Nächsten Donnerstag, 22. Mai 2014, eröffnet in der Photobastei die Ausstellung von Cornelia Wilhelm «Shot by Both Sides.» Gleichzeitig ist im Benteli-Verlag das Buch von Cornelia Wilhelm erschienen, das die abenteuerliche Geschichte einer jungen Fotografin in New York erzählt und Bilder von Coney Island zeigt, wie es heute nicht mehr ist.
Der Bildband «Shot by Both Sides» von Cornelia Wilhelms zeigt uns Coney Island, dem einstigen Vergnügungsviertel der Arbeiterschicht von New York, wie es längst nicht mehr ist. Es erzählt die Geschichte einer 19-jährigen Fotografin, die in die amerikanische Metropole kommt und sich dort in die heruntergekommene Halbinsel südlich von Brooklyn fotografisch verliebt. Kein ungefährlicher Ort, denn seit der Blüte des Amusementparks, die Endes des Zweiten Weltkriegs allmählich zusammenbricht, kommt nur hierher, wer sich die teureren Badestrände nicht mehr leisten kann. Mit der Förderung des sozialen Wohnungsbaus in den 1960er Jahren und den scheusslichen Hochhäusern treffen sich am Strand von Coney Islands immer mehr Arbeitslose und Verarmte, die sich wohl am Strand tummeln und vergnügen, jedoch kaum zur Wiederbelebung der Rummelbuden und Achterbahnen beitragen – hingegen zu einer wachsenden Kriminalität. Ein Ort also, wo man vielleicht besser nicht hingehen sollte. Es sei denn, man ist eine 19-jährige blonde Europäerin, die eine wenig bekannte Seite von New York erleben und dort vor allem fotografieren will.
Das alles ist fast 30 Jahre her. Coney Island hat sich seither herausgeputzt, die Stadt versucht mit allen und grossen finanziellen Mitteln, den Südzipfel von Brooklyn wieder attraktiver zu gestalten. Cornelia Wilhelm hat damals wahrscheinlich die interessanteste Zeit vor diesem Umbruch erlebt, und so sind ihre Bilder heute nicht nur zu einer wertvollen Dokumentation geworden, sondern sie charakterisieren ein Coney Island und die dort lebenden Menschen, wie es längst in Vergessenheit geraten ist.
Es ist eine fantastische Reportage, die uns Cornelia Wilhelms in diesem Bildband präsentiert. Sie zeigt einerseits die morbiden Vergnügungsanlagen und das heruntergekommene Budenleben eines Coney Island, und es versinnbildlicht einen unbeugsamen Optimismus jener Leute, die versuchen dort ihr Geld zu verdienen und dem Vergnügungsstrand wieder zum einstigen Glanz zu verhelfen. Dazwischen jene Leute, die eben (damals) für einen Dollar nach Coney Island fuhren, um dort einen sorglosen Tag am Strand zu verbringen und die Erfrischung der dreckigen Lower Bay zu geniessen. Ein Eldorado für Cornelia Wilhelms, die hier mit ihrer Kamera voll auf ihre Rechnung kommt. Sie fotografiert, damals natürlich analog und schwarzweiss, die Leute, wie sie sich am Strand amüsieren, Budenbesitzer, die der jungen blonden Fotografin gerne Modell stehen oder die zerfallenen Anlagen der einstigen Blüte dieses Quartiers.
Coney Island ist heute nicht mehr, was es damals war, und so gewinnen Cornelia Wilhelms Bilder immer mehr an Bedeutung. Sie zeigen uns eine heruntergekommene Welt, aus der die Menschen versuchen das Beste zu machen oder einfach ihren Tag zu geniessen. Es sind Bilder, die uns nachdenklich stimmen. Wir glauben, die Gedanken jener Leute lesen zu können, zeigen Verständnis für ihre Sorgen und Probleme und können uns in ihr Leben umgeben von zerfallenen Vergnügungsanlagen einfühlen. Danke Cornelia, dass Du damals so abenteuerfreudig nach New York gefahren bist und auf Coney Islands diese eindrucksvollen Bilder für uns gemacht hast …
Urs Tillmanns
Buchbeschreibung des Verlages
«Shot by Both Sides» ist einerseits das Porträt einer Stadt aus der Perspektive einer lebenshungrigen jungen Frau, andererseits eine dokumentarische Collage von Menschen abseits des grossen Glamours. 1986 macht sich Cornelia Wilhelm zwanzigjährig auf nach New York. Mit ihrem Fotoapparat im Gepäck taucht sie ein in die raue Grossstadt. Während sie tagsüber bei Shootings für den Pirelli-Kalender assistiert, zieht sie nachts durch die Bars und Musikkneipen und fotografiert das Nachtleben, die Künstlerszene, aber auch den Alltag in der Bronx und in Harlem. Ihr Rückzugsort ist dabei Coney Island, wo sich in die Jahre gekommene Vergnügungsparks aneinanderreihen und die Schausteller der Buden mit ebenso rauem Charme die nächste Show, die nächste Attraktion anpreisen. Dort verbringt die Arbeiterklasse New Yorks ihre Wochenenden auf der Suche nach kleinen Momenten des Glücks, von der die Fotografien erzählen.
«Keepsakes» von Cornelia Wilhelm (anstelle eines Inhaltsverzeichnisses)
Ich – 19 Jahre, wasserstoffblond, sehr schlecht bis gar nicht englisch sprechend, Sängerin einer Frauenband, fotografiere leidenschaftlich gerne, bin im Januar 1985 um ca. 15 am JFK Airport in New York gelandet. Um bei einem Fotografen zu assistieren, um die erste Liebe meines Lebens zu vergessen.
Ausgespuckt in Tribeca aus dem Schlund der Subway, mit einem zentnerschweren, Kleider-machen-Leute-Koffer, meiner riesigen Fototasche, stand ich da orientierungslos, kulturgeschockt, unter einem Gerüst – überall Müll, Gestank, Bettler, Sirenengeheul –, der Meinung im schlimmsten Viertel New Yorks gelandet zu sein. Habe mich sofort zu Hause gefühlt.
Die Stelle bestand aus Kost und Logis. Die Kost war sehr gesund, er selber hat lieber getrunken als gegessen.
Die Logis bestand aus einer Matratze und einem Tuch als Wand. Meine Arbeit bestand darin: Filme ins Labor bringen, wieder abholen, im Fotolabor stundenlang Portraits von Männern mit Militärhelmen perfekt vergrössern, assistieren im Studio für den Pirelli Kalender, mit ihm durch die Kaffees und Strassen ziehen, um neue Modelle für den Kalender zu finden, aufgeklärt zu werden, dass ein brauner langer Ledermantel wie ich ihn getragen habe nicht cool ist, er hatte einen Schwarzen.
Mein Wohnzimmer war dann gleich über die Strasse in meiner Lieblingsbar. Die Barkeeper waren alle auch gleichzeitig Musiker. Am Mittwoch war der Tag des Franky Paradies. Er hat immer das gleiche Repertoire gesungen, Franky war aber so genial, dass man genau das von ihm gewollt hat und zwar bis ans Ende des Lebens. «On Brodway ,My girl, I’II be there.»
Wenn der voluminöse Kenny, der noch nie eine Freundin hatte, noch das Lied «I wanne hold you but i dont know how» gesungen hat, konnte es einfach nicht schöner sein.
Irgendwann habe ich meinen Koffer gepackt und bin bei Paul dem Saxophonisten und Künstler, der eine sehr noble Katze hatte, die die Toilette benutzte untergekommen, bis seine Frau aus Wien zurückkam. Bei meinem besten Freund Steve hatte es auch immer wieder ein Bett für mich. Er hat mich in die Welt des Baseball und des Jamaican Raggae eingeführt. Ich habe dann für die Mets mitgefiebert und lernte Raggae tanzen («step like in a basket»).
Danach habe ich ein Zimmer gefunden für 100 Dollar im Portorican-und Vietnam-Veteranen-Viertel oberhalb Harlem, bei Tony dem Buddhisten, Musiker, Kokain-Dealer und Verkäufer in einem Vitaminshop (100-Prozent-Pensum, das heisst sieben Tage die Woche). Da er Buddhist war, hat er keine Tiere getötet, dort habe ich dann viele neue Freunde gehabt, die Kakerlaken. Bei Tony habe ich etwa drei Monate gewohnt, war ganz nett, er hat mir Liebeslieder vorgesungen, die er eigens für mich komponiert hat, und mich mit Vitaminen vollgestopft.
Der einzige Nachteil war der lange Weg zu meinen Lieblingsbars, durch die Bronx und ganz Harlem. In dieser Zeit lernte ich Keith kennen, ein erfolgloser Fotograf, mit ihm habe ich mir die Nächte um die Ohren geschlagen, zum Beispiel bei Lucy, einer älteren Russin. Sie hatte eine sehr gute Musikbox, nur bin ich leider meinem Freund Jack Daniels untreu geworden.
Dann habe ich Al getroffen, eine beeindruckende Erscheinung mit einem grossen Bart, dunkelblauen Augen, ein schwarzes wallendes Cape und ein schwarzer Porsche. Bei Ihm konnte ich dann in einem Mini-Loft in Brooklyn wohnen, mit einer tollen Aussicht auf eine schöne Ziegelsteinmauer, mit antiker grosser Badewanne mitten im Raum, dort habe ich wunderbar gebadet und die Aussicht genossen. Was ich sonst noch gemacht habe: mit einem Minivelo in Manhattan mexikanisches Essen ausgetragen, so habe ich die Stadt bestens kennen gelernt, für die Yuppies Sandwichs gemacht. In Brunos Bäckerei habe ich Kaffee ausgeschenkt und serviert, das war wie in einem Fellini-Film. In dieser Backstube, war alles ganz neblig vom Mehl, schemenhaft sind die Bäcker aus dem Nichts aufgetaucht.
Und dann noch Coney Island, mein Lieblingsort in New York. Das war mein ganz persönlicher Rückzugsort, man konnte für einen Dollar ans Meer fahren. Ich und meine Kamera hatten im Zirkus der Seelen eine wunderbare Zeit erlebt.
Quelle: http://corneliawilhelmfoto.wordpress.com/about/
Die Bilder «Shot by Both Sides» von Cornelia Wilhelms werden vom 22. bis 30. Mai 2014 in der Photobastei Zürich ausgestellt.
Cornelia Wilhelm
«Shot by Both Sides». A Glimpse of New York 1986
mit Texten von Cornelia Wilhelm, Guido Magnaguagno, Reto Sorg
100 Seiten, 72 Schwarzweissbilder
31 x 23 cm, Hardcover, gebunden
ISBN 978-3-7-1788-8
Benteli-Verlag, Sulgen
CHF 48.– / EUR 38,00
Das Buch kann kann hier online bestellt werden.