Laurence Rasti zeigt in ihrer fotografischen Untersuchung eine Welt, die den meisten von uns verborgen bleibt: Sie hat acht Gefängnisinsassen einfache Kameras zur Verfügung gestellt, um ihren Horizont aus Beton zu fotografieren. Entstanden ist ein eindrückliches Buchwerk.
Wie sieht es in einem Schweizer Gefängnis aus? Wie lebt man dort als Insasse und wie sieht der Alltag aus? Die Fotografin Laurence Rasti hat im Rahmen ihrer fotografischen Untersuchung, der Enquête photographique der Stadtbibliothek Neuchâtel, das Leben in einem Schweizer Gefängnis zu ihrem fotografischen Thema gemacht. Dabei zeigt sie nicht nur mit aussergewöhnlichen Aufnahmen die Anlagen, sondern, und das ist das Bedeutende an diesem Projekt, mit Fotos, welche die acht Insassen A., G., L., M., N., N., T. und Z. mit einfachen Lochkameras von ihrer düsteren Umgebung realisiert haben.
Es ist wahrscheinlich das erste Mal, dass dadurch Bilder aus einem Gefängnis und fotografiert von Inhaftierten in einem Buch gezeigt werden und so an die Öffentlichkeit gelangen. Hinzu kommen zwei wesentliche andere Elemente, welche das Thema des Buches abrunden: Da sind einmal die Texte, welche die Bilder begleiten, einerseits das Essay von Luca Gnaedinger, Doktorand an der Universität Neuchâtel, welches sich mit der Problematik der Gefängnisinhaftierung und des Strafvollzugs kritisch auseinandersetzt, dann aber auch das transkribierte Gespräch der Fotografin mit der Kunstkuratorin Federica Martini über diese sensible, konzeptionell strenge und kraftvolle künstlerische Arbeit. Dabei erzählt Rasti vom weiten administrativen Weg und den Vorschriften, die sie zu respektieren hatte, um im Gefängnis fotografieren zu können und mit den Inhaftierten in Kontakt zu kommen. Das zweite beeindruckende Element sind verschiedene reproduzierte Dokumente von Briefen und Aufzeichnungen der Insassen, welche ihre täglichen Probleme und Sorgen authentisch zum Ausdruck bringen.
Dazwischen entdecken wir 34 fotografische Impressionen, auf mattem Papier deutlich vom übrigen Buchinhalt abgehoben, welche das Umfeld der Inhaftierten und den harten Beton als ihren Horizont zeigen, Bilder, welche den Betrachtenden auch Freiraum zur persönlichen Interpretation lassen und nicht nur Fragen beantworten, sondern, mehr noch, auch solche stellen. Einige der Bilder beschränken sich auf die Gefängnismauern und Zellen, in denen die verurteilten Menschen ihren Alltag fristen, andere zeigen einfache Gegenstände, wie Brille, Löffel oder Kugelschreiber, die für die Insassen zu lebenswichtigen Objekten geworden sind. So ist ein fotografisches Experiment entstanden, das neben dem gestellten Thema auch eine hohe Kreativität der Fotografierenden beweist mit Bildern, die nicht nur einen dokumentarischen, sondern auch einen sehr hohen künstlerischen Wert darstellen.
Laurence Rasti hat mit dieser fotografischen Untersuchung ein Dokument von seltenem Wert geschaffen, das uns die Welt der Abgeschobenen und Weggewiesenen in eindrucksvollen Impressionen zeigt. Zusammen mit den beiden textlichen Essays wirft das Buch auch grundsätzliche und kritische Fragen zum Strafvollzug auf mit vielen Informationen aus erster Hand und authentischen Dokumenten von Inhaftierten.
Für wen ist dieses Buch? Die bisher ungesehenen und eindrucksvollen Bilddokumente, die von Insassen eines Schweizer Gefängnisses realisiert wurden und ihre kleine Welt sowie ihre Gefühlslage zu Ausdruck bringen, soll uns eine Welt hinter Betonmauern vor Augen führen, die für die meisten von uns unvorstellbar ist. Dann ist das Buch auch für Leserinnen und Leser von Interesse, die sich mit Fragen des Strafvollzugs befassen, weil die Texte zusammen mit den Bildstrecken wichtige Aussagen dazu widerspiegeln. Etwas schade, dass diese nur auf Französisch und Englisch publiziert sind und nicht auch auf Deutsch. Eine einfache Textbroschüre hätte dieses Problem gelöst.
Urs Tillmanns
Buchbeschreibung des Verlages
Laurence Rasti hat im Rahmen der vierten Fotografischen Ermittlung Neuenburg 2023–2024 in Zusammenarbeit mit den Insassen A., D., G., L., M., N., T. und Z. eine eindrückliche Bestandsaufnahme der Situation in einer Strafanstalt geschaffen. Die Arbeiten zeigen in sechs thematischen Schwerpunkten den Alltag innerhalb des Gefängnisses am konkreten Beispiel der Haftanstalt La Promenade in La Chaux-de-Fonds. Faksimile-Reproduktionen ausgewählter Formulare lassen die Verwaltungsroutine ahnen, und die von den Insassen selbst aufgenommen Bilder zeigen die Räume, die sie bewohnen, sowie ihre wenigen Gebrauchsgegenstände.
Der Ansatz verbindet ein hyperrealistisches dokumentarisches Ziel mit einer kritischen Fragestellung, deren Begrifflichkeiten in einem Essay des Geografen Luca Gnaedinger und einem Interview der Fotografin mit der Kunstkuratorin Federica Martini diskutiert werden.
Der Inhalt
Vorwort Marc A. Bloch
Pour qui sont fait les prisons / Who are prisons for Luca Gnaedinger
(Bildstrecke mit 34 Fotos, die von Inhaftierten mit einfachen Lochkameras aufgenommen wurden)
Prise de parole / Speaking out Laurence Rasti & Federica Martini
Anhang / Transcriptionen / Bibliografie / Danksagungen
Die Autorin
Laurence Rasti wurde 1990 als Tochter iranischer Eltern in der Schweiz geboren. Sie erwarb 2014 einen Bachelor-Abschluss in Fotografie an der ECAL – Hochschule für Kunst und Design Lausanne und 2019 einen Master-Abschluss in Kunst an der HEAD – Hochschule für Kunst und Design Genf. Ihre Arbeiten wurden in mehreren Gruppen- und Einzelausstellungen weltweit gezeigt, so auch im Musée de l’Elysée in Lausanne, im Museum of Contemporary in Chicago, auf dem Athens Photo Festival und dem Tokyo International Photography Festival. Sie war Preisträgerin des Fotowettbewerbs der Stadt Genf 2019 und des Fotowettbewerbs des Kantons Neuenburg 2022. Ihr Buch «There Are No Homosexuals in Iran» (Edition Patrick Frey 2017) wurde vom New York Times Magazine als eines der zehn besten Fotobücher des Jahres 2017 ausgezeichnet. Seit 2020 ist sie Dozentin und Leiterin des Fachbereichs Fotografie im Studiengang Bachelor of Visual Arts an der École de design et haute école d’art du Valais (EDHEA) und lebt in Genf.
Luca Gnaedinger ist Doktorand am Geographischen Institut der Universität Neuenburg, das auch dem National Center of Competence in Research for Migration and Mobility Studies (NCCR – on the move) angegliedert ist. Er studierte Zeitgeschichte und Politikwissenschaften an der Universität Genf, bevor er dort einen Master in politischer und kultureller Geographie absolvierte. Seine Doktorarbeit befasst sich mit dem Gefängnis und der Kontrolle der Einwanderung in der Schweiz.
Bibliografie
Laurence Rasti «Wall as Horizon»
144 Seiten mit 121 farbigen und 33 s/w-Abbildungen, Fadenheftung, Schweizerbroschur, Hardcover, Format 23.5 x 32 cm, Oktober 2024
Autorenschaft: Laurence Rasti, A., G., L., M., N., N., T., Z.
Texte: Laurence Rasti, Marc A. Bloch, Luca Gnaedinger, Federica Martini
Mehrsprachige Ausgabe (Englisch, Französisch)
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich
ISBN 978-3-85881-894-2
Preis: CHF 49.00 / EUR 49,00
Das Buch kann im Buchhandel erworben oder direkt beim Verlag bestellt werden.