Alle zwei Jahre findet die «Images» als grösstes Fotofestival der Schweiz statt. 50 Ausstellungen stehen dieses Jahr auf dem Programm, die mit faszinierenden Themen eine Brücke zwischen analoger Fotografie und künstlicher Intelligenz schlagen.
Zur diesjährigen Biennale Images in Vevey haben sich die Organisatoren, unter der künstlerischen Leitung von Stefano Stoll, etwas Besonderes und zugleich Zeitgemässes einfallen lassen. Die Künstliche Intelligenz ist nicht nur auf dem Vormarsch, sondern sie greift bereits in mehr Lebensbereiche ein als wir uns vorstellen – auch, und vielleicht bald besonders, in die kreative Fotografie. Stefano Stoll vergleicht diese Entwicklung in seiner Einleitung zur diesjährigen Biennale mit einer «seismische Verwerfung zwischen zwei tektonischen Platten», welche unser Zeitalter von einer oft idealisierten Vergangenheit in eine vielversprechende Zukunft bewegt: «Selten war die Geschichte Zeuge eines so entscheidenden Moments, denn unsere Gegenwart ist in widersprüchlichen Strömungen gefangen. Die technologischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte – wie der Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter, das Aufkommen des Internets und der Aufstieg sozialer Netzwerke, um nur einige zu nennen – spiegeln einen grundlegenden Wandel in der Gesellschaft wider. Im Zuge dieser Entwicklungen hat die künstliche Intelligenz einen erheblichen Einfluss auf unser Verhalten, unsere Gewohnheiten, unsere Ideen und unsere Beziehungen», so Stefano Stoll.
Die fünfzig Ausstellungen der Images Vevey stehen unter dem Thema «(dis)connected» und spiegeln diese aussergewöhnliche und entscheidende Zeit wider, in der wir leben, ein Rätsel, in dem unvermeidliche Nostalgie auf die Neugier, auf eine unvorhersehbare Zukunft trifft.
Fotointern hat kürzlich einen Rundgang durch das weitläufige Ausstellungsangebot unternommen und dabei einige Highlights nach sehr subjektivem Empfinden bildlich dokumentiert. Hier die erste Folge dieses Betrags, die zweite folgt in einer Woche. Stay tuned …
Andreas Gursky: «Aletschgletscher» (18)
Als Andreas Gursky vor 30 Jahren die gigantische Eismasse des Aletschgletschers fotografierte, ahnte er nicht, wie schnell sich der grösste Gletscher der Alpen zurückbilden würde. Als Naturdenkmal des nationalen Kulturerbes steht dieser heute im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit und ist ein Symbol für das Problem der Gletscherschmelze. Das Bild, welches Andreas Gursky 1994 fotografiert hatte, begrüsst fassadengross an der Waadtländer Kantonalbank gegenüber des Bahnhofs Vevey die Besuchenden der Images Vevey und steht als fotografische Ikone des Problems der globalen Erwärmung.
Henry Leutwyler: Philippe Halsman. A Photographer’s Life (29)
Henry Leutwyler hat mit seiner Arbeit und dem dazu erschienen Buch eine Hommage an einen der grössten Fotografen der Geschichte geschaffen: Philippe Halsman. 2017 durchforschte Leutwyler die Halsmans Archive und schuf eine visuelle Biografie anhand seiner persönlichen Gegenstände, woraus das Werk «Philippe Halsman. A Photographer’s Life» wurde. Die Ausstellung, die im Rahmen der Images Vevey und noch bis 19. Januar 2025 im Schweizerischen Kameramuseum gezeigt wird, umfasst Brillen, Stative, Pässe und andere persönliche Gegenstände, die Halsmans produktive Karriere illustrieren. Leutwyler würdigt damit diesen einflussreichen Fotografen und die Geschichte der Fotografie von der analogen bis zur digitalen Fotografie.
Candida Höfer: George Peabody Library Baltimore (20)
Candida Höfer fotografiert mit ihrer Grossformatkamera Innenräume von öffentlichen Gebäuden, vor allem symbolträchtige Bibliotheken auf der ganzen Welt für ihre Serie «Libraries». Das hausgrosse Bild am alten Gefängnis von Vevey zeigt die 1857 gegründete George Peabody Library in Baltimore, in der mehr als 300’000 Bücher aufbewahrt werden. Die Zentralperspektive, welche die Symmetrie und Monumentalität der Architektur unterstreicht, vermittelt den Eindruck, man würde Einblick in die Bibliothek im Innern des Gefängnisses gewinnen.
Olivier Frank Chanarin: «A Perfect Sentence» (07)
«A Perfect Sentence» verbindet als Installation die analoge Fotografie mit einem hochmodernen Robotiksystem. Während der Corona-Zeit reiste Oliver Frank Chanarin durch das Grossbritanien und erstellte eine Serie über die Gesellschaft nach dem Brexit, indem er mit Unbekannten sprach und verschiedene Gemeinschaften fotografierte. Er entwickelt die analogen Bilder in seinem Labor und behielt die Arbeitsabzüge zurück, welche den Entwicklungsprozess dokumentieren. Für seine Installation entschied er sich, die Bilder mithilfe eines automatisierten Roboterarm zu präsentieren, der in einer kontinuierlichen Bewegung gerahmte Bilder ergreift und diese nach einem undurchschaubaren Algorithmus selbsttätig aufhängt. Diese monumentale Installation vermittelt eine faszinierende Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Farah Al Qasimi: «Poltergeister» (01)
Inspiriert durch den Horrorfilm «Poltergeist» aus dem Jahr 1982 von Tobe Hooper, der ein Haus zeigt, das von bösen Geistern heimgesucht wird, überlagert Farah Al Qasimi Fotografien und Videos und parodiert so die Seltsamkeit des zeitgenössischen häuslichen Lebensraums. Die Bilder verdeutlichen die fast übernatürlichen Energien, die in unser Zuhause eindringen: Intelligente Geräte, Werbealgorithmen und vernetzte Systeme kontaminieren den privaten Raum und übernehmen die Kontrolle über unser tägliches Leben.
Sarah Carp: «Sans Visage» (05)
Während des Lockdowns im Jahr 2020 fotografierte Sarah Carp täglich ihre beiden Töchter, in der Absicht damit ein Buch zu realisieren. Der Vater stellt sich gegen dieses Vorhaben und berief sich dabei auf das Recht der Kinder auf das eigene Bild. Sarah wiederholt die Serie mit gleichaltrigen, fremden Kindern und anonymisierte die Gesichter durch Überlagerung eines groben Druckrasters. Durch ein Spiel mit Abstand und Blickrichtung erscheinen die farbigen Punkte nach und nach und lassen die Individuen in die Anonymität abgleiten. Die grossformatigen Bilder sind in der Nähe eines Spielplatzes ausgestellt und werfen die Debatte um die Darstellung von Kindern im Zeitalter der sozialen Netzwerke auf.
Edson Chagas: «Tipo Passe» (06)
«Tipo Passe» heisst im Portugiesischen so viel wie Ausweisfotos. Edson Chagas hat sich auf Porträts spezialisiert, deren Gesichter sich hinter afrikanischen Masken verbergen. Durch die Kombination von traditionellen Masken und westlicher Kleidung verwischt Tipo Passe die Grenzen zwischen den historischen rituellen Funktionen der Masken und der alltäglichen Banalität des «Krawattenkleides». Die von Widersprüchen geprägten Bilder versinnbildlichen einen Kampf zwischen Vergangenheit und Gegenwart, indem sie Verbindungen zwischen Epochen, Traditionen, Völkern und Kontinenten herstellt. Die Individualität wird ausgelöscht, während neue Individuen in Erscheinung treten.
Debsuddah: «Crossroads» (10)
Debsuddha verbrachte in seinen Kindsjahren oft seine Zeit in einer Vorstadt von Kalkutta bei zwei Tanten, die als Albinos geboren wurden. Wegen ihres Pigmentfehlers wurden sie schon in jungen Jahren diskriminiert und vermieden es deshalb die Öffentlichkeit. Die beiden Schwestern bauten sich ihre eigene, isolierte Welt auf, verbrachten den Tag in ihrem Haus mit ihrer Leidenschaft der Musik, bevor sie sich bei Einbruch der Dunkelheit ins Freie begaben. Debsuddha hat im Jahr 2020 sowohl spontane Schnappschüsse als auch inszenierte Porträts von seinen Tanten realisiert, die in zarten, melancholischen Bildern die enge Bindung zwischen den beiden Schwestern offenbaren. Crossroads wurde mit dem Images Vevey Book Award 2023/24 ausgezeichnet. Die Bilder sind ein starkes Beispiel für die Themen Liebe und Widerstandsfähigkeit und ein intimes Porträt der sozialen Ausgrenzung.
Maisie Cousins: «Walking Back to Happiness» (09)
Maisie Cousins verbrachte als Kind viele Stunden mit ihrem Grossvater in ihren Lieblingsfreizeitpark Blobbyland, der auf der fiktiven Welt von Mr. Blobby, der berühmten Figur aus einer erfolgreichen britischen Familienfernsehserie, basierte. Nachdem Cousins die Videoaufnahmen ihrer Erlebnisse mit ihrem Grossvater verloren hatte, reaktivierte sie ihre Erinnerungen mit künstlicher Intelligenz. Mit Hilfe einer Software, die Hunderte Bilder generiert, erzählt sie von ihren Besuchen im Park mit surrealen Visionen grotesker Figuren auf einem Jahrmarkt am Meer. «Walking Back To Happiness» hinterfragt die Art und Weise, wie künstliche Intelligenz Erinnerungen interpretiert. Die Installation an der Biennale Images Vevey weckt eine gewisse Sehnsucht nach der Vergangenheit im Zusammenhang mit neuen Formen der Erinnerungsbildung.
Carlos Garaicoa: «Partitura» (14)
Zehn Jahre lang hat Carlos Garaicoa für sein vielschichtiges Werk «Partitura» investiert. Der kubanische Künstler filmte Strassenmusiker in Madrid und Bilbao, um ein Klangporträt verschiedener Städte zu erstellen. Diese Aufnahmen vertraute er dem Komponisten Esteban Puebla an, der sie zu einer Sinfonie verschmolz. Mit dieser gemeinsamen Arbeit schuf Garaicoa ein eigenes Orchester, das er auf rund vierzig Notenständern visualisierte. Über Kopfhörer kann jedes Stück einzeln gehört werden, während die Gesamtkomposition im Théâtre Oriental-Vevey erklingt. Partitura ist ein immersives Werk, das Menschen, die sonst isoliert wären, musikalisch miteinander verbindet.
Benjamin Freedman: «Positive Illusions» (12)
Benjamin Freedman der Abschlussklasse der ECAL (Ecole cantonale d’art de Lausanne) rekonstruiert seine Kindheitserinnerungen mithilfe von CGI (Computer Generated Imagery). Er nutzte diese Technologie, um einen Familienausflug zwischen Montreal und Maine in den Vereinigten Staaten im Jahr 1999 aufzuarbeiten, wobei sein Blickwinkel das Alter von neun Jahren wiedergibt. «Positive Illusions» taucht nostalgisch in die fröhliche Welt der Kindheit ein, die durch die Erinnerung fragmentiert und durch die Technologie wieder zusammengesetzt wird.
Martin Parr: «Fashion Faux Parr» (38)
Ein Highlight zum Schluss dieser ersten Folge: Martin Parr. Er ist berühmt für seine skurrilen, poppigen Aufnahmen, welche die britische Gesellschaft dokumentieren. Weniger bekannt sind seine Modeaufnahmen, die während 30 Jahren als Strassenfotografie in Werbekampagnen und an Modenschauen entstanden sind. Ohne zwischen Auftragsarbeiten und persönlichen Projekten zu unterscheiden, nimmt der Fotograf alltägliche Orte als Kulisse und stellt Passanten und Models auf die gleiche Ebene. Mit leuchtenden, gesättigten Farben und kühnen Perspektiven offenbaren die 250 Bilder seinen schelmischen, ungefilterten Blick auf die Mode. Fashion Faux Parr zelebriert die Vitalität der westlichen Mode und hinterfragt gleichzeitig die Bedeutung des Scheins in unserer Gesellschaft.
Die zweite Folge dieses Reports
erscheint am Freitag, 20. September auf Fotointern.ch.
Bleiben Sie dran …
Situationsbilder © Urs Tillmanns / Fotointern.ch
Die Biennale Images Vevey ist noch bis 29. September 2024 zu sehen.
Alle Informationen dazu finden Sie unter www.images.ch.
Eine Übersicht sämtlicher Ausstellungen mit Links zu den Detailinformationen finden Sie in dieser Aufstellung
Die Ausstellungen der Images Vevey 2024 – auf einen Blick | |||
Nr | Künstler/in | Titel | Ort |
01 | Farah Al Qasimi | Poltergeist | Les Mouettes |
02 | Lisa Barnard | Yolo | Musée Jenisch |
03 | Beni Bischof | Made on Earth by Humans | La Serrurerie |
04 | Madison Bycroft | Waterlogue, Four to the Floor Joystick | La Becque |
05 | Sarah Carp | Sans Visage | Parc du Panorama |
06 | Edson Chagas | Tipo Passe | Quai Roussy |
07 | Oliver Frank Chanarin | A Perfect Sentence | Église Sainte-Claire |
08 | Alexey Chernikov | One Last Journey | La Serrurerie |
09 | Maisie Cousins | Walking Back To Happiness | Bar d’Images |
10 | Debsuddha | Crossroads* | Musée Jenisch |
11 | Tony Dočekal | The Color of Money and Trees | La Serrurerie |
12 | Benjamin Freedman | Positive Illusions | Verger du Château |
13 | Anna Galí | Time on Quaaludes and Red Wine * | Musée Jenisch |
14 | Carlos Garaicoa | Partitura | Théâtre Oriental |
15 | Weronika Gęsicka | Encyclopædia | Musée Jenisch |
16 | Gauri Gill | Acts of Appearance | Quai Perdonnet |
17 | Paul Graham | Sightless | Façade Salle del Castillo & Jardin du Rivage |
18 | Andreas Gursky | Aletsch Glacier | Façade BCV |
19 | Sabine Hess & Nicolas Polli | One Bed, Two Blankets, Seventy-Six Rules | La Becque |
20 | Candida Höfer | George Peabody Library Baltimore / 2010 | Façade de l’ancienne prison de Vevey I La Bottolière |
21 | Tamara Janes & Natalia Funariu | Funny Snow Face | L’Appartement |
22 | Vincent Jendly | Belle Époque | Façade & Jardin de Nestlé Bergère |
23 | Kaya & Blank | Second Nature | Jardin du Rivage |
24 | Kaya & Blank | Crude Aesthetics | Confrérie des Vignerons / Musée historique de Vevey |
25 | Amandine Kuhlmann | Cash Me Online | L’Appartement |
26 | Sasha Kurmaz | Red Horse | Musée Jenisch |
27 | Jack Latham | Beggar’s Honey | L’Appartement |
28 | Jung Lee | Love | Façade Energiapro |
29 | Henry Leutwyler | Philippe Halsman. A Photographer’s Life | Musée suisse de l’appareil photographique |
30 | Phyllis Ma | Mushrooms & Friends | Théâtre de Verdure |
31 | Vuyo Mabheka | Popihuise | Musée Jenisch |
32 | Romain Mader | Get the Look! | Passage Paul-Cérésole & Quai Ernest-Ansermet |
33 | Christian Marclay | Doors | Cinéma Astor |
34 | Maria Mavropoulou | Imagined Images | Place de la Gare |
35 | Aleksandra Mir | Plane Landing | Salle del Castillo |
36 | Daido Moriyama | Pretty Woman | Façade Hôtel des Trois Couronnes |
37 | Chino Otsuka | Imagine Finding Me | Jardin de Nestlé Bergère |
38 | Martin Parr | Fashion Faux Parr | Galeries du Rivage & Jardin du Rivage |
39 | Nicolas Polli | Sorry if I Stole your Place | Bus VMCV |
40 | Zosia Promińska | Future Perfect | L’Appartement |
41 | Marianna Rothen | Like a Dream | Dépendance de l’Hôtel des Trois Couronnes |
42 | Jenny Rova | Calling Philippe/Prove your love | Dépendance du Château de l’Aile |
43 | Alessandra Sanguinetti | The Adventures of Guille and Belinda | Dépendance du Château de l’Aile |
44 | Tara L. C. Sood | The Great Mandrake Magic | Convention Confrérie des Vignerons / Musée historique de Vevey |
45 | Katja Stuke | Supernatural | La Grenette |
46 | Guanyu Xu | Resident Aliens | Place Scanavin |
Parallelausstellungen | |||
47 | Sébastien Agnetti | Stop and kiss again | Passage des 8 |
48 | Peter Hauser | Sympoiesis | Espace Indiana |
49 | Nora Rupp | Un corps à soi | Café Littéraire |
50 | Marion Zivera | Prompt is my full body | Esplanade de la Paix |
* Grand Prix / Sämtliche Angaben ohne Gewähr / Änderungen vorbehalten |
Zur Orientierung in der Stadt Vevey und zum Auffinden der einzelnen Ausstellung dient der nachfolgende Plan:
(hier herunterladen als pdf)
Weitere Informationen über die Images 2024 in Vevey finden Sie unter www.images.ch