Kindes oder zu allen Geburtstagen, zu allen Festtagen, wie Ostern, St.Nikolaus, Weihnachten, Neujahr oder solche, die den damaligen Ersten Weltkrieg thematisierten, dann welche mit den ewig beliebten Teddybären oder Puppenspielen, mit Märchen und Geschichten, allen möglichen (und auch unmöglichen) Genre-Szenen, dann passende zum Kinderspiel für Bubi und Frechdachs bis hin zum ersten Schulgang. Kaum ein Anlass, zu dem sich die Postkartenverlage nicht mehr oder weniger passende Motive haben einfallen lassen.

Der Textteil des Buches widerspiegelt eine tiefgründige Forschungsarbeit des Autors und informiert über die Geschichte, die Art der Motive, die Herstellungsverfahren und die Bedeutung der Bromsilber-Postkarten jener Epoche. Darin enthalten sind auch Informationen über die rund 300 Postkartenverlage, die sich mit dieser Massenproduktion befassten und mit hohem artistischen und technischen Aufwand eine unüberschaubare Menge von Motiven auf den Markt brachten. Telefon und Telegramm, die in den frühen 1920iger-Jahren als modernere Kommunikationsmittel aufkamen, setzten dem Postkartentrend schliesslich ein Ende.

«Das gesüßte Leben auf Bromsilberkarten von 1895 bis 1920», so der Untertitel des Buches, deckt eine klar definierte Zeitspanne ab und dokumentiert Motive und grafische Gestaltung jener Zeit in unvorstellbarer Vollständigkeit. Kaum ein Thema, zu dem es nicht eine vielfältige Auswahl an Motiven gibt, die Fritz Franz Vogel zusammen mit Sammlerkollegen nicht in sein Werk aufgenommen hat und diese mit allen aufgefundenen Varianten im Buch zeigt. Es mögen mehr als 4000 Abbildungen sein, mal kleiner, mal grösser, die uns einen Eindruck von der Vielfalt und der Menge der damaligen Bromsilber-Postkarten vermitteln.

Für wen ist dieses Buch? Als Ergebnis einer umfassenden Forschungsarbeit dürfte es vor allem für Leserinnen und Leser interessant sein, die sich als Liebhaber/innen und Sammler/innen mit diesem Thema und jener Epoche geschichtlich befassen, oder die in dieses Gebiet einsteigen wollen. Mit den rund 4000 Abbildungen und den hervorragend recherchierten Text ist dies die beste Grundlage dazu.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Herausgebers

Bereits vor 100 Jahren wurden SMS und MMS übermittelt. Das Geschäft florierte. Milliarden von Postkarten wurden verschickt: auf der Vorderseite ein vorgefertigtes Bild, auf der Rückseite ein handschriftlicher Text. Es war die Zeit vor der Telefonie.

Die Bromsilberpostkarten wurden vor allem zu den Anlässen des Jahres- und des Lebenslaufs hergestellt. Zu Neujahr, Ostern, Geburtstag, Konfirmation, Erste Liebe… wurden in Fotostudios Bilder inszeniert und über spezialisierte Verlage vertrieben. In der Blütezeit der Postkarte gab es über 300 Verlage, von denen heute die wenigsten noch bekannt sind.

Die fotografischen Postkarten weisen, vor allem wenn sie noch handkoloriert wurden, eine hohe Dichte an Süße auf, was ihnen den Beinamen Kitschpostkarten eintrug. Sie beschönigten die Welt und entzückten die Menschen kurzzeitig und fast täglich. Diese inszenierten, montierten und retuschierten Ansichtskarten gehören zu den Vorläufern des Dadaismus und des Surrealismus, obwohl sie erst seit ein paar Jahren auch in der Kunstwelt wahrgenommen werden.

Heute sind solche Karten wieder en vogue; mit ihrem nostalgischen Hauch werden sie für den Textildruck verwendet, sie tauchen als Reprints auf oder werden für Tapetenmuster rezykliert. Der Charme von Harmonie und verschwundener Heimat macht sie heute zum beliebten Sammlerobjekt.

 

Der Inhalt

Briefpost / Schreiben und Lesen / Sein Bild / Telefonie / Buchstaben

Titel, Danksagung, Hinweise

Textteil 1: «Herzliche Grüsse – Der Kitschfaktor» (Einleitung)
Geschichte / Motive / Ästhetik / Kommunikation / Historischer Kontext / Markt und Konfektionierung / Herstellungsprozess / Produktion und Verkäufe / Beschriftung / Kitschfaktor / Piktorialismus / Rensümée / Ausgewählte Motive

Geburt / Vornamen / Kleinkinder / Mutter und Kind / Schutzengel / Trotzkopf & Co. / Wäsche / Teddybär / Puppenspiel / Kinderspiel / Märchen und Geschichten / Genre-Szenen /

Kinderspiel / Bubi und Frechdachs / Genre-Szenen / Im blauen Dunst / Zum Schulgang / Zum Geburtstag / Zum Namenstag / Mensch und Tier / Nymphen / Arkadische Szenen /

Lebender Marmor / Loreley / Frau und Pferd / Mignon / Le dernier cri / Musizieren / Tanzen / Meere und Alpen / Amors Liebesschmiede / Kinderliebe / Allegorien / Liebesorakel /

Liebes-ABC / Küssen / Liebe hier und jetzt / Matrosenliebe / Im Mondscheinzauber / Allegorien / Eheglück / Arbeiten / Glaube Liebe Hoffnung / Gebet / Es zogen drei Burschen /

Am Grabe / An der Weser / Am Rhein / Kindermilitaria / Militaria

Textteil 2: «Gutes Neues Jahr» / Spezifische Motive zum Neujahr / «Frohe Ostern» / Spezifische Motive zu Ostern / Weitere Motive / Personnagen / Soziale Beziehungen / Liebesmotive / Erotik / Lebender Marmor / Tod / Engel / Glaube, Liebe, Hoffnung / Mignon / Loreley / Nationale Ausprägungen / Ausblick

Jahreszahl / Prosit Neujahr / Frohe Ostern / Schöne Pfingsten / Fröhliche Weihnachten

Sachrelevante Literatur / Autor und Herausgeber / Verlagshinweis

 

Autor und Hausgeber

Fritz Franz Vogel, geboren 1957 in Luzern, Schulen in Emmenbrücke und lmmensee. Studien an den Universitäten Fribourg (heilpäd. Diplom 1980) und Zürich (lic. phil. 1996 Volkskunde, Dr. phil. 2006/Kunstgeschichte), sowie an der Zürcher Hochschule der Künste (M.A. 2011 / ausstellen und vermitteln). Er arbeitet als Kulturwissenschaftler, Kunst- und Fotohistoriker, Herausgeber und Kurator seit 1992 produktiv, kooperativ und interdisziplinär in den Medien Text, Fotografie und Buch (Gestaltung, Druckvorstufe und Herausgeberschaft). Forschungen, Lehrtätigkeit, Publikationen und Ausstellungen in den Bereichen inszenierte und dokumentarische Fotografie, populäres und freies Theater, Bildwissenschaft und Kunstgeschichte, Exponatik und Visualistik, Alphabete, Körperbilder und Erotica. Er lebt und arbeitet in Diessenhofen, Schweiz.

 

Bibliografie

Fritz Franz Vogel «Kitsch per Post»
Das gesüßte Leben auf Bromsilberkarten von 1895 bis 1920

320 Seiten mit mehr als 4000 farbigen Abbildungen, Fadenheftung, samtartiger Hardcover mit Prägedruck und Aussparung für Original-Postkarte, Format 35,5 x 25 cm, Herbst 2014
Velours-Einband in den 5 Farbversionen Cassis, Muscat, Fuchsia, Pivione (dunkles Lila) und Tomato.
Text, Scans und Gestaltung: Fritz Franz Vogel
Verlag «mit dem Pfeil im Auge»,
(heute ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ), Diessenhofen
Preis: (ursprünglich CHF 78.00) CHF 40.00 (zzgl. Versandspesen)
ISBN 978-3-412-22432-5
Zu bestellen zum reduzierten Preis direkt beim Herausgeber
per E-Mail ffv@edition-abcdefghijklmnopqrstuvwxyz.com.

 

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