Urs Tillmanns, 9. April 2012, 15:00 Uhr

Lécuyer – Das schönste Buch der Fotogeschichte

Eines der gesuchtesten Bücher zur Geschichte der Fotografie ist die «Histoire de la photographie» von Raymond Lécuyer. Rar ist es deshalb, weil vor über 65 Jahren wahrscheinlich nur ein paar Hundert Exemplare in den Verkauf kamen und gesucht ist es, weil es das schönste und aufwändigste Buch zu diesem Thema ist, das je produziert wurde.

Es gehört zu den Inkunablen der Fotoliteratur, und die wenigen Exemplare, die es von diesem Buch gibt, dürften ihren festen Platz in Sammlungen, Archiven und Museen haben. Selten, dass ein Exemplar wieder an einer Auktion auftaucht und dort für einen wahrscheinlich vierstelligen Betrag den Besitzer wechselt.

Der Autor ist Raymond Lécuyer (1879-1950) Journalist, Fotograf, Kunstkritiker und Fotohistoriker, der 1928 ins Redaktionsteam der Wochenzeitschrift «L‘Illustration» eintrat. L’illustration gehörte zu den grössten und renommiertesten illustrierten Zeitschriften der Welt, die von 1843 bis 1944 mit insgesamt 5293 Ausgaben wöchentlich erschien, vergleichbar mit «London Illustrated News» oder der Leipziger «Illustrirten Zeitung» (ohne ie!). Solchen Illustrierten kam eine wichtige Rolle der Berichterstattung zu, weil sie im Gegensatz zu den Tageszeitungen zunächst zeichnerische Darstellungen und später Fotos der Aktualitäten zeigten und deshalb ein äusserst begehrte Publikumslektüre waren. L’Illustration war eine der ersten Zeitschriften in Europa und die erste in Frankreich, die bereits 1891 eine Fotografie abdruckte. Die realistische Darstellung der Fotografie stand demzufolge in der Redaktion immer im Vordergrund, und damit auch das Interesse an der Fotografie selbst.

Jedem Buch ist auf der Innenseite des Einbands in einer Pochette eine Stereobrille zur Betrachtung der Anaglyphenbilder beigefügt. Oft fehlt diese, was den Wert des Buches stark mindert.

Schon vor dem Zweiten Weltkrieg, um 1939, hat der Verlag Baschet et Cie. In Paris dem Projekt von Raymond Lécuyer zugestimmt, ein Buch über die Geschichte der Fotografie herauszubringen, doch sollte dieses, bedingt durch die Kriegsjahre, ein längerfristiges werden. Das Buch sollte in erster Linie die vielen Raritäten dokumentieren, die in privaten Sammlungen sowie in den Pariser Museen und Institutionen schlummerten, mit der Idee, ein französisches Museum der Fotografie zu gründen – was drei Jahrzehnte später von privater Seite in Bièvres realisiert wurde.

Während den Kriegsjahren von 1939 bis 1944 (Befreiung von Paris) konnte Lécuyers Buchprojekt nur schleppend verfolgt werden; mal hatte man Zeit dafür, mal hatten andere – vor allem auch politische Themen – Vorrang. L’Illustration zeigte während des Kriegs eine eher pro-nationalsozialistische Haltung, namentlich der politische Redakteur Jacques de Lesdain, der mit den Deutschen kollaborierte und vor der Befreiung von Paris nach Sigmaringen und später nach Italien flüchtete und so dem ausgesprochenen Todesurteil der Commission d’Épuration entging. Mit dem Vorwurf der Feindeskollaboration wurde die L’Illustration nach der Befreiung von der neuen Regierung unter General De Gaulle verboten. Denkbar, dass dabei Verlagserzeugnisse beschlagnahmt und vernichtet wurden, was ein Grund sein könnte, dass wahrscheinlich nur einige Hundert Exemplare des prachtvollen Buches von Raymond Lécuyer in den Verkauf kamen.

(Diese Diaschau zeigt Ihnen die wichtigsten Doppelseiten des Buches)


Das schönste Buch über die Geschichte der Fotografie

Das Buch fällt schon durch sein Format auf, das mit 29 cm Breite und 38,5 cm Höhe etwa der Wochenzeitschrift aus dem gleichen Verlag entspricht damit möglichst viele Druckvorlagen aus der Zeitschrift wiederverwendet werden konnten. Es umfasst 456 Seiten, von denen einige auf spezielles Papier gedruckt sind und einzeln eingeklebt wurden. Das Papier ist verhältnismässig dünn und – wahrscheinlich bedingt durch die Beschaffung während den Kriegsjahren – von sehr schlechter Qualität, so dass beim Umgang mit dem Buch grösste Vorsicht geboten ist.

In der fotohistorischen Recherche hat sich Lécuyer weitgehend auf seine französischen Quellen beschränkt, so dass das Schwergewicht des Buches auf den Errungenschaften und Verdiensten französischer Erfinder und Wissenschaftlern liegt. Dennoch hat Raymond Lécuyer äusserst präzise und sorgfältig recherchiert und gibt viele Details genauer und ausführlicher wieder als dies in anderen Büchern zum Thema der Fall ist. Logischerweise sind einige Textpassagen und technische Erklärungen durch neue Erkenntnisse der Geschichtsforschung überholt, doch ist gerade die Beschreibung einiger aus heutiger Sicht weniger bedeutender Verfahren ein besonderer Pluspunkt dieses Buches.

Was es sonst noch sehr wertvoll macht, sind die vielen drucktechnischen und gestalterischen Besonderheiten, die mit sehr aufwändigen technischen Mitteln realisiert wurden. Die wichtigsten sollen hier kurz beschrieben werden:

Porträt von Nicéphore Niépce von C. Laguiche, ganzseitige Darstellung, hier erstmals in Fac-Simile (Kupfertiefdruck) wiedergegeben. (Seite 15).

• Doppelseite mit kolorierten Daguerreotypien im Vierfarbendruck mit Golddruck (Seiten 42/43)

• Ganzseitige Darstellung einer kolorierten Daguerreotypie mit dickem, schwarzem Rahmen – so wie sie damals präsentiert wurden, um die kleinen Fotografien grösser erscheinen zu lassen (Seite 41)

Kalotypie auf drei ganzen Seiten dargestellt. Die erste Seite zeigt das Papiernegativ und den Rahmen, im Stil von Louis-Philippe. Die zweite Seite zeigt das Negativ auf Kalkpapier gedruckt, während auf der dritten Seite das Positiv des Bildes präsentiert wird. (Seiten 44 bis 46).

• Maxime du Camp «Koloss von Spéos de Phré in Ibsamboul», Kupfertiefdruck nach einem Abzug von Blanquart-Evrard (Seite 61).

• Doppelseite mit eingeklebten Drucken von Porträts von David Octavius Hill und Robert Adamson, welche die verschiedenen Tonungen der Kalotypien zeigen (Doppelseite 62/63).

• Viererbogen mit typischen Bildern aus der Zeit des nassen Kollodium-Verfahrens: Vier Porträts von König Louis Philippe, Königin Amélie, Graf von Chambord und Don Carlos (Seite 85), Doppelseite mit Kollodiumbildern gesellschaftlicher Anlässe in Paris (Seiten 86/87) und Londoner Persönlichkeiten (Alfred Tennyson, John Herschel, Robert Darwin und Joseph Joachim) fotografiert von Julia Margaret Cameron, alle im Kupfertiefdruck-Verfahren gedruckt.

• Viererbogen mit insgesamt 20 aufgeklebten Drucken des Kaisers Napoléon III, der Kaiserfamilie und wichtigen Persönlichkeiten des Second Empire (Seiten 103 bis 107).

• Vierbogen im Kupfertiefdruck mit von Adolphe Braun Kollodiumbildern von Alpinisten auf dem Eismeer von Chamonix, einer Parade in Potsdam, einer Begegnung im Garten und ein Jagdstillleben (Seiten 115 bis 118)-

• Ganzseitiger, vierfarbiger Druck von Fotos in Email, wie sie früher vor allem auf Grabmälern eingesetzt wurden (Seiten 127 und 128).

• Vierbogen im Kupfertiefdruck zur Epoche der ersten Gelatine-Trockenplatten mit einer Seite von Porträts von Sarah Bernhardt (eines davon von Nadar), Doppelseite mit Personenporträts französischer und österreichischer Persönlichkeiten, sowie vier weitere Porträts aus der Zeit der «Belle Epoque» (Seiten 137 bis 140).

• Vierbogen im Kupfertiefdruck mit Edeldruck-Verfahren, darunter ein Kohledruck von Léonard Misonne, eine Doppelseite mit zwei Bromöldrucken von C. Puyo und Demachy und einer Hafenlandschaft von Demachy (Seiten 157 bis 160).

• Vierbogen im Kupfertiefdruck mit einem farbigen Bromöldruck von Raymond Lécuyer, auf der Doppelseite eine Winterlandschaft Amiens von Lamarre und ein zweifarbiger Gummidruck von Demachy (Seiten169-172).

• Eingeklebter, laminierter Druck eines Stilllebens von Emmanuel Sougez, der Leiter des Fotodienstes von L’Illustration war. (Seite 189).

• Vierbogen im Kupfertiefdruck mit einer stromlinienförmigen Lokomotive von Lacheroy, der Kathedrale von Reims von Albert Boitier, eine Landschaft von Erno Vadas und einem Bild von Skispitzen im Schnee von Bollaert (Seiten 203 bis 206).

• Vierbogen im Kupfertiefdruck mit Gänsen von Erno Vadas, zwei Porträtstudien von Ortiz-Echagüe und Albin-Guillot, sowie der Doppelakt «Danseuses» ebenfalls von Albin-Guillot (Seiten 215 bis 219).

• Kupfertiefdruckblatt mit Porträt des Farbpioniers Louis Ducos du Hauron, aufgenommen von Paul Nadar (Seite 227).

• Doppelseite mit eingeklebten Drucken, um die Qualitätsunterschiede der vier Verfahren (Phototypie, Rasterdruck, Kupfertiefdruck und Offset) zu zeigen (Seiten 262/263). Auf den Folgeseiten werden die Verfahren beschrieben und mit Abbildungen aus damaligen Druckereien illustriert.

• Doppelseite mit der Erklärung des Vierfarbdrucks mit den vier Farbauszügen und deren Wirkung des Überdrucks (Seiten 266/267).

• Farbiger Viererbogen mit Farbdrucken nach Autochrome-Platten von Léon Gimpel mit Innenarchitekturaufnahmen der damaligen Zeit und einer Seite mit farbigen Schmetterlingen (Seiten 269 bis 272). Einige dieser Bilder waren bereits in früheren Ausgaben von L’Illustration verwendet worden.

• Eingeklebtes Blatt mit zwei aufgeklebten Gemäldereproduktionen (Aquarell von Vigal und «La maison du pendu» von Cézanne) mit Golddruck (Seiten 273 und 274).

• Viererbogen mit Anaglyphen, zu deren räumlichen Betrachtung man die beigelegte Stereobrille benötigt. Sie zeigen ein Detail der Kirche von Brou in Bourg, zwei Innenaufnahmen in Museen, zwei Stadtansichten von Dijon und Semur-en-Auxois, sowie zwei Landschaften von Nantua und einen Viadukt in der Nähe von Bellegarde. Die Bilder zeigen einen eher übertriebenen räumlichen Effekt und sind deshalb sehr wirkungsvoll (Seiten 285 bis 288).

• Viererbogen im Kupfertiefdruck mit Luftaufnahmen von Carcassonne, eines Lokomotivdepots, der Wasserfälle von Iguazu und der Stadt New York (Seiten 319 bis 322).

• Viererbogen im Kupfertiefdruck mit extremen Nahaufnahmen mit Objekten, deren effektive Dimensionen auf Grund fehlender Vergleichsgrössen kaum geschätzt werden können (Seiten 331 bis 333).

• Farbiger Viererbogen mit Fluoreszenzaufnahmen (Seiten 343 bis 346).

• Viererbogen im Kupfertiefdruck von verschiedenen Skulpturen, um die wichtige Rolle der Dokumentarfotografie von Kunstobjekten aufzuzeigen (Seiten 351 bis 354).

• Viererbogen im Kupfertiefdruck mit wissenschaftlichen Tier- und Makroaufnahmen (Seiten 367 bis 370).

• Viererbogen im Kupfertiefdruck mit vier Gestirnsaufnahmen von der Mondoberfläche, von der Andromeda Galaxie Messier 31 und dem Spiralnebel Messier 81 (Seiten 412 bis 414).

Die erste Hälfte des Buches ist der frühen Geschichte der Fotografie gewidmet, und erklärt die Primärverfahren und deren Pioniere mit sehr seltenem Bildmaterial aus verschiedensten französischen Privatsammlungen der 1930er Jahre. Eine der grössten war die Sammlung von Gabriel Cromer, Fotograf und leidenschaftlicher Sammler, der die frühesten Bilder und Geräte der beiden Erfinder Nicéohore Niepce und Louis Jaques Mandé Daguerre sichern konnte, zusammen mit rund 6‘000 wichtigen Bilddokumenten, darunter etwa 500 Daguerreotypien. Der gesamte Bestand verkaufte seine Wittwe 1939 an die Eastman Kodak Company nach Amerika, welche damit den Grundstock zum George Eastman House in Rochester, dem heute wichtigsten Museum der Fotografie, legte. Das ist die Erklärung dafür, weshalb im George Eastman House so viele extrem seltene französische Ausstellungsobjekte zu sehen sind.

Die zweite Hälfte des Buches befasst sich mit Verfahren und Techniken der Zeit, zu der das Buch recherchiert und verfasst wurde. Dieser Teil zeigt viele Verfahren der damaligen Farbprozesse, Druckverfahren, Luftbildfotografie, Photogrammetrie, Mikroskopfotografie, Gemäldeuntersuchungen, Astrofotografie, Polizei- und Gerichtsfotografie, ballistische Aufnahmen bis hin zur Bildübertragung nach dem Verfahren von Eduard Belin, die beim Erscheinen des Buches eine technische Sensation war. Obwohl die meisten im Buch geschilderten Techniken längst überholt sind, ist die Aufarbeitung ihrer Anfänge mit zum Teil sehr seltenen und sensationellem Bildmaterial von besonderem Wert.

Zu bemerken ist auch die reichhaltige Illustration des Buches mit über 1‘200 Abbildungen auf 426 Seiten, mit einer für die damalige Zeit erstaunlichen Anzahl in Farbe oder in aufwändigem und sehr teuren Kupfertiefdruck. Dann darf man auch nicht vergessen, dass vor mehr sechzig Jahren alles im Buchdruck-Verfahren mit Bleilettern gesetzt wurde, und dass zur Wiedergabe der Bilder Metall-Klischees geätzt werden und in den Text einmontiert werden mussten. Ein Aufwand, den man sich in Kenntnis der heutigen Druckverfahren kaum mehr vorstellen kann. Das Buch muss ein Vermögen gekostet haben …

Urs Tillmanns

 

Kapitelübersicht

1. Kapitel: Die Vorfahren der Fotografie

2. Kapitel: Das Abenteuer der Entdeckung (1839-1857)

3. Kapitel: Die Epoche der Daguerreotypie und der Kalotypie (1839-1857)

4. Kapitel: Die Ära des Kollodiumverfahrens (1855-1880)

5. Kapitel: Die Trockenplatte (1878) und die Anastigmaten (1890)

6. Kapitel: Die Mode der künstlerischen Fotografie

7. Kapitel: Das bewegte Bild (1851-1895)

8. Kapitel: Die moderne Technik (1918-1939)

9. Kapitel: Die Erforschung der Farbe (1829-1943)

10. Kapitel: Fotomechanische Druckverfahren (1813-1939)

11. Kapitel: Auf der Suche nach dem Relief (1850-1943)

12. Kapitel: Die Photogrammetrie und die Luftbildfotografie (1851-1945)

13. Kapitel: Die Erforschung des unendlich Kleinen und Unsichtbaren

14. Kapitel: Die Fotografie im Dienste der Kunst und Literatur$

15. Kapitel: Die Fotografie im Dienste der Wissenschaft

16. Kapitel: Die Tele-Fotografie und das Belinogramm

 

Weitere Informationen

zu Raymond Lécuyer

zu L’Illustration

zu Baschet & Cie.

zu Jacques de Lesdain

zum Musée français de la photographie

zur Sammlung von Gabriel Cromer

und George Eastman House

 

 

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