Urs Tillmanns, 25. Februar 2012, 08:20 Uhr

Musée Elysée: «Hinter dem Vorhang – die Ästhetik des Fotoautomaten»

Im Musée Elysée in Lausanne ist noch bis 20. Mai 2012 eine spannende Ausstellung mit dem Titel «Hinter dem Vorhang – Die Ästhetik des Fotoautomaten» zu sehen. Fotoautomaten faszinieren – nicht nur Teenies für Spassbilder und jedermann für Ausweisfotos, sondern auch berühmte Fotografen, von den Surrealisten über Andy Warhol bis zu Cindy Sherman, welche die Fotomaschinen kreativ nutzten.

Als die ersten Fotoautomaten um 1928 in Paris installiert wurden, nutzten die Surrealisten sie intensiv, ja gar zwanghaft um sich auszudrücken. In wenigen Minuten und für eine geringe Geldsumme bot die Maschine ihnen eine ähnliche Erfahrung im Bereich des Porträts wie jene der «écriture automatique» (des automatisierten Schreibens und Zeichnens). Seither haben sich ganze Künstlergenerationen für das Prinzip des Fotoautomaten begeistert. Von Andy Warhol, über Thomas Ruff, Cindy Sherman oder Gillian Wearing bis zu Arnulf Rainer; zahlreich sind die Künstler, die den Fotoautomaten benutzten um mit ihrer Identität zu spielen, Geschichten zu erzählen oder neue Welten zu erschaffen.

Hinter dem Vorhang – Die Ästhetik des Fotoautomaten ist eine vom Musée de l’Elysée produzierte Ausstellung, die als eine der ersten Studien über die Ästhetik des Automatenfotos gilt. Sie ist in sechs Themen unterteilt: die Kabine, die Automatik und das Prinzip des Fotostreifens, sowie drei verschiedene Anknüpfpunkte in der Auseinandersetzung mit der Identität. Als ultimativer Produzent des standardisierten und gesetzlich anerkannten Passfotos, ist der Automat in der Tat auch ein ideales Werkzeug der Selbstbetrachtung und regt zum Nachdenken über das Andersartige an, und dies individuell oder als Gruppe. Die Tatsache, dass die Ausstellung über 600 Werke in verschiedensten Medien (Fotografie, Öl auf Leinwand, Lithographie und Video) und rund sechzig internationale Künstler zusammenführt, verdeutlicht den Einfluss des Fotoautomaten in den Künstlerkreisen von seiner Erfindung bis in die Gegenwart.

Unser Einstiegsbild: Gillian Wearing, Self Portrait at 17 Years Old , framed c – type print, 115.5 x 92 cm, 2003. Collection of Contemporary Art Fundació ‘ La Caixa ‘, Barcelone © Gillian Wearing, courtesy Maureen Paley, London

 

Themenüberblick

Die Ausstellung möchte die Ästhetik des Fotoautomaten aufgrund von sechs Themenkreisen ergründen.

Die Kabine

Als enger geschlossener Raum, der durch seine in sich gekehrte Art einem modernen Beichtstuhl gleicht, lädt die Kabine des Fotoautomaten zu den intimsten Geständnissen ein. Da sie normalerweise im öffentlichen Raum platziert sind – in U-Bahn Stationen, Einkaufshäusern oder Bahnhöfen – bieten sie sich auch als ausgezeichnete Beobachtungsposten für die urbane Geschäftigkeit an. Es ist eine Zwischenwelt der Intimität und der Öffentlichkeit, dem Inneren und dem Äussern, geschlossen und offen zugleich.

Mit Werken von Lee Friedlander, Näkki Goranin, Svetlana Khachaturova, Naomi Leibowitz, Leon Levinstein, Steven Pippin, Timm Rautert, Bruno Richard, Gerhard Richter, Dimitri Soulas und Jan Wenzel.

Andy Warhol, Frances Lewis, 1966, acrylic and silkscreen on linen, 12 panels, 162.5 x 167.6 cm © Collection The Sydney and Frances Lewis Foundation / 2011, The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Artists Rights Society ( ARS ), New York

Die Automatik

Der automatisierte Ablauf des Fotoautomaten faszinierte die Surrealisten dazumal und fasziniert auch heute noch die zeitgenössischen Künstler. Die Maschine verrichtet die Arbeit.

Der Begriff des Autors verschwindet hinter der allmächtigen Technologie. Trotzdem funktioniert dieses Gerät nicht immer einwandfrei. Dabei entsteht eine Art Poesie der Automatik, die sich eben durch diese Schwächen, Fehler und Ausrutscher ergibt.

Mit Werken von Richard Avedon, Daniel Minnick, Arnulf Rainer, Franco Vaccari und Andy Warhol ; den Surrealisten: Louis Aragon, Marie – Berthe Aurenche, Jacques – André Boiffard, André Breton, Paul Eluard, Max Ernst, Suzanne Muzard, Jacques Prévert, Raymond Queneau und Yves Tanguy ; sowie der Fluxus Gruppe: Eric Andersen, Joseph Beuys, Bazon Brock, Stanley Brown, Henning Christiansen, Robert Filliou, Ludwig Gosewitz, Arhur Koepcke, Tomas Schmit, Ben Vautier, Wolf Vostell und Emmet Williams.

 

Der Fotostreifen

Weil der Fotoautomat eine fortlaufende Bildserie herstellt, schafft er somit eine räumliche und zeitliche Kontinuität. Auf dem Fotostreifen entsteht durch die Abfolge der Bilder eine fragwürdige Räumlichkeit; denn bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass das nächstliegende Bild eigentlich das zeitlich folgende ist.

Durch diese ihm eigene Bildabfolge, spielt der Fotostreifen aus dem Automaten mit dem Prinzip des Films. Ein Bild neben ein anderes zu legen, ist bereits ein Akt des Erzählens.

Mit Werken von Jean-Michel Alberola, Jared Bark, Marc Bellini, Jeff Grostern, Raynal Pellicer, Michel Salsmann, Roland Topor und Jan Wenzel.

Bild: Yves Tanguy, Selfportrait in a Photobooth, ca. 1929, gelatin silver print, 20.5 x 3.8 cm © Collection Musée de l’Elysée, Lausanne / 2011, ProLitteris, Zurich

Cindy Sherman, Untitled, 1975, gelatin silver print, 30.5 x 20.4 cm © Courtesy of the Artist, Metro Pictures, collection Musée de l’Elysée, Lausanne 

Wer bin ich ?

Der Fotoautomat ist ein Ort, wo die Identität fassbarer wird. Es ist ein Ort der Selbstinszenierung, wo die Bildung oder die Dekonstruktion einer sozialen, ethnischen, sexuellen oder gesellschaftlichen Identität ermöglicht wird. Indem man in den Spiegel der Fotokabine blickt, versucht man seine wahre Persönlichkeit preiszugeben oder im Gegenteil sich durch Grimassen und andere Verkleidungsmöglichkeiten zu verwandeln. Der Fotoautomat ist somit das ideale Hilfsmittel der Selbstbeobachtung.

Mit Werken von Alain Baczynsky, Hansjürg Buchmeier, Anita Cruz – Eberhard, Sabine Delafon, Susan Hiller, Jürgen Klauke, Annette Messager, Tomoko Sawada, Cindy Sherman, Gillian Wearing und David Wojnarowicz.

 

Wer bist du ?

Die Fotokabine ist jedoch nicht nur ein günstiger Ort der Introspektion, sie erlaubt auch eine Hinterfragung des Anderen. Vor allem das gesetzlich etablierte Identifizierungssystem, das erst durch das Foto zum eigentlichen «Personalausweis» wird, macht sich diesen Umstand zu Nutze. Wenn man sich dem kompulsiven und grenzenlosen Sammeln von Automatenfotos hingibt, kann man sich geradezu verlieren im Antlitz des Anderen.

Mit Werken von Anne Deleporte, Michael Fent, Michel Folco, Valentine Fournier, Dick Jewell, Mathieu Pernot, Thomas Ruff und Joachim Schmid.

 

Wer sind wir ?

Das Automatenfoto erlaubt also die Hinterfragung der eigenen Identität oder jener eines Anderen, aber es bietet auch die Möglichkeit sich über das Wesen des Paares oder der Gruppe Gedanken zu machen. Einige konstruieren ihr Bild in der Kabine durch die Anwesenheit einer anderen Person oder von mehreren Menschen. Indem sie zu zweit oder in der Gruppe posieren, bestätigen diese Menschen ihre Gruppenangehörigkeit. Der Fotoautomat befriedigt also auch unseren Herdentrieb und verkörpert die kollektive Identität.

Mit Werken von Jacques – Henri Lartigue, Willy Michel, Lorna Simpson und Amanda Tetrault sowie der Sammlung der Purikuras.

 

Mathieu Pernot, Jonathan, Mickael, Priscilla, cabine du photomaton [ Jonathan, Mickael, Priscilla, Photobooth ], 1996, three gelatin silver prints, 180 x 65 cm each, © Mathieu Pernot / collection Musée de l’Élysée, Lausanne

 

Veranstaltungen rund um die Ausstellung

Publikation

Begleitend zur Ausstellung Hinter dem Vorhang – Die Ästhetik des Fotoautomaten erscheint ein reich illustrierter und 350 Seiten grosser Ausstellungskatalog. Dieses Nachschlagewerk, das unter der Leitung von Clément Chéroux und Sam Stourdzé erscheint, richtet sich sowohl an die breite Öffentlichkeit als auch an die Freunde der Fotografiegeschichte. Der Katalog greift die sechs Themen der Ausstellung auf und zeichnet sich durch historisch fundierte, kritische und spielerische Texte von Ilsen About, Clément Chéroux, Martin Crawl, Anne Lacoste, Nora Mathys, Kim Timby, Brian Meacham, Giuliano Sergio und Sam Stourdzé aus.

21 x 26.5 cm, kartoniert, 350 Seiten, 250 Reproduktionen in Farbe und schwarz/weiss, Verlag Photosynthèses, Collection Beaux Livres, ISBN 978-2363980021, Preis CHF 79.00

 

Franco Vaccari, Esposizione in tempo reale num. 4 : Lascia su queste pareti una traccia fotografica del tuo passaggio, 1972, collage of photobooths mounted on cardboard, gelatin silver prints, 45.5 x 58.5 cm © Franco Vaccari, property of the Artist

 

Kunstvermittlung

Das Ziel der Ausstellung ist es das Universum des Fotoautomaten und seiner zahlreichen Einflussbereiche einer grossen Öffentlichkeit vorzustellen. Einige der vorgesehenen Aktivitäten sind :

• Konferenzen über eine Fotomontage von André Breton und René Magritte, am 11. März und über Andy Warhol et la photographie, am 25. März ;

• öffentliche Ausstellungsführungen an den folgenden Sonntagen; am 26. Februar, 18. März, 1. April, 6. und 20. Mai ;

• das Lernatelier Jeux d’image für Kinder, am 10., 11. und 12. April, sowie Image de soi, image de l‘autre, am 17., 18. und 19. April.

 

Internationale Ausstellungstournee

Hinter dem Vorhang – Die Ästhetik des Fotoautomaten ist ein in europäischer Zusammenarbeit entstandenes Projekt. Im Anschluss an Lausanne wird die Ausstellung im Botanique, Brüssel ( 28. Juni bis 26. August 2012 ) und im Kunsthaus, Wien ( 11. Oktober bis 13. Januar 2013 ) gezeigt.

 

Ankäufe

Die Vorbereitungen für die Ausstellung Hinter dem Vorhang – Die Ästhetik des Fotoautomaten waren auch Anlass zur Anreicherung der Sammlung des Musée de l’Elysée. 2011 konnte das Museum folgende Werke ankaufen: ein im Fotoautomaten realisierter Fotostreifen von Yves Tanguy, eine der ersten Arbeiten der amerikanischen Künstlerin Cindy Sherman, die Serie MS 65 – 94 von Michel Salsmann sowie drei Werke von Mathieu Pernot.

Die Sammlung wurde durch Fotografien von Jean-Michel Alberola und der ersten Publikation Found Photos von Dick Jewell, die sich anonymen Automatenfotos widmet, ergänzt.

 

Und… ein authentischer Fotoautomat für Schwarzweiss-Bilder im Musée de l’Elysée

Ein Fotoautomat der 1960er Jahre aus den USA wird während der Ausstellungsdauer im Café Elise installiert sein. Die Besucher können für den Preis von CHF 4.00 ihr Porträtfoto, ganz in alter Fotoautomaten-Tradition machen lassen. Es handelt sich um einen Silbergelatine-Abzug in Schwarz/weiss mit vier Bildern. Diese Kabine wird grosszügigerweise vom Kollektiv 312photobooth, Chicago zur Verfügung gestellt. Eine zweite Fotokabine wird sich im Théâtre de Vidy befinden. Ein Erlebnis, das sie mit ihrer Familie oder ihren Freunden teilen sollten!

 

Kuratoren

Clément Chéroux und Sam Stourdzé
In Zusammenarbeit mit Anne Lacoste

 

Weitere Informationen finden Sie hier. Die Ausstellung dauert noch bis 20. Mai 2012.

 

 

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