Einige Züge der S-Bahn waren gestern Abend verspätet, und da man am Museum für Gestaltung in Zürich mit Vernissagen pünktlich um 19 Uhr beginnt, musste man sich in den bis auf alle Stehplätze belegten Vortragssaal einschleichen. Eine routinierte Vernissage-Besucherin im fortgeschrittenen Alter stellte lakonisch fest: „Man sieht hier Leute, die man im Kunsthaus Zürich (Zürcher Kunstgesellschaft) nie sieht. Dort gibt es allenfalls Zweifel-Chips und Château-Migraine.“
Als Partnerin der Ausstellung zum Lebenswerk von Charlotte Perriand bot die Ambassade de France en Suisse hervorragende Würste, Brote, Käse und Weine an. Doch viele Teilnehmer/innen konnten nur noch beim traditionellen Aufräumen des Buffets dabei sein, denn nach den Referaten der Kuratoren Arthur Rüegg und Andres Janser lockte die Ausstellung zum eigenen Entdecken.
Bereits mit dem Publikumserfolg über Michel Comte konnte das Team um Museumsdirektor Christian Brändle Kulturinteressierte an die ZHdK führen, das ein weit grösseres und besser dotiertes Haus am Pfauen meidet. Es ist nicht nur das bessere Catering, es ist ein weltoffeneres und intellektuelleres Programm, das interessante Menschen aus allen Generationen an die Ausstellungsstrasse 50 führt.
Die Ausstellung ist unbedingt sehenswert. Charlotte Perriand hat ein sehr reiches Werk hinterlassen, im Design, als Aktivistin vor dem Zweiten Weltkrieg und vor allem als Fotografin.
Die Präsentation ist nach Lebensphasen und Themen aufgebaut. Es sind einzelne Kammern, in die man sich einleben muss und darf. Ein Höhepunkt sind die im ursprünglichen Ausmass reproduzierten Ausstellungsbilder der Dreissiger Jahre (Tricolor). Die Vintage aus anderen Schaffensperioden sind grossartig, die digital aufbereiteten Prints diskussionwürdig.
Partner im Projekt sind das Musée Nicéphore Niépce in Chalon-sur-Sâone und das Petit Palais in Paris. Dort wird die Ausstellung nach dem Oktober dieses Jahres auch präsentiert. Die Ko-Prduzenten aus Frankreich nahmen an der Vernissage in Zürich teil und freuten sich über das rege Interesse eines anspruchsvollen Publikums.
An der Vernissage nahmen mehrere bekannte Kunsthändler/innen und Galerist/innen teil. In Datenbanken von Auktionshäusern ist Charlotte Perriand nur am Rande aufgeführt. Ausser einigen Möbeln unter dem Label Le Corbusier kam kaum etwas in den Handel. Als Fotografin sind ihre Werke wenig erforscht. Jacques Barsac arbeitet am Nachlass, und hat Grundlagen zur Ausstellung beigesteuert. Arthur Rüegg hat mehrfach über Perriand publiziert und zeigte sich erfreut über das Interesse an ihrem Lebenswerk.
In der Ausstellung finden sich Alben im Bezug auf digital aufgearbeitete und im grösseren Format an Wänden vermittelte Prints. Dazu braucht es Mut, denn Charlotte Perriand hätte nie gedacht, dass ihre intimen Bilder mit der Rolleiflex dereinst derart aufgeblasen die Zürcher Kulturszene entzücken könnten.
Charlotte Perriand: Designerin, Fotografin, Aktivistin
Museum für Gestaltung, Zürich, 16.7. – 24.10. 2010
P.S. No pictures please. Fotografieren ist wegen der Urheberrechte, vor allem für die Werke von Le Corbusier, verboten und wird auch strengstens überwacht. Die wesentlichsten Möbel aus dem Schaffen seines Ateliers findet man jedoch seit Jahrzehnten in mehreren Publikationen, u.a. von SKIRA und in zahllosen Kopien in Möbelmärkten weltweit.