Die Fotostiftung Schweiz in Winterthur zeigt derzeit eine Hommage an den Schweizer Rudy Burckhardt, der als 21- Jähriger zum ersten Mal nach New York kam und sofort entschied dort zu bleiben. Überwältigt von der Grösse dieser Metropole, der architektonischen Vielfalt und dem hektischen Treiben in den Strassen hielt er seine Eindrücke fotografisch und filmisch fest.
Rudy Burckhardt (1914–1999) hat sich in der alt eingesessenen Basler Patrizierfamilie, in die er 1914 hinein geboren wurde, nie richtig wohl gefühlt. Früh schon treibt er sich lieber im leicht anrüchigen Kleinbasel herum, als sich um eine gesellschaftliche Stellung im Basler «Daig» zu bemühen. Gleichzeitig beginnt er, sich für Fotografie zu interessieren, das neue Bildmedium, das um 1930 geradezu in der Luft liegt. Auch in Basel, wo die hehre Kunst ganz gross geschrieben wird, finden Ausstellungen der fotografischen Avantgarde statt, welche heftige Diskussionen auslösen. Für den jungen Burckhardt vielleicht mit ein Grund, sich mittels Fotografie einen neuen, von allen Traditionen und Familienzwängen befreiten Zugang zur Welt zu verschaffen. 1933 beginnt Burckhardt ein Medizinstudium in London, das er aber sofort wieder abbricht. Stattdessen unternimmt er ausgedehnte Spaziergänge und entdeckt die Grossstadt mit seiner Kamera. Später erinnert er sich: «…that was a revelation. My first big city with slums and things out of control. People asleep on the street. Smell of urine. It was great.» Doch nach einem Aufenthalt in Paris und dem kurzzeitigen Betrieb eines Fotoateliers in Basel kommt es zum Bruch. Burckhardt begegnet dem zehn Jahre älteren amerikanischen Tänzer, Dichter und späteren Tanzkritiker Edwin Denby (1903–1983) und folgt diesem 1935 nach New York. Im Gepäck hat er eine komfortable Erbschaft, die seinen Lebensunterhalt für die nächsten paar Jahre sichert. Für sich und Denby, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden wird, mietet er in Chelsea einen Loft. Zusammen tauchen sie in die lebendige Künstlerszene ein, zu der neben ihrem Nachbar Willem de Kooning etwa auch Paul Bowles und Orson Welles gehören.
Rudy Burckhardt «Flat Iron Building», New York, 1947/48. © The Estate of Rudy Burckhardt and Tibor de Nagy Gallery, New York
Rudy Burckhardt wird sich schnell bewusst, dass er nicht mehr in die Schweiz zurückkehren wird und er beginnt, die Metropole zu erkunden. Er ist völlig überwältigt vom geschäftigen Leben in den Strassen und den extremen Grössenverhältnissen zwischen Passanten und Wolkenkratzern. Erst nach einiger Zeit kann er seine intensiven Eindrücke festhalten – zuerst mit einer gebrauchten 16mm-Filmkamera und ab 1937 auch mit der 9×12 cm Plattenkamera, die er aus der Schweiz mitgebracht hat. Sein zurückhaltender Blick gilt vorerst den Gebäudedetails entlang den Gehsteigen sowie den zufällig angeordneten Schriftzügen auf Ladenfronten und Reklameschildern. Er ist fasziniert von banalen Objekten wie Abflussrohren und Hydranten und fotografiert sie wie anonyme Skulpturen, in gleichmässigem Licht, fast ohne räumliche Tiefe. Im Gegensatz zu vielen seiner Londoner Aufnahmen, die an die Schrägsichten von Alexander Rodtschenko erinnern, fotografiert er jetzt konsequent rechtwinklig zum Hintergrund, ohne sichtbaren Horizont, kontrolliert und streng komponiert, als sei die Stadt sein ganz privates Studio für Sachfotografie.
Rudy Burckhardt «A View from Brooklyn II», 1953 © The Estate of Rudy Burckhardt and Tibor de Nagy Gallery, New York
Bald widmet er sich auch den Menschen, die diese Grossstadtbühne bevölkern. Er hält sie ab 1939 mit der Leica in flüchtigen, aber spannungsvollen Momentaufnahmen fest. Dabei vermeidet er bewusst den sozialkritischen Blickwinkel vieler seiner Zeitgenossen und konzentriert sich auf die alltäglichen, immer gleichen Bewegungen der Menschen in der Masse, auf die «Fast-Kollisionen» der meist gesichtslosen Figuren auf der Strasse. Oft ist sein Blick nach unten gerichtet, wiederum jeglichen Horizont vermeidend, um nur die Füsse und Beine der Männer und Frauen ausschnitthaft und in unendlichen Variationen festzuhalten. Fotografie und Film scheinen sich zu überlagern, werden zur gemeinsamen, zweidimensionalen Projektionsfläche für Bewegungen, Formen in Licht und Schatten, für eine Art «ballet mécanique», das sicher auch von Edwin Denbys Interesse für den «Tanz» der gewöhnlichen Menschen auf der Strasse inspiriert war.
Rudy Burckhardt «Montgomery», Alabama (The Pekin Pool Room)», 1948 © The Estate of Rudy Burckhardt and Tibor de Nagy Gallery, New York
Bereits 1939 fasst Burckhardt seine ersten in New York entstandenen Fotografien in einem Album mit dem Titel «New York. N. Why?» zusammen. Im Jahr darauf komponiert er mit minimalistischen, aufs Wesentliche reduzierten Aufnahmen eines brach liegenden Gebiets im Stadtteil Queens ein weiteres mit dem Titel «An Afternoon in Astoria». Durch die Anordnung der Fotografien auf den Doppelseiten, die verschiedenen Bildformate und Sequenzen von Motiven erzeugt Burckhardt einen filmischen Rhythmus. Gleichzeitig fügt er intuitiv Filmsequenzen zu Filmskizzen – wie etwa im Stadtporträt «The Pursuit of Happiness» von 1940 – nach dem Motto: «Sometimes the way things come together by accident is just as good as when you think it out». Fotografie und Film scheinen in dieser äusserst kreativen Zeit fast austauschbar zu sein. Spätere Filme zeichnen sich zwar immer noch mit der für Burckhardt typischen Nähe zur alltäglichen, meist banalen Realität aus, aber sie sind bewusster komponiert. So entwirft «The Climate of New York» (1948) nicht nur ein weites Stadtpanorama, sondern es stellt mit seinem klar strukturierten Ablauf vom Morgen bis zum Abend quasi «einen Tag im Leben» einer Stadt dar.
Rudy Burckhardt «Chelseascape 3», New York, 1947 © The Estate of Rudy Burckhardt and Tibor de Nagy Gallery, New York
Nach über drei Jahren Dienst als Fotograf in der U.S. Army (1941- 44) kehrt Burckhardt nach New York zurück und entdeckt ab 1947 die Stadt aus ganz neuen Perspektiven. Einerseits porträtiert er Menschen in der Subway und andererseits begibt er sich auf Dächer hoch über den Strassen und fotografiert die grandiosen Dachlandschaften unter dem New Yorker Himmel, von dem Denby sagte, er sei «as magnificient as the sky of Venice». Genau zur der Zeit, als Burckhardt über Manhattan in die Ferne blickt, kommt der junge Robert Frank in New York an und beginnt, Amerika quasi von unten neu zu erforschen. Burckhardt seinerseits unternimmt Reisen in Europa und studiert 1950-51 an der Kunstakademie in Neapel. Neben der intensiven Beschäftigung mit Malerei begegnet er noch einmal als Fotograf einer Grossstadt, die ihn fasziniert. Diesmal sind es Neapels Menschen, vor allem die Kinder, denen er in den engen Gassen der Stadt begegnet und zu denen er dank seiner Kamera einen unmittelbaren Zugang findet.
Rudy Burckhardt «Hydrant (Sidewalk XI)», New York, 1939 © The Estate of Rudy Burckhardt and Tibor de Nagy Gallery, New York
Rudy Burckhardts fotografisches Hauptwerk ist in relativ kurzer Zeit in New York entstanden. Es lebt vom Kontrast zwischen einem filmischen Blick auf die Hektik des Lebens und dem forschenden Blick eines Stadtingenieurs, es oszilliert zwischen flaneurhafter Poesie und formaler Strenge. Es ist weder der dokumentarischen noch der sozialkritischen Fotografie, weder der Reportage- noch der Sachfotografie zuzuordnen. Vielmehr eröffnet es eine unvoreingenommene und höchst persönliche Sicht auf die moderne Grossstadt, eine Sicht, die auch heute noch überrascht und fasziniert.
Martin Gasser
Der Schwerpunkt der Ausstellung der Fotostiftung Schweiz liegt auf Rudy Burckhardts New Yorker Fotografien von den späten 1930er bis zu den frühen 1950er Jahren, ergänzt durch eine Auswahl von Fotografien, die nach 1945 auf Reisen in Europa entstanden sind. In einem separaten Raum im Zentrum der Ausstellung sind ausgewählte 16mm-Kurzfilme aus den Jahren 1937–59 zum Thema New York zu sehen.
Alle ausgestellten Fotografien sind von Rudy Burckhardt hergestellte Vintage- oder spätere Abzüge. Sie stammen aus dem Nachlass des Künstlers, von der Tibor de Nagy Gallery, die sein Werk seit 1995 vertritt, sowie aus der Sammlung der Freunde der Fotostiftung Schweiz und von Mayfish Fine Art Ltd., Zürich. Die digitalen Kopien der Filme, die in der Ausstellung projiziert werden, wurden von Jacob Burckhardt, dem Sohn des Künstlers, produziert.
Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Estate of Rudy Burckhardt und der Tibor de Nagy Gallery, New York. Kurator der Ausstellung ist Martin Gasser.
Zur Ausstellung ist eine illustrierte Publikation mit Beiträgen von Vincent Katz und Hannes Schüpbach erschienen.
Fotostiftung Schweiz
Grüzenstrasse 45
CH-8400 Winterthur
Tel. 052 234 10 30
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 11-18 Uhr, Mittwoch 11-20 Uhr, Montag geschlossen
Weitere Informationen unter www.fotostiftung.ch
http://www.nytimes.com/1999/08/04/arts/rudy-burckhardt-85-photographer-and-filmmaker-dies.html
Interessante Informationen auch über die Familienverhältnisse. Lukas Burckhardt-der Ex-Regierungsrat von Basel ist ein Bruder von Rudy.
Vor Jahren gabs in Basel-ich glaube es war im Kunstmuseum- eine Ausstellung mit Rudys Bildern.