Pressespiegel zum Wochenende vom 1./2. Mai 2010
Für Reporter/innen, die am 1. Mai an die Randale in Zürich verknurrt wurden, bleibt eine durchmischte Bilanz. Es war wirklich nicht viel los, und zudem konnte man, um 21 Uhr, als die Polizei Entwarnung gab, sich bereits per Handy im Newsroom abmelden. Die besten Bilder waren längst online, und zu schreiben gab es so viel, wie für einen 2.Liga-Match.
(Bildnachweis:Blick-Online).
Neu in diesem Jahr war der Einsatz von Embedded Photographers auf beiden Seiten. Die beiden Agenturen Keystone und newspictures.ch belieferten Blick-Online und Tages-Anzeiger mit professionellen Bildern von der Langstrasse im Halbstundentakt. Beide Redaktionen der führenden Tageszeitungen hatten zur Ergänzung Textjournalisten mit Handy-Kameras vor Ort, Blick-Online nahm gelegentlich ein Leserbild in einen Beitrag auf.
Konsequent auf Leserbilder setzte www.20Minuten.ch und produzierte eine Chronik der Ereignisse- und Nichtereignisse zwischen Kanzleischulhaus und Kanonengasse (Bildstrecke). Ob es ein oder mehrere Leser-Reporter waren, bleibt offen. Auf alle Fälle muss die Fachperson in die Szene integriert gewesen sein, denn die Bilder kommen von der anderen Seite, aus dem Käfig, den die Polizei für die Massenverhaftung errichtet hat.
Vielleicht steht der durchaus professionell arbeitenden Fotograf im kommenden Jahr auf der anderen Seite, sollte dann dennoch eine Nachdemo stattfinden, oder sie als ausstrebende Tradition vom neuen Kulturchef der Stadt als historisches Kulturgut wieder belebt werden. Die „Kompetenz“ über die Erfahrungen auf beiden Seiten wurde ihm bei der Wahl durch die nurmehr als Phantom in der Kultur präsente Stadtpräsidentin zugesichert.
Wer sich als Journalist, Fotograf oder Leser-Reporter an den Harrassen-Lauf ins Baselbiet begab, hatte keine reiche Beute. 500 Polizisten, ein Super-Puma und eine Pressebetreuung waren aufgeboten, um vermutlich weniger als 300 Jugendliche bei einer Bierwanderung zu begleiten. Bei kaltem und feuchtem Wetter war es mehr ein Show- als ein Kampftrinken. Ein Kollege witzelte: Vermutlich wird sich SF DRS für die Live Übertragung am 1. Mai 2011 für Münchenstein entscheiden, dort darf man im Heli mitfliegen und es hat Parkplätze. (P.S. Schreibt man Harrassen, Harrass oder Harass, – die Wikipedia klärt auf, auch mit Bildern.)
Das langweilige Wochenende bringt für den ernsthaften Bild-Journalismus ein Highlight. Le Temps überzeugt mit einer Ausgabe zum Wochenende mit dem Themenschwerpunkt „Le patient anglais„. Es ist eine Bestandesaufnahme der aktuellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation auf der Insel.
Aussergewöhnlich für Zürcher: Le Temps hat die Ausgabe nicht, wie an der Falkenstrasse üblich, mit Agenturbildern illustriert. Die Redaktion erteilte Eddy Mottaz den für die Presse hierzulande einmaligen Auftrag, die Textjournalisten zu begleiten und die Themen im Stil einer klassischen Illustrierten zu visualisieren. Die Aufnahmen sind zudem vollständig in einer Bildstrecke verfügbar.
Das Produkt überzeugt. Es dürfte die bis anhin beste Ausgabe einer Tageszeitung in der Schweiz für 2010 sein. Der Zeitpunkt ist nicht zufällig. Damit wirbt Le Temps am Salon du Livre et de la Presse in Genf an diesem Wochenende um Abonnent/innen. In Sachen Bildern ist das kleine, feine Segment gebildeter Menschen in der Romandie weit anspruchsvoller als das oben erwähnte Organ und honoriert die Arbeit der Bildredaktion.
Von der Westschweiz könnte man an der Falkenstrasse in Sachen Bildern viel lernen. Die NZZ vom 26. April 2010 bringt einen journalistisch hervorragenden Beitrag von René Vautravers über die Anerkennung der Rechte der Maori in der Verfassung von Neuseeland. Die Bildredaktion hat dazu ein Billig-Bild aus der Everett Collection, lizenziert durch Keystone, gefunden. Die touristisch gestellte Aufnahme stammt von 1905 und ist in der Fotogeschichte als Beispiel für Kolonialismus bekannt. Bei einer Art Schuhplattner fassen sich die Maori an den Füssen. Für wie gebildet hält die NZZ ihre Leser/innen?
Bemerkenswerte Reportagen finden sich an diesem Wochenende in DAS MAGAZIN über Kapstadt von Birgit Schmid und Nacho Alegre (Bilder). Ein guter Grund, um nach der WM das andere Südafrika zu bereisen. Harald Biskup geht mit Aufnahmen von Frank Peterschroeder im magazin zum Sonntagsblick dem sozialen Engagement von Schiedsrichter Urs Meier in Südafrika nach. In der gleichen Ausgabe porträtiert Jürg Waldmeier ein Urgestein der Schweizer Politik und Unternehmensgeschichte, Edgar Oehler. Dann folgen Milena Moser (Daniel Rhis) und ein Kreuzworträtsel. Angenehme Lektüre an einem verregneten Sonntag.
Sind alle People weg? Die Reportagen zum Schweizer Grand Prix der Volksmusik konnten teilweise vorproduziert werden. Man kann die Protagonisten vorsorglich in Reserve freistellen und dann in Layouts hineinschieben, wie im SonntagsBlick, Seite 38/39.
Der von Kurt-Emil Merki in sonntag.ch aufgedeckte und kommentierte Zuschauerschwund auf SF DRS hängt zweifellos damit zusammen, dass die People-Szene in der Deutschschweiz zu klein und zu ausgelaugt ist. Es gibt selten neue, interessante Menschen. Zudem dürfte durch die längst fällige Anpassung der Messmethoden der Sender SF DRS mit unangenehmen Wahrheiten aus der Vergangenheit konfrontiert werden. Es ist absehbar, dass auch die WEMF auf Probleme zusteuert. Ein beachtlicher Teil der Printprodukte wird bereits heute ungelesen entsorgt. Merki hat einen Dominostein vorerst leicht berührt.
Der Bildjournalismus betrachtet diese Entwicklung mit Sorge. Je weniger neue Gesichter erscheinen, um so weniger besteht die Chance für Aufträge für Printmedien. Umso weniger Bezahlt-Medien überleben auf dem Markt.
Die Zukunft der Pressefotografie und der Reportage in der Schweiz?
Wie jedes Jahr bietet die ewz.selection die Möglichkeit zu einem retrospektiven Quervergleich über das einheimische Schaffen und Publizieren der vergangenen Jahre und verspricht interessante Diskussionen und Ausblicke für die Zukunft.