Im Stadtarchiv Zürich befindet sich eine beträchtliche Sammlung von Unfall- und Tatortaufnahmen der Stadtpolizei. Einst aussagekräftige Dokumentationen für gerichtliche Verfahren, wirken sie heute nostalgisch, ja fast amüsant auf uns. Eine spannende Auswahl haben wir für Sie zusammengestellt.
Zürich ist in der glücklichen Lage, dass rund 25‘000 über sechzig Jahre alte Unfall- und Tatortaufnahmen der Stadtpolizei noch erhalten sind. Andere Polizeistellen mögen Ähnliches wohl vernichtet haben, da die Fälle längst abgeschlossen oder verjährt sind, und im Ausland sind solche Dokumente wahrscheinlich grösstenteils im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen.
Nochmals Glück gehabt: Am 14. Januar 1929 war die Gessnerbrücke vereist
Je mehr Zeit vergeht, desto mehr gewinnen solche Bilder wieder an Bedeutung. Da sind einerseits die in die Unfälle verwickelten Verkehrsmittel, die Trams und die Autos, die heute einen nostalgisch-amüsanten Eindruck auf uns machen. Andererseits sind die Bilder aber auch wichtige Zeitzeugen in städtebaulicher und architektonischer Hinsicht. Wie hat sich Zürich doch in den letzten 60 bis 80 Jahren verändert! Obwohl für den damaligen Verwendungszweck völlig sekundär, zeigen die Aufnahmen Ansichten von Gebäuden und Strassenzügen, die für uns heute wieder interessant sind und – etwas Stadtkenntnis vorausgesetzt – gedanklich leicht mit den heutigen Ortssituationen verglichen werden können.
Wohl das Ende dieses Herrschaftswagens, der am 31. Oktober 1921 gegen eine Säule des Tramwartehauses prallte
Zürich in den dreissiger Jahren
Was müssen das doch für herrliche Zeiten für die Verkehrsteilnehmer vor achtzig Jahren gewesen sein! Die Szene wurde von Fussgängern, Velofahrern, Fuhrwerken und Trams dominiert. Autos gab es – im Vergleich zu heute – nur wenige, die entweder im kleinen Güter- und Lieferverkehr unterwegs waren oder der vermögenden Nobelschicht gehörten.
Etwas ungeschickt dazwischen geraten, am 13. März 1925 in der Seefeldstrasse
Die Gefahr Nummer Eins war die Strassenbahn – oder «das Tram», wie wir Schweizer dazu halt sagen. Diese schienengebundenen Vehikel bewegten sich gegenüber den Fussgängern und Pferdefuhrwerken mit einer «atemberaubenden» Geschwindigkeit und hatten einen unendlich wirkenden Bremsweg. Um diesen im Notfall zu verkürzen, führten sie Sand mit sich, der bei einer Notbremsung automatisch auf die Schienen gestreut wurde. Genützt hat dies in vielen Fällen allerdings wenig, wie diese Bilder zeigen. Vor allem dann nicht, wenn die Automobilisten die Gefahrensituation und die Geschwindigkeit der Trams falsch einschätzten oder deren absolutes Vortrittsrecht missachteten. Oft haben die Autolenker wahrscheinlich auch das Beschleunigungsvermögen ihres Gefährts überschätzt, und dann «hets halt wider emol tätscht».
Unterschätzte wohl die Länge seines Fahrzeugs, am 8. Januar 1932 an der Kreuzung Birmensdorferstrasse / Weststrasse
Ein grosser Verkehrsunfall zwischen einem Auto und dem Tram war immer eine Sensation, welche sofort als Passantenmagnet wirkte. Die Leute hatten Zeit als Schaulustige daneben zu stehen und die zerbeulten Vehikel so lange von allen Seiten zu bestaunen, bis diese endlich abtransportiert waren. Etwas Schadenfreude gehörte wohl in vielen Fällen auch dazu, war doch die autofahrende Nobelgesellschaft beim Mann auf der Strasse der damaligen Krisenzeit oft mit Missgunst gesehen.
Ob am 10. September 1930 in der Gloriastrasse wohl die Bremsen versagt hatten?
Spektakulär waren auch die Bilder jener Situationen, bei denen das Tram ohne die Schuld eines Automobilisten einen Verkehrsunfall verursachte, meist weil der Fahrer die Geschwindigkeit missachtet oder weil ein technischer Defekt vorlag. Dass dies bei den tonnenschweren «fahrenden Holzhäuschen» meist zu fatalen Folgen, vor allem unter den Stehplatz-Passagieren führte, kann man sich leicht vorstellen. Die polizeiliche Ermittlung und die Aufräumarbeiten dauerten damals Stunden, in denen auf der betroffenen Tramlinie gar nichts mehr lief und Trauben von Schaulustigen den Schadenplatz umlagerten.
Verschwand plötzlich von der Bildfläche am 27. Oktober 1943 bei der Tramschlaufe Seebach
Um die Passagiersicherheit der damaligen Automobile war es keineswegs besser bestellt. Sicherheitsgurte, Airbacks, Knautschzone – heute für uns Selbstverständlichkeiten – sind alles Erfindungen der letzten zwanzig Jahre. Damals prallten Fahrer und Passgiere bei einem Unfall ungebremst gegen das unnachgiebige und massive Armaturenbrett, gegen die splitternde Windschutzscheibe oder gegen das direkt mit der Vorderachse verbundene Lenkrad und trugen oft schwerwiegende und unheilbare Verletzungen davon.
Grossbrand an der Erlachstrasse am 17. Juni 1921
Im Archiv befinden sich natürlich nicht nur Aufnahmen von Verkehrsunfällen, sondern es sind auch reichlich Bilder von anderen Ereignissen vorhanden. Aufnahmen von Brandkatastrophen zum Beispiel, welche oft die Gebäudearchitektur der letzten Stunde zeigen oder Aufnahmen von Tötungsdelikten, Selbstmorden oder anderer Personenfälle zeigen, die von der Tatortsituation wenig spektakulär wirken, hinter denen sich jedoch meist eine besondere menschliche Tragik verbirgt.
Vereinzelte Bombenabwürfe während des Zweiten Weltkriegs, wie hier beim Viadukt Josefstrasse/Ottostrasse am 22. Dezember 1940, beunruhigten die Bevölkerung
Die Arbeit des Polizeifotografen
Die Fotografie als Hilfsmittel der erkennungsdienstlichen Ermittlung geht ins vorletzte Jahrhundert zurück. Katastrophen und spektakuläre Unfälle wurden zuvor zeichnerisch und mit Skizzen dargestellt, bis schliesslich die Fotografie als realistischere und exaktere Dokumentationsmethode angewandt wurde.
Die Kreuzung Birmensdorferstrasse / Weststrasse scheints in sich zu haben, auch am 12, August 1937
In Zürich dürfte der Erkennungsdienst der Stadtpolizei 1920 (re)organisiert und mit entsprechenden Richtlinien ausgestattet worden sein, denn die vorliegende Sammlung beginnt auch just in dieser Zeit mit dem Negativ Nummer Eins. Frühere fotografische Dokumente scheinen nicht mehr vorhanden zu sein und wurden wahrscheinlich auch nicht archivarisch erfasst. Oder sie wurden mit den Beweismitteln der betreffenden Fälle abgelegt und nach Abschluss des Falles und einer gewissen Verjährungsfrist vernichtet. Es ist deshalb ein ausgesprochener Glücksfall, dass diese Bilder erhalten geblieben sind, weil sie offensichtlich als besonders wertvoll und auch für Instruktionszwecke als nützlich erachtet wurden.
Man sollte dem Grösseren den Vortritt lassen: an der Kreuzung Hammerstrasse-Zollikerstrasse am 28. Mai 1929
Die Arbeit des Polizeifotografen – vor allem der damaligen Zeit – ist nicht zu unterschätzen. Die Standardausrüstung bestand aus einer hölzernen Balgenkamera für das Plattenformat von mindestens 13 x 18 cm, meist jedoch 18 x 24 cm, die nur vom Stativ aus eingesetzt werden konnte. Die Empfindlichkeit der Glasplatten betrug in den zwanziger Jahren etwa 16 ISO, was besonders bei schlechten Lichtverhältnissen zu langen Belichtungszeiten ab Stativ führte. Um das lichtschwache und kopfstehende Bild der der Mattscheibe bei Tageslicht überhaupt beurteilen und scharfstellen zu können, verschwand der Fotograf unter einem schwarzen Tuch und wurde damit zur wichtigsten Person auf dem Schadenplatz. Bis die Aufnahme «im Kasten» war durfte nichts verändert, die Passanten mussten aus dem Bildfeld gewiesen, und der Verkehr angehalten werden. Dass die Arbeit des Fotografen eine sehr verantwortungsvolle war, kann man leicht nachempfinden. Jede Aufnahme musste auf Anhieb perfekt belichtet und scharf sein, und keine konnte wegen Misslingens nachgemacht werden, denn als die grossformatigen Glasplatten im polizeilichen Labor entwickelt wurden, war der Schadenplatz schon längst geräumt und die Bilder nicht mehr wiederholbar.
Hatte Pech am Limmatplatz: Weshalb der Migros-Wagen am 31. August 1933 nicht kam …
Regenwetter, Nebel und nächtliche Dunkelheit waren erschwerende Situationen für die Polizeifotografen, welche oft alle Tricks anwenden mussten, um dennoch zu brauchbaren und aussagekräftigen Bildern zu kommen. Blitzlicht, wie wir es heute kennen, gab es noch nicht. Man setzte Magnesiumpulver ein, dass zur korrekten Belichtung nach Erfahrungswerten genau dosiert sein musste, oder es wurden für grosse Schadenplätze sogenannte «Flambeau» abgebrannt, das waren Magnesiumstäbe mit einer Brenndauer von mehr als zehn Sekunden, welche ein taghelles Licht ergaben und als «Wanderlicht» ideal waren, um auch grosse Szenerien auszuleuchten.
Unfallfotografie lässt sich auch mit stimmungsvoller Landschaftsfotografie kombinieren, wie hier in der Industriestrasse am 8. September 1936
Archiv gerettet
Stadtarchivar Nicola Behrens wurde vor drei Jahren mit der Aufgabe betraut, die 129 Fotoalben aus der Zeit zwischen 1920 und 1980 und gegen 50 Schachteln mit Diapositiven und Glasplattennegativen bei der Stadtpolizei zu sichten und zusammen mit mehr als 20 Laufmetern Korrespondenzen, Unfallberichten, polizeiinternen Lehrmitteln, Drucksachen und Plänen ins Stadtarchiv zu überführen, um sie archivarisch zu bearbeiten. In der Folge wurde eine sinnvolle Auswahl aus den rund 25‘000 Bildern getroffen, die schliesslich digitalisiert und in den Exif-Daten datiert und archivmässig erfasst wurden. Heute stehen rund 700 davon auf der Homepage des Stadtarchivs zur Verfügung, die damit fast ausstellungsmässig jedermann zugänglich sind.
Daneben gibt es eine grosse Zahl von Bildern, die aus Pietätsgründen der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben müssen. Dazu Nicola Behrens: «Die wichtigste war, keine Opfer von Unfällen oder Verbrechen, keine Leichen von Selbstmördern oder ungeklärte Todesfälle zu zeigen. Diese Selbstbeschränkung erfolgte nicht nur aus ästhetischen Gründen. Sie ist zum Schutz der Persönlichkeit vorgeschrieben und dient ebenso der Wahrung des Rechtes der Angehörigen auf Respekt als auch dem Schutz des Ansehens einer Person bis über den Tod hinaus». Dies deutet auch den emotionell schwierigen Teil des Polizeifotografen an, der oft mit Tatortsituationen konfrontiert wird, die er auch über längere Zeit nur schwerlich verarbeiten kann.
Beim Betrachten dieser Bilder sollten wir nicht vergessen, dass hinter jedem ein menschliches Schicksal steht, und dass die persönlichen Konsequenzen der damaligen Unfälle und Katastrophen meist von erheblich grösserer Tragweite waren als heute.
Urs Tillmanns
Die nächtliche Trunkenfahrt endete am 13. Januar 1933 an einem Verkehrsteiler in der Hardturmstrasse
Copyright sämtlicher Fotos: Stadtarchiv Zürich
Verwendung mit freundlicher Genehmigung.
Die Bilder über 700 Bilder auf der Webseite des Stadtarchivs sind ein interessanter und faszinierender Fundus. Allerdings sind für das Login einige Menühürden zu bewältigen:
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http://amsquery.stadt-zuerich.ch/suchinfo.aspx
Feldsuche
Signatur beginnt mit „V.E.c.72.1.2.1.“
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Schade! So ein interessantes Archiv mit so einer benutzerunfreundlichen Software zu erschliessen!
Absolut spannendes Archiv, und die Navigation erst. Davon träumt man noch in 100 Jahren… 😉 Schade…
Die Fotos sind wirklich toll….
toll diese einblicke überhaupt zu bekommen!
Schade, schade so interessant, aber eben……software unbrauchbar
Danke für die wenigen Fotos die man trotzdem noch sehen konnte.
>> Ob am 10. September 1930 in der Gloriastrasse wohl die Bremsen versagt hatten?
Ja! Die Magnetschienenbresme wurde damals noch aus der Fahrleitung versorgt, was keine gute Idee war, wenn der Stromabnehmer entgleiste, was bei diesem Unfall geschene war, der dann auch zur entsprechenden Gesetzesänderung führte (Stromversorgung aus der Fahrzeug-Batterie)
>> meist zu fatalen Folgen, vor allem unter den Stehplatz-Passagieren führte
Die Aussage in der Vergangenheitsform zu schreiben ist leider falsch. Die wenigsten Passagiere sind in der Lage stehend eine Notbremsung in einer Strassenbahn zu überstehen – vor allem wenn die aus grösserer Geschwindigkeit erfolgt. Weise Fahrgäste setzen sich deshalb auch für kurze Strecken.