Urs Tillmanns, 19. April 2025, 10:00 Uhr

Buchtipp: Dom Smaz «Helvécia – Eine Schweizer Kolonialgeschichte in Brasilien»

Dom Smaz und Milena Machado Neves haben 2015 ein brasilianisches Dorf namens «Helvécia» entdeckt und gingen der Namensverwandtschaft mit der Schweiz nach. Er Fotograf, sie Journalistin, haben eine spannende Story aus der Kolonialzeit recherchiert und in diesem Buch dokumentiert.

Die Geschichte ist faszinierend. Dass der Fotograf Dom Smaz von jeher ein Flair für Brasilien hatte, dürfte er seiner Mutter zu verdanken haben, die Brasilianerin ist. Sie kam in die Schweiz und lernte seinen Vater kennen. Dom wuchs in Lausanne auf und reiste regelmässig in das mütterliche Heimatland, begeisterte sich für die Fotografie und machte das südamerikanische Land zu einem seiner fotografischen Lieblingsthemen. 2014 lernte er Milena kennen. Sie bereisten zusammen das riesige Land und stiessen plötzlich auf eine Ortschaft namens «Helvécia». Es soll eine Quilombo gewesen sein, eine Siedlung geflüchteter oder befreiter Sklaven, die dort Arbeit fanden. Die Namensgleichheit mit seinem europäischen Heimatland konnte kein Zufall sein und musste unzweifelhaft aus der Kolonialzeit stammen, von Schweizern, die nach Brasilien ausgewandert waren und sich hier dem Kaffeeanbau gewidmet hatten. Die Geschichte motivierte die beiden, Dom, um seine Heimwehortschaft und die rund 2500 Einwohner fotografisch zu dokumentieren und Milena, um die Einheimischen zu interviewen. Und so ist dieses Buch entstanden.

Die Bilder bringen uns eine Kultur näher, die urtypisch sind für einen Ort, den man wohl kaum auf Anhieb auf einer Landkarte findet und der in keinem Touristenführer beschrieben ist – zum Glück, wohl. Über anderthalb Jahrhunderte ist hier eine Unberührtheit erhalten geblieben, und nur allmählich drangen neuzeitliche Erscheinungen in diesen Mikrokosmos ein. Dom versetzt uns zurück in diese Zeit, dokumentiert, was wahrscheinlich dereinst nicht mehr so sein wird, und Milena erzählt uns die Geschichten dazu; dass es unter anderem einem Berner namens Abraham Langhans zu verdanken sei, dass hier erfolgreich Kaffee angepflanzt worden war – allerdings mit Sklavenhilfe und unter misslichen Umständen, wie es Milena recherchiert und spannend niedergeschrieben hat.

Die Texte im Buch, insbesondere auch die wörtlichen Interviews mit den Einheimischen, verleihen den Bildern von Dom Smaz plötzlich ein neues Verständnis. Die Bilder zeigen nicht mehr irgendwen, sondern sie zeigen Iracema Sul Metzker, Dona Cocota oder Elvis Elisiario de Jesus. Man beginnt sich mit den Personen zu befassen, sich mit ihnen zu identifizieren – und man begeistert sich für «Helvécia», für jenen Ort, der nicht nur dem Namen nach eine Brücke in die Schweiz schlägt, sondern in dem die helvetische Verwandtschaft auch physisch noch zu sehen und zu spüren ist.

Mit seinen Bildern dokumentiert Dom Smaz sowohl das soziale Leben in diesem brasilianischen Dorf als auch die Spuren zur helvetischen Vergangenheit, die auch heute noch unübersehbar sind. Dom kommt dabei zu Gute, dass Milena perfekt Portugiesisch, beziehungsweise die brasilianischen Dialekte, versteht und auch spricht, was den beiden ermöglicht in die familiären Sphären der Einheimischen eingeladen zu werden, um deren Alltag zu erleben. Die Bilder sind deshalb an Authentizität und Originalität nicht zu übertreffen.

Spannend sind auch die textlichen Beschreibungen, welche die Bilder begleiten und uns einen interessanten Einblick in den Alltag, in die Geschichte, über die Nachkommen und Traditionen in Helvécia vermitteln. Ergänzt werden diese Schilderungen durch Belege der Spurensuche mit reproduzierten Originalschriftstücken, aus denen, mindestens ansatzweise, der erfolgreiche Kaffeehandel «einer Schweizer Kolonie» nachvollziehbar wird. Wir erfahren und sehen in diesem Buch viel über das einfache Leben in einem kleinen Dorf im brasilianischen Staat Bahia und den Nachfahren einer vergessenen Kolonialzeit mit Schweizer Wurzeln.

Für wen ist dieses Buch? Es ist erstens ein hervorragender Bildband, der uns reportagemässig durch einen Ort führt, dessen Vergangenheit ohne diese Arbeit wohl bald gänzlich in Vergessenheit geraten würde. Die Fotografien von Dom Smaz haben nicht nur dokumentarischen Wert, sondern aus ihnen sprechen auch Stimmungen und Emotionen, die Dom hier empfunden hat. Weiter vermittelt uns das Buch viel Wissenswertes über den Einfluss von Schweizern auf die Kolonialentwicklung, über eine erfolgreiche Kaffeeplantage unter Schweizer Leitung und über das heutige Leben der afrobrasilianischen Bevölkerung in einem brasilianischen Dorf, das gleich heisst wie unser Land.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Verlages

Helvécia, eine schwarze Dorfgemeinschaft im Süden des brasilianischen Bundesstaates Bahia, verdankt ihren Namen der Plantage, aus der sie hervorgegangen ist. Sie wurde 1818 von schweizerischen und deutschen Siedlern gegründet, die durch den Kaffeeanbau auf ihren riesigen Ländereien zu grossem Reichtum gelangten. Dies wäre ohne Ausbeutung nicht möglich gewesen: Mitte des 19. Jahrhunderts kamen auf 200 weisse Siedler 2’000 Sklaven afrikanischer Herkunft. Mit viel Feingefühl und im Dialog mit den Bewohnern hat der schweizerisch-brasilianische Fotograf Dom Smaz in Helvécia nach Spuren der Vergangenheit gesucht. Seine fesselnden Bilder fangen das pulsierende Dorf und das Leben seiner Bewohner ein, während Essays die historischen Umstände erklären. Das entstandene Fotobuch regt zu einer postkolonialen Auseinandersetzung mit den globalen Verflechtungen und Machtstrukturen an, die bis in die Gegenwart reichen und letztlich eine Quelle des europäischen Wohlstands sind.

 

Der Inhalt

Vorwort

Alltag (von Christian Doninelli)

Geschichte (von Christian Doninelli)

Nachkommen (von Christian Doninelli)

Traditionen (von Christian Doninelli)

Interviews (aufgezeichnet von Milena Machado Neves):
Dona Cocota / Domingos Krull de Souza / Iracema Sulz Metzker

Fabio Teixeira de Jesus / Elvis Elisiario de Jesus / Mãe Maria

Danilon Luiz Francisco / Faustina Zacharias Carvalho

Historische Spurensuche (Milena Machado Neves und Christian Doninelli)

Chronologie von Leopoldina (Helvecia) (Milena Machado Neves und Christian Doninelli)

Mocambos, Quilombos und Schwarze Landgemeinschaften in Brasilien: Geschichten und Erinnerungen (Flavio dos Santos Comes)

Helvécia = Schweiz? Gegen die Kolonisierung der Geister, des Blicks und der Erinnerung (Izabel Barras, Rohit Jain, Shalini Randeria)

Epilog / Bildlegenden / Biografien / Bibliografien / Danksagungen / Impressum

 

Der Fotograf

Dom Smaz (*1983) ist ein schweizerisch-brasilianischer Fotograf, der in Lausanne lebt und oft in Brasilien arbeitet. Er ist fünffacher Gewinner des Swiss Press Award und schreibt regelmässig für Schweizer und internationale Medien. Seine Fotografien beschäftigen sich häufig mit den Themen deskolonialen Erbes, der sozialen Unterschiede und der Marginalisierung. Im Jahr 2018 nahm er an der Ausstellung Mobile Welten teil, die vom Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G), Hamburg, in Zusammenarbeit mit dem Johann Jacobs Museum, Zürich, veranstaltet wurde. Im Jahr 2019 wurde ein Teil seines Helvécia-Projekts auf dem Festival Internacional de Fotografia in Bogotá, Kolumbien, gezeigt. Smaz hat die Schule für Fotografie in Vevey absolviert und ist Mitglied der französischen Fotoagentur Hans Lucas.

 

Die Herausgeberin

Milena Machado Neves (*1983) ist Journalistin und freiberufliche Kuratorin, die zahlreiche Kulturprojekte in Brasilien entwickelt hat. Sie hat eng mit dem Fotografen Dom Smaz zusammengearbeitet, um ihr gemeinsames Projekt über Helvécia zu dokumentieren. Dabei konnte sie auf ihre berufliche Erfahrung und ihre umfassende Kenntnis dieser Region im Nordosten Brasiliens zurückgreifen, aus der sie stammt. Sie lebt und arbeitet in Lausanne, wo sie regelmässig für Radio Télévision Suisse (RTS) tätig ist.

 

Bibliografie

Dom Smaz «Helvécia – Eine Schweizer Kolonialgeschichte in Brasilien»

216 Seiten mit 109 Abbildungen, Fadenheftung, Hardcover, Format 21,6 × 29,2 cm, 2022,
Texte von Milena Machado Neves, Christian Doninelli, Izabel Barros, Flávio dos Santos Gomes, Rohit Jain, Shalini Randeria
Sprache: Deutsche Ausgabe (auch auf Englisch und Französisch erhältlich)
Verlag: Lars Müller Publishers, Zürich
Preis: CHF 50.00 / EUR 50.00
ISBN 978-3-03778-720-5 (Deutsch), …-701-4 (Englisch), …-702-1 (Französisch)

Das Buch kann im Buchhandel erworben oder direkt beim Verlag bestellt werden.

 

 

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