Urs Tillmanns, 18. März 2012, 07:00 Uhr

Diane Arbus im Fotomuseum Winterthur

Das Fotomuseum Winterthur widmet Diane Arbus eine Retrospektive, welche das Schaffen der amerikanischen Peoplefotografin in einem neuen Licht zeigt. Die Auswahl der 200 Bilder umfasst auch viel bisher ungesehenes Material, welches ihre Art, Aussenseiter der Gesellschaft schonungslos realistisch in Fotos darzustellen, eindrücklich dokumentiert.

Diane Arbus wurde vornehmlich durch ihre Fotoreportagen für namhafte US-Magazine bekannt sowie für ihre teils einfühlsamen, teils schonungslosen Porträts von Exzentrikern und Randfiguren der Gesellschaft, wie beispielsweise von Armen, Nudisten, Prostituierten, Transvestiten oder fehlgebildeten und geistig behinderten Personen, die sie sowohl in Sideshows wie im Alltagsleben fand. In ihrem Werk stellte Arbus vorurteilsfrei die Grenzen von Normalität und Ästhetik der Gesellschaft in Frage, womit sie die künstlerische Fotografie um einen psychologischen Aspekt erweiterte.

Diane Arbus (New York, 1923 – 1971) hat die Kunst der Fotografie revolutioniert. Mit ihren kühnen Sujets und ihrem fotografischen Zugang schuf sie ein Werk, das in seiner Unverfälschtheit und im unentwegten Zelebrieren der Dinge, so wie sie sind, oftmals schockiert. Ihre Gabe, die uns besonders vertraut erscheinenden Dinge in etwas Fremdes zu verwandeln und das Vertraute im Exotischen aufzudecken, erweitert unser eigenes Selbstverständnis.

Die meisten ihrer Sujets findet Arbus in New York – einer Stadt, die sie sowohl wie etwas Vertrautes als auch wie ein fremdes Land erkundet und dabei die Menschen fotografiert, denen sie in den 1950er und 1960er Jahren begegnet. Für sie ist die Fotografie ein Medium, das sich mit den Fakten anlegt. Ihre zeitgenössische Anthropologie – ihre Porträts von Paaren, Kindern, Jahrmarktartisten, Nudisten, Mittelklassefamilien, Transvestiten, Eiferern, Exzentrikern und Prominenten – stellt eine Allegorie der menschlichen Erfahrungen dar, eine Erkundung der Beziehung zwischen Schein und Identität, Einbildung und Glauben, Theater und Realität.

In dieser grossen Retrospektive zeigt das Fotomuseum Winterthur eine Auswahl von zweihundert Fotografien, die es ermöglichen, die Ursprünge, den Umfang und das Streben einer ganz originellen Kraft in der Fotografie kennenzulernen. Die Ausstellung enthält neben den berühmten Aufnahmen auch zahlreiche Bilder, die noch nie öffentlich ausgestellt wurden. Dabei zeugen selbst die frühesten Arbeiten von der unverwechselbaren Sensibilität der Künstlerin: in einem Gesichtsausdruck, einer Körperhaltung, dem Lichteinfall und der persönlichen Bedeutung von Objekten in einem Raum oder einer Landschaft.

Das Fotomuseum Winterthur hat sich entschlossen, die einzigartig ausdrucksstarken Bilder von Diane Arbus nur mit denjenigen Titeln beschriftet zu zeigen, die ihnen die Künstlerin selbst gegeben hat, und auf eine chronologische, thematische oder wissenschaftliche Ordnung zu verzichten. Damit alle Ausstellungsbesucher den Bildern so begegnen können, wie auch die Fotografin ihren Sujets begegnet ist: unmittelbar und ganz ohne Vorurteile.

Der letzte Raum der Ausstellung (Seminarraum, Grüzenstrasse 45) ist einer ausführlichen und kritischen Dokumentation von Diane Arbus’ Leben und Werk gewidmet. Das präsentierte Material kann aber trotz seiner reichhaltigen Fülle nicht alle Fragen beantworten. Oder in den Worten der Künstlerin selbst: «Eine Fotografie ist wie ein Geheimnis eines Geheimnisses. Je mehr es erzählt, umso weniger erfährt man.»

Die Biografie

Diane Arbus (alias Diane Nemerov) wurde am 14. März 1923 in New York geboren. Sie besuchte die Ethical Culture School und die Fieldston School. Im Alter von 18 Jahren heiratete sie Allan Arbus. Sie begann bereits Anfang der 1940er Jahre zu fotografieren und studierte 1954 bei Alexei Brodowitsch Fotografie. Aber erst während ihrer Studienzeit bei Lisette Model 1955 – 1957 widmete sie sich ernsthaft der Arbeit, durch die sie schliesslich berühmt wurde.

Ihre ersten veröffentlichten Aufnahmen erschienen 1960 in der Zeitschrift Esquire unter dem Titel «The Vertical Journey» [Die vertikale Reise]. Von da an arbeitete sie mit Unterbrechungen als freiberufliche Fotografin für eine Reihe von Magazinen wie z.B. Esquire, Harper’s Bazaar, Show, London Sunday Times, für die sie Auftragsporträts sowie fotografische Essays anfertigte, zu denen sie hin und wieder auch begleitende Artikel schrieb.

In den 1950er Jahren verwendete sie – wie die meisten ihrer Zeitgenossen – eine 35mm-Kamera. Ab 1962 begann sie dann, mit einer Rolleiflex 6×6 zu arbeiten. Sie erklärte diese Veränderung einmal damit, dass sie die Körnung satt habe und in ihren Bildern die echte Textur der Dinge erkunden wolle. Das 6×6-Format trug zur Verfeinerung ihres bestechend einfachen, formal klassischen Stils bei, der seither als ein Markenzeichen ihrer Arbeiten gilt.

Für Projekte zu «American Rites, Manners and Customs» [amerikanische Riten, Verhaltensweisen und Gebräuche] erhielt sie 1963 und 1966 Guggenheim-Stipendien und reiste in dieser Zeit mehrere Sommer lang durch die Vereinigten Staaten, wobei sie Wettbewerbe, Festivals, öffentliche und private Zusammenkünfte, Menschen in ihrer Berufsbekleidung, Hotellobbies, Umkleideräume und Wohnzimmer fotografierte, die sie als Teil „der bedeutenden Zeremonien unserer Gegenwart― sah. In ihrem Antrag bezeichnete sie diese «als unsere Kennzeichen und unsere Monumente―, und schrieb: „Ich möchte sie einfach bewahren, denn alles Zeremonielle und Eigentümliche und Triviale wird legendär sein.»

Den in diesen Jahren entstandenen Fotografien wurde grosse Aufmerksamkeit zuteil, als einige von ihnen zusammen mit den Arbeiten von zwei anderen Fotografen 1967 in der Ausstellung New Documents [Neue Dokumente] im Museum of Modern Art zu sehen waren. Wenngleich verschiedene Institutionen danach einige ihrer Werke für ihre ständigen Sammlungen erwarben, wurden die Fotografien der Künstlerin zu ihren Lebzeiten nur in zwei weiteren grossen Ausstellungen gezeigt. Beide Male handelte es sich dabei um Gruppenausstellungen.

Während den späten 1960er Jahren unterrichtete sie Fotografie an der Parsons School of Design, der Rhode Island School of Design und der Kunstakademie Cooper Union, und 1971 leitete sie eine Meisterklasse in Westbeth, der Künstlerkolonie in New York, in der sie damals lebte. In dieser Zeit arbeitete sie auch am Konzept und ersten Untersuchungen für die 1973 vom Museum of Modern Art unter dem Titel From the Picture Press [Aus der Bildpresse] gezeigte Ausstellung zu Pressefotografien.

1970 gab sie ein Portfolio mit zehn von ihr geprinteten, signierten und kommentierten Bildern heraus, der eine Reihe weiterer limitierter Ausgaben ihrer Arbeiten folgen sollten. Im Alter von 48 Jahren nahm sich Diane Arbus am 26. Juli 1971 das Leben. Im Jahr danach waren die zehn Aufnahmen ihres Portfolios auf der Biennale in Venedig zu sehen; als erste Arbeiten eines amerikanischen Fotografens überhaupt.

Während ihrer nur knapp fünfzehn Jahre dauernden Künstlerkarriere hat sie ein Werk geschaffen, dessen Stil und Inhalt ihr einen Platz unter den bedeutendsten und einflussreichsten Fotografen unserer Zeit sichert. Die vom Museum of Modern Art 1972 zusammengestellte grosse Retrospektive wurde – bevor sie durch die USA und Kanada tourte – von über einer Viertel Millionen Menschen in New York besucht. Die im Zusammenhang mit der Ausstellung herausgegebene Aperture-Monografie Diane Arbus wurde über 300,000 Mal verkauft. Die vom Museum of Modern Art in San Francisco 2003 zusammengestellte internationale Retrospektive Diane Arbus Revelations (Offenbarung Diane Arbus) wurde von 2003 bis 2006 in verschiedenen Museen der USA und Europa gezeigt. Mehrere grosse Ausstellungen, die sich ausschliesslich auf ihre Werke konzentrierten, waren in vielen Teilen der Welt zu sehen, so z.B. in Australien, Deutschland, Italien, Japan, den Niederlanden, Neuseeland, Spanien und dem Vereinigten Königreich.

(Pressetexte Fotomuseum Winterthur)

Die Ausstellung wurde vom Jeu de Paume, Paris, und vom Estate of Diane Arbus LLC, New York, konzipiert und in Zusammenarbeit mit dem Fotomuseum Winterthur, Martin-Gropius-Bau Berlin und Foam – Fotografiemuseum Amsterdam – organisiert. Hauptsponsor der Ausstellung ist die Swiss Re.

Die Ausstellung ist im Fotomuseum Winterthur noch bis 28. Mai 2012 zu sehen.

Weitere Informationen finden Sie hier. Beachten Sie auch das Beiprogramm und die Führungen zur Ausstellung.

Fotomuseum Winterthur
Grüzenstrasse 44 + 45
CH-8400 Winterthur
Tel. 052 234 10 60

Öffnungszeiten Ausstellungen:

Dienstag bis Sonntag 11-18 Uhr, Mittwoch 11-20 Uhr, Montag geschlossen

 

 

 

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