Urs Tillmanns, 13. Dezember 2009, 07:00 Uhr

Fotografen unter Glasdächern …

Fototeliers vor hundert Jahren waren auffällige Glaskonstruktionen in Fassaden und Dächern, die einen hellen und schattenlos ausgeleuchteten Aufnahmeraum bewirkten. Künstliche Lichtquellen gab es erst viel später, und der Lichtbildner kämpfte mit den ständig wechselnden Lichtverhältnissen und den wenigen Aufnahmestunden an kurzen Wintertagen.

In jener Zeit, bevor es konfektionierte Filme und Chemikalien gab, war die Arbeit des Fotografen kompliziert, mühsam und nicht ungefährlich. Der hatte Berufsstand kein leichtes Dasein, da er sich, häufiger Kritik ausgesetzt, irgendwo zwischen Kunst und Handwerk einzuordnen hatte. Nur wenige Lichtbildner konnten früher auf eine glanzvolle Karriere zurückblicken. Die Zahl derjenigen, welche sich mit bescheidenen Arbeitsräumen und Einkünften zufriedengeben mussten, war unverhältnismässig grösser, und ihre Namen sind längst in Vergessenheit geraten.

Atelier_Glasdach_kombi_1

Die Häuser von Fotografen erkannte man vor hundert Jahren an den auffälligen Glasdächern. Sie waren in der Regel gegen Norden gerichtet, um direkte Sonneneinstrahlung zu vermeiden und dadurch ein nahezu schattenloses Licht mutzen zu können.

Die Welt des Fotografen, sein Atelier, das anfänglich nur von Tageslicht und erst später von künstlichen Lichtquellen durchflutet wurde, seine Dunkelkammer, wo man mit den Geheimnissen des Hauses Bilder produzierte, nicht zuletzt aber auch die Geschichte seiner Geräte und Materialien, ist faszinierend. Versuchen wir, uns gedanklich ins vorletzte Jahrhundert zu begeben.

Aus unserem Strassenbild sind sie schon längst verschwunden, jene Glasdächer, die den Passanten das Domizil eines Lichtbildners verrieten. Unter dem Glasdach ist der Operateur gerade damit beschäftigt, nach strengen Anweisungen des Fotografen einen Kunden, der vor einem gemalten Hintergrund in Pose steht, zu porträtieren. Ungeduldig schaut der Meister immer wieder gegen Westen, wo sich schwere Regenwolken zu einer schwarzen Wand zusammenballen, die vielleicht schon in wenigen Augenblicken ein Weiterarbeiten verunmöglichen könnten.

Zur Zeit der Daguerreotypie, bis etwa 1850, war es üblich, dass die Fotografen auf grossen Dachterrassen und im Freien versuchten, in minutenlangen Belichtungszeiten Aufnahmen lebender Personen zu erstellen. Wer den ersten Menschen fotografiert hat, ist eine Frage, mit der sich jeder Fotohistoriker einmal auseinandergesetzt hatte. War es Reade, gelang es Susse, oder hat ein unbekannter «Pröbler» das erste Porträt auf die Platte gebannt – es wird immer ein Geheimnis der Vergangenheit bleiben.

Das erste fotografische Atelier entstand im April 1840 auf dem Dache der New-Yorker Universität und wurde von John William Draper (1811-1882) und Samuel Morse (1791-1872) betrieben. Die beiden gelten als früheste Pioniere amerikanischer Fotografie, und es gelangen ihnen bei Belichtungszeiten von 25 bis 30 Sekunden gute Porträts.

Atelier Joh Graf kombi

Fotoatelier Graf in Winterthur um 1920. Mit den Gardinen vor dem Glasdach konnte das Licht dort abgeschattet werden, wo man es nicht haben wollte. Zur seitlichen Aufhellung dienten weisse Reflektionsflächen, wie man sie links neben der Kamera sieht.

Glasdächer, Glasfassaden und ganze Glashäuser, wie sie in den fünfziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts immer häufiger zu sehen waren, wurden nicht nur von Fotografen bewohnt; Maler und Bildhauer hatten ebenso das Bedürfnis nach hellen, diffus ausgeleuchteten Räumen. Um gerade jenes weiche, nahezu schattenlose Licht zu erreichen, strebte man baulich an, die grösstmögliche Glasfläche gegen Norden auszurichten. Am meisten verbreitet waren die «Pultdachateliers», die direkt mit den erforderlichen Nebenräumen und der Wohnung des Fotografen verbunden waren.

Das Glasdach war immer des Fotografen Sorgenkind. Schon von der Konstruktion her musste auf starke, grosse Eisenträger verzichtet werden. Um den Lichtverlust so gering wie möglich zu halten, kamen möglichst dünne Profile zum Einsatz, die die grossen und schweren Glasflächen trugen. So kam es durchaus häufig vor, dass bei Sturm- und Hagelwetter grössere Teile des Glasdaches in die Brüche gingen. Dass dabei das oft teure Interieur des Ateliers grossen Schaden nehmen konnte, ist leicht auszumalen, und eine Versicherung hierfür, die wir heute als Selbstverständlichkeit erachten, gab es damals noch nicht.

Ein weiteres, beinahe unlösbares Problem der Dachkonstruktion stellte das wasserdichte Verkitten dar. Infolge der Temperatureinflüsse wurde der Dichtungskitt oft rissig; das führte dazu, dass sich die gesamte Belegschaft des Unternehmens bei einem Wolkenbruch mit Eimern und Tüchern bewaffnete. Abgesehen davon, dass das Dach regelmässig kontrolliert und repariert werden musste, war auch eine häufige Reinigung notwendig. Russ aus dem Heizungen und Schmutz der ungeteerten Strassen trugen zu einem erheblichen Lichtverlust bei, und da die Ateliers meist in den obersten Stockwerken untergebracht waren, gestalteten sich diese Arbeiten meist recht schwierig und gefahrvoll.

Unter dem Glasdach herrschten oft treibhausähnliche Temperaturen. Im Sommer stieg das Thermometer unaufhaltsam, und selbst bei weit geöffneten Luken (wobei nur teure Dächer über solche verfügten) wurde die Hitze unerträglich. Ganz anders in der Winterzeit. Zähneklappernd verbrachte der Fotograf seine Pflichtstunden hinter der Kamera, und es musste eine Menge Holz verfeuert werden, bis auch nur eine annähernd angenehme und den Kunden zumutbare Raumtemperatur erreicht werden konnte. Und ausgerechnet vor Weihnachten musste der Künstler unzählige Kunden enttäuschen, weil eine dicke Schneeschicht das Glasdach bedeckte und jegliches Arbeiten verunmöglichte.

Interessante Mittel, die sommerliche Hitze im Atelier zu verringern, finden sich in den damaligen Fachzeitschriften: Neben dem Betreiben von Ventilatoren wurde empfohlen, auf dem Dach schattenspendende «Sonnensegel» anzubringen oder eine Berieselungsanlage installieren zu lassen; das blieb vermögenden Fotografen vorbehalten.

Um den Kunden vor dem grellen Himmelslicht zu bewahren, liessen viele Fotografen die Dächer ihres Ateliers mit blauem Glas decken. In Verbindung mit den damals üblichen blauempfindlichen und später orthochromatischen Materialien hatte dieses keine Verlängerung der Belichtungszeit zur Folge. Unmittelbar unterhalb des Glasdaches waren Oberlichtgardinen angebracht, die eine gewisse Lichtführung ermöglichten. Der Operateur hatte die Aufgabe, nach Anweisungen des Fotografen bestimmte Partien des Glasdaches abzudunkeln; dies geschah entweder über Drahtzüge oder mit einem Bambusstab. «Nebenbei gesagt», erzählt uns der Wiener Fotograf Charles Scolik, «bin ich ein Feind der vielen Gardinen, die, wenn sie nicht mindestens jedes Vierteljahr erneuert werden, das Atelier nur verunzieren, denn die blauen verblassen und die weissen bekommen durch das bei Regenwetter trotz allem Verkitten und Abdichten der Glasscheiben eindringende Wasser die abscheulich rostbraun geränderten gelben Flecken, und gleichzeitig hält sich in diesen Gardinen, die man ja nicht gleich den Möbeln und Teppichen häufig reinigen kann, viel Staub.»

Atelier Hochzeitspaar 500

Nervosität kam auf, wenn das Brautpaar an seinem schönsten Tag fotografiert werden wollte, die halbe Hochzeitschaar gelangweilt daneben stand und dicke Regenwolken die Sonne verdeckten.

Es war früher immer ein festlicher Anlass, wenn man zum Fotografen ging – und Leute, die etwas auf sich hielten, taten dies mehrmals jährlich. Zur verabredeten Uhrzeit begegnete man zuerst der Empfangsdame. Sie musste kaufmännisches Flair haben und daneben auch eine gepflegte, sympathische Erscheinung sein. Ihre Aufgabe war nicht nur, die Kunden zu empfangen und in das Wartezimmer zu geleiten, sie musste auch mit allem Charme und viel Diplomatie versuchen, die Kunden zu grösseren Bildformaten und mehreren Bildern zu überreden. Im Wartezimmer hingen die Wände voll mit Arbeitsproben des Meisters, der in der Zwischenzeit mit seinem Operateur die letzten Vorbereitungen traf: Standesgemässe Gegenstände mussten aus dem Requisitenraum geholt werden, ein geeigneter gemalter Hintergrund wurde ausgesucht, während der Laborgehilfe im Dunkelzimmer die Kollodiumplatten silberte. Dann führte die Empfangsdame die Kundschaft ins Atelier. Handelte es sich dabei um ein Brautpaar, folgte natürlich die halbe Verwandtschaft nach, und der Fotograf gab sich alle Mühe, bei seiner Arbeit nicht nervös zu werden. Den Zeitpunkt der Aufnahme des obligaten Brautpaarbildes plante man fest in den Zeitablauf des «schönsten Tages» ein, und es war eine Selbstverständlichkeit, dass man den Fotografen in seinem Atelier dazu aufsuchte, um vor dem gemalten Hintergrund eine Szene festzuhalten, die dann ein Leben lang im Wohnzimmer an der Wand hängen musste. Viele solcher Aufnahmen zeigten Hintergründe mit kathedralenähnlichen Kircheninnenansichten, über die ein Fotograf verfügen musste, wenn er in den Augen seiner Gäste auf der Höhe seiner Zeit sein wollte.

Die fotografischen Ateliers waren anfänglich recht einfach eingerichtet. Einige wenige Utensilien, die damals als unerlässlich galten, schmückten den grossen, hellen Raum. Imitierte Marmorsäulen und Balustraden gehörten damals auf eine Fotografie, die mit dem entsprechenden Hintergrund eine Aussenaufnahme vortäuschen sollte. In den späteren Jahren, gegen die Jahrhundertwende, waren die Ateliers mit verschiedenartigsten Requisiten überladen, mit denen bei der Aufnahme ein meist nicht vorhandener Wohlstand vorgetäuscht wurde.

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In vielen Ateliers wurden jahrzehntelang die gleichen verstaubten und aus der Mode geratenen Requisiten benutzt

«Was überhaupt an Unnatur in den Glaskästen geleistet worden ist, das näher zu beschreiben sei mir erlassen. Ich erinnere mich nur an die berüchtigten Säulen und Balustraden, die verstaubten Papierpflanzen und Makartsträusse, an die Kopfhalter, in die die Modelle eingeklemmt wurden, an das unvermeidliche geschnitzte oder gar geflochtene Tischchen mit gefranster Decke, den hochlehnigen, ebenfalls geschnitzten Stuhl, die geraffte Portiere, den – ach ja, den Grasteppich nicht zu vergessen! Und die unglaublichen gemalten Hintergründe, die noch heute in ‚ersten‘ Ateliers spuken …». Heinrich Kühn, von dem dieses Zitat aus dem Jahre 1921 stammt, hätte die Requisitenliste noch weiterführen können, denn auch Postamente, Fensterattrappen und nachmodellierte Felsen reihten sich zu einer Möbelausstellung, die alle bedeutenden Stilrichtungen dokumentierte.

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts begannen sich die Ateliers allmählich zu verändern; man erkannte die Widersinnigkeit jener unnatürlichen Atmosphäre: «Das Atelier des Fotografen ist uns überkommen als ein Interieur von barbarischer Geschmacklosigkeit: halb Scheune, halb Glaskasten. An den Fenstern schmutzige Lappen. An der Wand steht ein altes Sofa oder eine Chaiselongue mit einem runden Tischchen davor, auf dem süssliche und schmachtende Bilder stehen. Dann ein paar Hintergründe, die Natur vorlügen. Eine Balustrade, einige Palmen. Ein paar verstaubte, vielleicht auch schmutzige Plüschfauteuils, in der Mitte der Operationsstuhl mit Klammern hinten, die den Kopf einschrauben, eines Zahnarztes würdig. In dieser grotesken Öde der Apparat, wie ein Kanonenrohr auf das ängstliche Objekt, das vor dem Naturhintergrund eingeklemmt sitzt, zielend. Besorgt starrt es auf die zielende Mündung … Es ist selbstverständlich, dass Bilder, die in solchen Interieurs geschaffen werden, nicht jene überzeugende Lebenswahrheit, jene weiche und doch strenge Tonschönheit haben können, wie wir sie von der Fotografie der Gegenwart jetzt verlangen. Die Bilder, die hier gefertigt werden, entsprechen der öden, barbarischen Umgebung. Sie sind steif, unnatürlich, schablonenmässig leblos. Dem Objekt, dem Darstellenden, fehlt der Charakter, die persönliche Note; der Technik mangelt das Künstlerische.»

Die Glashäuser blieben einstweilen, und mancher Fotograf schätzte sich glücklich, noch ein solches zu besitzen. Das nahezu schattenlose, weiche Nordlicht diente der allgemeinen Raumausleuchtung, und mit Kunstlicht, das sich ab den 1920er Jahren sukzessive durchsetzte, begann man Lichtführung zu betreiben und Lichtakzente zu setzen. Das Innere der Ateliers wurde wieder schlicht und einfach gehalten, und was nicht mehr der Zeit entsprach, landete auf der Müllhalde.

Mit dem Zweiten Weltkrieg waren die Glasdächer aus den Städtebildern verschwunden. Und was nicht durch den Krieg zerstört wurde, wich einer moderneren Architektur.  Fotolampen und später Blitzlichtanlagen haben die Glasdächer überflüssig werden lassen. Schade um die Glasdach-Romantik. Vielleicht besinnen sich dereinst Fotografen wieder auf das schattenlose Nordlicht zurück, denn so schlecht waren die Porträts nicht, welche unsere alten Fotografenmeister mit ihren einfachen Mitteln zu Stande brachten.

Urs Tillmanns

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