Noch bis 3. März 2013 ist die Ausstellung «Huai He – alles im Fluss» bei der Fotostiftung Schweiz in Winterthur zu sehen. Fotointern.ch hat Andreas Seibert in Tokio besucht und wollte von ihm wissen, wie es sich in der japanischen Metropole lebt und was hier für einen freischaffenden Fotografen anders ist als in der Schweiz.
Andreas Seibert, Sie leben seit 15 Jahren hier in Tokio. Wie kam es dazu?
Die japanische Fotografie, mit ihrer starken dokumentarischen Seite, hat mich schon vor mehr als zwanzig Jahren fasziniert. Meine Frau, die Grafikdesignerin ist, hatte sich für japanisches Design und japanische Drucktechniken interessiert. So haben wir 1997 beschlossen nach Japan zu reisen, um vielleicht ein oder zwei Jahre hier zu verbringen. Wir wollten wissen, ob wir uns auch in einer Umgebung wie Tokio über Wasser halten können. Nun sind daraus bereits 15 Jahre geworden …
Andreas Seibert lebt und arbeitet seit rund 15 Jahren in Tokio (Foto: Urs Tillmanns / Fotointern.ch)
Ist es für einen freischaffenden Fotografen hier in Tokio ein Vorteil oder ein Nachteil Ausländer zu sein?
Es hat Vor- und Nachteile. Nach rund einem halben Jahr konnte ich die ersten Reportagen für ausländische Zeitschriften wie das NZZ-Folio, für DU, dann auch für Time Magazine, Stern, Geo etc. realisieren. Einige der Publikationen wollten Reportagen über Japan mit einem «westlichen Blick» fotografiert haben. Und das konnte ich natürlich. Ausserdem gibt es nicht viele westliche Fotografen hier in Tokio, die wie ich über Jahre hinweg im asiatischen Raum arbeiten. Als Nicht-Japaner ist und bleibt man aber so gut wie immer ein Aussenseiter der japanischen Gesellschaft, ein Nachteil, der die fotografische Arbeit nicht erleichtert.
Aus «From Somewhere to Nowhere»: Zwei Wanderarbeiterinnen, die nachts in der «wirtschaftlichen Spezialzone» in Shenzhen tätig sind. © Andreas Seibert / Pro Litteris
Aus «From Somewhere to Nowhere»: Wanderarbeiter in überfüllten Zügen auf der Heimfahrt von ihren mehrtägigen Jobs. © Andreas Seibert / Pro Litteris
Inwiefern ist die japanische Fotografie anders als die europäische?
Was die Reportage- und Dokumentarfotografie anbelangt, so arbeite ich wahrscheinlich etwas unauffälliger und auch etwas näher am Motiv, als meine japanischen Kollegen. Japanische Fotografen arbeiten oft mit Teleobjektiven, ich dagegen ziehe ein Normal- oder ein ganz leichtes Weitwinkelobjektiv vor. Ich kann nur ganz schlecht aus der Distanz fotografieren, ich muss nahe bei meinem Motiv sein, um gute Bilder machen zu können. Momentan arbeite ich vor allem mit Fujifilm GF670 und mit Leica MP Kameras, früher auch mit der Hasselblad 501 CM und der Leica M6. Einmal hat mir mein Dolmetscher in China gesagt: «Du siehst wie ein Fotoidiot aus mit dieser alten Kamera!» Darauf antwortete ich: «Super – genau das will ich …». Nicht ernst genommen zu werden und vor allem nicht allzu sehr aufzufallen sind gute Voraussetzungen für gute Bilder.
Die Fujifilm GF670, das ist eine Analogkamera mit dem Negativformat 6×7 Zentimeter …
Man kann mit der Kamera sowohl im Format 6×7 als auch 6×6 fotografieren. Ausserdem ist sie mit 120er und 220er Filmen kompatibel. Für meine freien Projekte verwende ich momentan vor allem die analoge GF670. Nach der Aufnahme scanne ich die Negative und bearbeite die Bilddaten mit dem Computer. Somit habe ich von beiden Welten, der analogen und der digitalen, das Beste. Der Aufwand ist natürlich relativ gross und in der Auftragsfotografie kaum zu verrechnen, deshalb verwende ich dort Digitalkameras.
Welche?
Ich selber besitze keine Digitalkameras. Ich miete für jeden Auftrag genau das Equipment, was ich brauche. So habe ich, ohne grosse Investitionen, immer das passende und vor allem auch das aktuellste Kameramodell.
Eine Ihrer wichtigsten fotografischen Arbeiten ist die Dokumentation «From Somewhere to Nowhere – China’s Internal Migrants» über die Wanderarbeiter in China. Wie ist es dazu gekommen?
2002 finanzierte die DEZA das Projekt «Geschichten von der Globalisierung», kuratiert vom Schweizer Fotografen Daniel Schwartz. Ich war einer der zehn Fotografen, die für das Projekt ausgewählt wurden und fotografieren durften. Mein Beitrag war eine fotografische Studie über das Leben und die Arbeit der Wanderarbeiter in China. Das Thema selber liess mich auch nach dem Projekt nicht mehr los: die chinesischen Wanderarbeiter bilden die grösste Migration der Menschheitsgeschichte, und ich wollte dieses historische Phänomen und auch diesen radikalen Umbruch in der chinesischen Gesellschaft mit meinen Kameras begleiten und dokumentieren. 2007 habe ich den Schweizer Verleger Lars Müller kontaktiert und ihm ein Buch vorgeschlagen. Dieses erschien 2008, wenige Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking. Der Filmemacher Villi Hermann hat mich auf drei meiner China-Reisen begleitet und einen 90-minütigen Film über mich und meine Arbeit gedreht. Der Film feierte 2009 an den Solothurner Filmtagen Premiere. Im gleichen Jahr wurde er auch am Filmfestival Locarno gezeigt. Seither ist er weltweit an Filmfestivals zu sehen und seit Ende 2012 auch als DVD erhältlich.
Aus «The Colors of Growth – Chinas Huai River», Verschmutzung des Yun Rivers, Provinz Anhui, China, August 2011. © Andreas Seibert / Pro Litteris
Aus «The Colors of Growth – Chinas Huai River», Henan Province, China, November 2011. © Andreas Seibert / Pro Litteris
Dann folgte die zweite Arbeit in China über den Fluss Huai, die jetzt noch in der Fotostiftung Winterthur zu sehen ist. Das Thema China scheint Sie besonders zu faszinieren …
Ja, das tut es. China ist dabei, sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auf der Weltbühne zurück zu melden. Diesen Aufschwung, mit allen Vor- und Nachteilen, möchte ich so gut ich es kann fotografisch dokumentieren. Nochmals: im heutigen China sind Umbrüche von historischen Dimensionen zu beobachten, und daher glaube ich, diese sollten dokumentiert und festgehalten werden.
Wie lange waren Sie für diese Arbeit in China?
Für die fotografische Arbeit des Projektes benötigte ich ein gutes Jahr, natürlich mit Unterbrüchen. Da ich in Tokio lebe ist die Anreise nach China nicht allzu aufwendig. Dies wäre anders, wenn ich in Europa leben würde.
Beeindruckend ist auch eines Ihrer jüngsten Projekte über die Folgeschäden des Tsunami vom 11. März 2011. Waren Sie in Tokio als das Erdbeben Japan traf?
Ja. Auch hier in Tokio war das Erdbeben sehr stark zu spüren. In Japan bebt es eigentlich ständig irgendwo, daran muss man sich schlicht und ergreifend bis zu einem gewissen Grad gewöhnen. Das Erdbeben vom 11. März 2011 aber war anders als alle Beben, die wir bis dahin erlebt hatten: Es begann eigentlich wie immer, mit einem ziemlich gleichmässigen Schwingen. Nur diesmal hörte es nicht wie normal nach 10, 15 Sekunden auf, sondern es wurde stärker. Nach rund 30 Sekunden fingen die heftigen Erdstösse an. Unsere Büchergestelle kippten um, Tassen fielen aus den Schränken. Ich flüchtete in den Garten – in den Socken, denn zum Schuheanziehen blieb keine Zeit. Als ich auf der Strasse stand spürte ich die Wellen sogar durch den Betonboden hindurch. Das Beben dauerte etwa zwei Minuten. Als die Erschütterungen allmählich nachliessen, fuhr ich mit dem Fahrrad zur Schule, um mich um das Befinden meiner beiden Kinder zu kümmern. Erst gegen Abend dann sahen wir in den Nachrichten, was wirklich geschehen war und konnten kaum glauben, was wir sahen. In den folgenden Tagen kam eine Schreckensmeldung nach der anderen. Tausende Tote; eine Atomanlage, die ausser Kontrolle ist; weitere Erdbeben etc.
Durch den Tsunami zerstörtes Gebäude in Minamisanriku, Miyagi Prefecture, Japan, Mai 2011. © Andreas Seibert / Pro Litteris
Tsunami Zerstörungen in Rikuzen Takata, Iwate Prefecture, Japan, Mai 2011. © Andreas Seibert / Pro Litteris
Dachten Sie nicht daran in die Schweiz auszureisen?
Doch, der Gedanke war naheliegend, als wir von der kritischen Situation der Atomanlage in Fukushima hörten. Am 13. März packten wir unsere Koffer, um im Notfall die Stadt schnell verlassen zu können. Als ich am Morgen des 14. März feststellte, dass die Züge der Linie, in deren Nähe wir wohnen, nur nach Tokio rein-, aber nicht mehr aus der Stadt rausfuhren, war für mich die Entscheidung klar. Wir fuhren nach Osaka, das weiter westlich liegt, und von dort aus flogen wir für einen Monat zurück in die Schweiz.
Wie war das Leben als Sie danach zurückkamen?
Die Stimmung in Tokio schien ernst und bedrückt, auch bedrückend. Um Strom zu sparen, waren viele Lichter abgeschaltet, viele der riesigen Leuchtreklamen und hellen Schaufenster waren erloschen – eine fast unheimliche Erfahrung.
Dann fotografierten Sie das eigentliche Katastrophengebiet etwa zwei Monate nach dem Ereignis.
Ich fuhr gemeinsam mit einem guten Freund, Hiroshi Hasegawa, dorthin. Je weiter wir der betroffenen Küste entlang nordwärts fuhren, desto schlimmer präsentierte sich das Ausmass der Verwüstung – zuerst nur Wellen auf der Autobahn, dann Risse im Strassenbelag; ans Land geschwemmte Boote; Autos in Reisfeldern und in Bäumen hängend; Boote auf Hausdächern; weggespülte oder verbogene Bahngeleise; umgekippte oder von der Wucht der Wassermassen weggedrückte Häuser. Und dann die Gebiete, wo früher Städte standen, wo von diesen aber nichts mehr zu sehen war, wo so gut wie kein Haus mehr stand. Dazwischen Helfer, die nach Opfern suchten und Bewohner, die im Trümmerfeld dort, wo ihr Haus früher stand, wenigstens ein paar Fotos zur Erinnerung zu finden hofften.
Yoyogi Hachiman, Tokio, Mai 2009. © Andreas Seibert / Pro Litteris
Shinjuku, Tokio, September 2009. © Andreas Seibert / Pro Litteris
Auf Ihrer Webseite gibt es Bilder über Tokio, wie Sie es sehen. Was wird aus diesem Material?
Der Grossraum Tokio ist, gemessen an der Einwohnerzahl, eine der grössten Städte der Welt. Und sie ist, so meine ich jedenfalls, auch die Stadt mit der grössten Anzahl an einsamen Menschen. Seit 15 Jahren fotografiere ich Tokio so, wie ich es sehe. So entsteht eine ganz persönliche Arbeit über Tokio, meine jetzige Heimat, über eine Stadt, die ich einerseits sehr gern habe, die mir aber andererseits wohl auch immer irgendwie fremd bleiben wird. Die Arbeit wird Mitte 2013 fertig sein, dann würde ich sie gerne ausstellen.
Werden Sie eines Tages wieder in die Schweiz zurückkehren?
Wenn wir zurückkommen, dann wahrscheinlich vor allem wegen der Ausbildung unserer Kinder. Sie sollen nicht nur das japanische, sondern auch das Schweizer Schulsystem kennen lernen.
Das Interview führte Urs Tillmanns
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