Seit vielen Jahren weiss man, dass im Institut für Kriminalwissenschaft an der Juristischen Fakultät der Universität Lausanne ein Bestand an historischen Fotografien von internationaler Bedeutung gepflegt wird. Nun hat ein interdiszpilinäres Team das Archiv von Rodolphe Archibald Reiss wissenschaftlich aufgearbeitet und stellt einige der bemerkenswertestens Werke im Musée de Elysée in Lausanne zur Schau.
Rudolf Archibald Reiss wurde 1875 auf Gut Hechtsberg im badischen Schwarzwald als Sohn eines Weinunternehmers geboren und studierte ab 1895 an der Universität Lausanne Chemie. Bereits 1898 erhielt er den Doktortitel und gründete noch während seines Studiums mit Isaac Rouge den Journal suisse des photographes, die erste Zeitschrift in der Schweiz für wissenschaftliche Fotografie.
Als Assistent von Professor Heinrich Brunner übernahm er 1899 die Leitung der fotografischen Arbeiten und Forschungen an der Universität, die ein breites Spektrum umfassten, von der Verfahrenstechnik bis zur Röntgenaufnahme. Mit der Einbürgerung um 1901 wurde Reiss Privatdozent, Chefredakor der Revue suisse de photographie und unterichtete das neue Fach Kriminalfotografie. Bereits 1903 organisierte er in Lausanne einen internationalen Kongress und publiziert in Paris La photographie judiciaire, ein über Jahrzehnte im französischen Sprachraum verbindliches Standdardwerk. 1909 gründete er das Forensische Institut an der Universität Lausanne, das er bis 1919 leitete.
Reiss fotografierte selbst unermüdlich und dehnte seinen Wirkungskreis bis nach Sankt Petersburg, Sao Paulo, Rio de Janeiro und New York, den damaligen Metropolen aus. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg war er die führende Persönlichkeit in seinem Fach und wurde bereits 1914 zur Ermittlung von Kriegsverbrechen der Österreichischen Armee in Albanien und Serbien berufen.
Dieser Auftrag wurde für Reiss zum Abenteuer seines Leben. Er zog sich gemeinsam mit der Serbischen Armee nach Belgrad zurück und trat in die Dienste des Königreichs ein. Als Mitglied der jugoslawischen Delegation nahm er 1919 an der Pariser Friedenskonferenz teil und wurde zum Mitbegründer des Serbischen Roten Kreuzes. Nach einem wenig erfolgreichen Versuch, die Polizei in Belgrad zu reorganisieren, zog er sich zurück und verstarb 1929 in der Nähe von Belgrad.
Sein fotografisches Hauptwerk hinterliess er in Lausanne. Es wurde pflichtbewusst archiviert, doch erst vor wenigen Jahren setzte die wissenschaftliche Aufarbeitung ein. Im Vordergrund des Interesses standen düstere, spektakuläre Bilder von Gewaltverbrechen, die Reiss auch in seine Vorlesungen einbaute.
Das Musée de l’Elysée warnt Kinder und sensible Personen vor dem Rundgang durch die Ausstellung . Die Aufnahmen haben nach mehr als hundert Jahren nichts an Schrecken eingebüsst. Da liegt eine von ihrem Liebhaber erdrosselte Prostituierte auf ihrem Bett, ein mit der Axt erschlagener Bauer im Stall. Man denkt unwillkürlich an Weegee, doch seine Polizeireportagen entstanden eine Generation später und dienten einem anderen Zweck.
Wie Reiss wirklich fotografierte, weiss man aufgrund seines Handbuchs. Er selbst war, wie seine wissenschaftlichen Beiträge zeigen, von der Unbestechlichkeit der Fotografie als kriminalistisches Beweismittel überzeugt. Doch oft erscheinen die technisch perfektionierten Aufnahmen wie gestellt. Was er aufgenommen hat oder aufnehmen liess, entspricht bereits der durch den lokalen Befund aufgebauten Geschichte eines Verbrechens.
So mag das mit der Ausstellung und den Vorarbeiten entstandene Buch vielmehr mehr Beginn als Abschluss eines der faszinierendsten Kapitel der Fotogeschichte der Schweiz sein. Nach dem Besuch der Ausstellung möchte man noch mehr über Reiss und seine Welt wissen, über die „Wirklichkeit der Bilder“ (Michael Baxandall) auch in der forensischen Fotografie, und wie es dann in Belgrad weiter ging. Das Musée de l’Elysée hat mit der Universität Lausanne die Büchse der Pandora geöffnet, um in der Sprache der Professoren zu sprechen.
Archibald Rudolph Reiss Beitrag Wikipedia)