Netzkameras (Web-, Überwachungs- und IP-Cams) fotografieren permanent was der Fall ist und speisen die Bilder live ins Netz. Das Web ist eine Kamera, eine riesige Kamera. Die Welt setzt sich selber ins Bild; vielleicht ganz im Sinne der etablierten Praktiken der Selbstbeobachtung zu Zwecken der Selbstoptimierung. Eigentlich aber sind die Netzkameras nicht nur die Augen des Web, sondern unsere eigenen – Körperextensionen. Denn mittels der Cams schauen wir durch das Web hindurch, zurück auf die reale Welt, auf uns. Hier geht es zur Website «Watching The World».
Die Hauptseite «Now» zeigt alle neun Sekunden neun neue Webcams von irgendwo auf der Welt
Diese enorme Bildmaschine fotografiert live und simultan rund um den Globus. Öffentlich zugänglich zeigen sich diese Bilder irgendwo im Netz, automatisch fotografiert, ohne das prüfende Auge eines Autors. Versteht man das Web als ein einzelnes persönliches Kamerasystem, so übernehmen die Netzkameras die eigentliche Aufgabe der Objektive. Der Screen wird zum Sucher und die Maus zum Auslöser.
Klickt man auf ein Bild, so kommt man in den Bereich «past hours» welches das Motiv zu vergangen Tageszeiten anzeigt
Lässt man aber Technik für sich arbeiten, so drückt ein Algorithmus den Knopf. Aber nimmt ein Algorithmus damit auch den Platz des Fotografen, des Autors ein? Beansprucht er Bildrechte? Ist er verantwortlich für die Inhalte? Oder sind dies die Betreiber der Cams, oder vielleicht gar die Techniker, welche die Cams installiert und somit den Bildausschnitt gewählt haben? Ein neuer Modus von Autorenschaft entsteht.
Im Jetzt ist die Welt heute fotografisch verfügbar. Das für die klassische Fotogeschichte konstitutive Theorem des «entscheidenden Augenblicks», welches immer an einen Ort gebunden ist, wird hier ad absurdum geführt: Wenn diese riesige Kamera ständig alles ablichtet, gibt es diesen einen entscheidenden Augenblick nicht mehr. Vielmehr dehnt sich dieser Augenblick räumlich um den ganzen Globus, er findet simultan statt.
Diesen räumlich ausgedehnten, globalen Augenblick zu manifestieren, auch darum geht es in diesem Projekt. Hierzu bedarf es der Technik, als Person ist man gefangen in Raum und Zeit.
Features
Tausende von Netcams sind in unserem System erfasst – täglich kommen neue hinzu. Rund eine halbe Million Bilder laden die Algorithmen vom Netz – pro Tag. Die Bilder werden von einer AI (Artificial Intelligence) analysiert und für 48 Stunden in Speichern archiviert, bevor sie von den nachfolgenden überschrieben werden.
Now Diese Hauptseite zeigt – zufällig ausgewählt – jeweils neun Livebilder. Alle neun Sekunden werden diese erneuert. Klickt man ein Bild an, kommt man in den Bereich «past hours» dieser Webcam.
Past hours Hier wird das Archiv dieser Cam angezeigt. Die Aufnahmen der letzten Stunden werden zusammengefügt und als Bilderblock dargestellt. Klickt man hier ein Bild an, so kommt man zum Bereich «similar pictures»
Similar pictures Es werden nun 9 von der AI als «ähnlich» klassifizierte Bilder – in Bezug zu dem vorhin ausgewählten Bild – angezeigt. Bei einem weiteren Klick wird wiederum das entsprechende Cam-Archiv aus «past hours» aufgerufen.
Weitere Motivbereiche betreffen verschiedene Motivfarben (color), Menschen (people), Tiere (animals) oder Verkehrsmittel (vehicles). Die AI analysiert und wählt aus (inklusive interessanter Fehler). Bei einem weiteren Klick wird wiederum das entsprechende Cam-Archiv (past hours) aufgerufen. Über den Button «now» kann das Spiel von Neuem beginnen.
Pattern: Die Cam-Bilder können je nach Browser und -Einstellungen unterschiedlich dargestellt werden. Die Cluster aus Einzelbildern entwickeln eine eigene Dynamik, es entstehen seltsame Muster, Bilderwolken, Farborgien, Ornamente etc. Vor unseren Augen beginnen die Einzelbilder ineinander zu fliessen, sie wechseln ihre Struktur, verändern ihre Semantik, entfalten ein Eigenleben – eine Matrix der Gegenwart. Bei jedem Aufruf zeigen sich die Cluster in einer anderen Form, die neu hinzugekommenen Live-Bilder fügen sich ein und verändern das Aussehen des Ganzen.
Daten: Die Live-Bilder sind, technisch gesehen, Daten. Und Daten – so lernen wir nicht nur aus der Informatik -– verweisen auf Daten. Gleichzeitig wissen wir – nicht nur aus der Philosophie -– das nichts in der Technik ist, was vorher nicht in der Magie war. Die Daten selber enthalten keine Informationen. Informationen entstehen erst mittels Intentionen von Betrachtern. Aus demselben Datensatz/Bilderberg – einer Straßenszene zum Beispiel – lassen sich etwa Informationen zum Verkehrsaufkommen, zum Wetter, zu forensischen Zwecken, zum Kleidungsstil der Passanten, zur Wirkung von Kameras im öffentlichen Raum etc. herauslesen.
Similar Pictures:
Hier wird anschaulich wie AI arbeitet. Ähnlichkeiten in Bildern zu definieren, ist so eine Sache. Auf welcher Ebene will man ansetzen, was soll verglichen werden und nach welchen Kriterien? Richtet man seinen Fokus auf den einen Punkt, vernachlässigt man die anderen und vice versa. Versucht man den Vorgang zu formalisieren, müssen alle Fragen beantwortet werden. Unser Weg ist es, AI für sich arbeiten zu lassen. Man formuliert einige wenige Kriterien und lässt die Maschinen dann selber weiter lernen. Learning by doing.
Radikal werden Ähnlichkeiten gesucht und gefunden, brisant Ebenen, Formen und Kriterien neu formuliert – und mittels internen Trainingsroutinen ständig weiter entwickelt. Die AI erarbeitet sich Bezüge und Systeme, welche verblüffen und dem Betrachter Fragen nach den eigenen Praktiken des Sehens stellen.
Summary
«Watching The World, The Encyclopedia Of the Now» ist ein Online-Projekt und nutzt hierfür ausschliesslich Open Data Quellen. Es fotografiert – rund um die Uhr und den Globus – mittels öffentlich zugänglicher Netzkameras die Welt simultan im Live-Modus, präsentiert diese Aufnahmen zeitgleich auf der Webseite in verschiedenen Modi und entwickelt mithilfe von AI eine neue Art des Sehens, eine neue Art der Fotografie. Die simultanen Ansichten der Welt können vom Betrachter kuratiert und in eigener Weise genutzt werden. Weitere Features werden laufend hinzugefügt.
Die Netzkameras schauen auf Öffentliches wie auf Privates. Dass etwa in den verschiedenen Kulturen dem Gut der Privatsphäre ein unterschiedlicher Stellenwert beigemessen wird, ist hierbei nur eine Erkenntnis. Was auf den Bildern zu sehen ist, bestimmt die Welt und liegt gleichzeitig im Auge des Betrachters. Das kann provozieren.
Interessiert? Wenn Sie an dem Projekt teilnehmen möchten, senden den Link zu Ihrer Netzkamera an info[at]kurtcaviezel.ch.
«Watching The World» wurde von Kurt Caviezel und der ZHAW, Zurich University of Applied Science, gemeinsam entwickelt.
Hier geht es zur Website «Watching The World».
Text: Kurt Caviezel, Bilder: Screenshots
Kontakt:
Kurt Caviezel, info[at]kurtcaviezel.ch
ZHAW, Zurich University of Applied Sciences
Projekt-Team: Fitim Abdullahu, Helmut Grabner