Zwar liegen die beiden Fotografen Paul Strand und Meinrad Schade sowohl zeitlich als auch stilmässig weit auseinander, und doch gibt es eine Gemeinsamkeit: Heute Abend finden in Winterthur die Vernissagen zu deren Ausstellungen statt, die Retrospektive zum Werk von Paul Strand im Fotomuseum und die Ausstellung «Krieg ohne Krieg» von Meinrad Schade in der benachbarten Fotostiftung .
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Das Lebenswerk von Paul Strand
Paul Strand «Blind Woman», New York, 1916, Silbergelatine-Abzug, Colecciones Fundación Undación Mapfre © Estate of Paul Strand
Das Fotomuseum Winterthur präsentiert die erste grossangelegte europäische Retrospektive zum Werk von Paul Strand (1890–1976), einem der grossen Fotografen des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung zeigt die Vielseitigkeit seines Schaffens, von frühen Bemühungen, die Fotografie als eine moderne Kunstform zu etablieren, über ein starkes filmisches Interesse, bis hin zu den bedeutenden Fotobüchern der Nachkriegszeit. Zum Vorschein kommt auch die komplexe und widersprüchliche Persönlichkeit Strands: der sture Ästhet, der Sympathisant mit dem Kommunismus, der am Ländlichen interessierte Fotograf mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Fragen.
Paul Strand «Young Boy», Gondeville, Charente, France, 1951, Silbergelatine-Abzug, Philadelphia Museum of Art, The Paul Strand Collection © Estate of Paul Strand
Die Ausstellung beginnt mit den vorherrschenden Avantgardestilen der 1910er Jahre, die Strand rasch meisterte, und seinem wachsenden Interesse an städtischen Sujets, unter anderem einer Reihe innovativer Nahaufnahmen von Menschen in den Strassen von New York City. Strands Verständnis von der Moderne war von ausgiebigen Reisen geprägt. So fotografierte er von 1932 bis 1934 in Mexiko, was sein Engagement für linke Politik vertiefte. Von der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren stark getroffen, wandte sich Strand immer mehr dem Filmemachen als Werkzeug eines gesellschaftlichen Wandels zu. Filme wie Redes (1936) und Native Land (1942) zeugen von seinem grossen politischen Engagement.
Paul Strand «The Family, Luzzara (The Lusettis)», 1953, Silbergelatine-Abzug, Philadelphia Museum of Art, The Paul Strand Collection © Estate of Paul Strand
Nach 1945 widmete sich Strand hauptsächlich seinen Fotobüchern, in denen er komplexe Porträts von Menschen und Orten schuf. Die Ausstellung konzentriert sich auf drei seiner wichtigsten Publikationen, darunter sein Porträt des italienischen Dorfes Luzzara, das 1955 unter dem Titel Un Paese erschien. Indem er sich auf das Leben der einfachen Leute konzentrierte, bietet Strands Fotografie ein bewegendes Zeugnis von den demokratischen Qualitäten des Alltags.
Die Ausstellungwird organisiert vom Philadelphia Museum of Art in Zusammenarbeit mit der Fundación Mapfre. Es erscheint ein ausführlich illustrierter Katalog, herausgegeben vom Philadelphia Museum of Art und Yale University Press in Zusammenarbeit mit der Fundación Mapfre.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fotomuseum.ch
Meinrad Schade – Krieg ohne Krieg
Am 9. Mai, dem «Tag des Siegs», fotografieren sich die Besucher im «Saal des Kampfesruhms» zusammen mit der Ehrenwache der russischen Armee. Wolgograd (ehemals Stalingrad), Russische Föderation, 2009 © Meinrad Schade
Seit über zehn Jahren arbeitet Meinrad Schade (geboren 1968) an seinem Langzeitprojekt «Vor, neben und nach dem Krieg – Spurensuche an den Rändern der Konflikte». Er bereiste Regionen im heutigen Russland und in Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in Israel und im Westjordanland, um sich in engagierten Essays mit ehemaligen, noch schwelenden und vielleicht wieder ausbrechenden Konflikten zu befassen. Diesem Projekt ist die neue Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz gewidmet.
Meinrad Schade ist kein Kriegsfotograf im klassischen Sinn. konzentriert sich auf die Nebenschauplätze von Konflikten, auf Orte, die von den Medien übergangen oder wieder vergessen wurden. So reist er 1999 auch nicht direkt ins Kriegsgebiet im Kosovo, sondern fotografiert die Flüchtlinge, wie sie in der Schweiz ankommen und durchs Aufnahmeprozedere geschleust werden, und Kriegs- und Folteropfer, die in der Schweiz medizinisch betreut werden.
Studenten der Al-Istiqlal Universität im Westjordanland beim frühmorgendlichen Training. Istiqlal bedeutet Unabhängigkeit und soll die Studenten auf die verschiedenen Berufe im Sicherheitsbereich eines unabhängigen Staates vorbereiten. Jericho, Westjordanland, 2014 © Meinrad Schade
2003 beginnt Schade sein Langzeitprojekt mit einer weiteren Flüchtlingsgeschichte. Diesmal geht es um Menschen, die sich vor dem Tschetschenienkrieg nach Inguschetien in eine trügerische Sicherheit gebracht haben. 2007 und 2009 folgen Aufenthalte in Kiew und Wolgograd (dem ehemaligen Stalingrad), wo Schade Museen, Gedenkstätten und Denkmäler fotografiert, an denen der «Grosse Vaterländische Krieg», wie der Zweite Weltkrieg in der ehemaligen Sowjetunion genannt wird, erinnert wird. Im Jahr darauf besucht er das ehemalige Atomwaffentestgelände «Polygon Semipalatinsk» im Osten Kasachstans, auf dem während des Kalten Krieges über 500 Atomwaffentests durchgeführt wurden. Die katastrophalen Folgen sind heute noch in der trostlosen Steppenlandschaft und in vielen nicht minder trostlosen Gesichtern der direkt betroffenen Menschen ablesbar.
An der «War & Peace Show» in England spielen die sogenannten «Re-enactors» Szenen aus dem Zweiten Weltkrieg in amerikanischen Uniform nach. Die Akteuren geht es darum, die Geschichte für andere erfahrbar zu machen und so das Bewusstsein für die Schrecken des Krieges zu schärfen. «War & Peace Show», Beltring, Kent, England, 2009 © Meinrad Schade
2011 und 2012 fotografiert er im abgelegenen Nagorny-Karabach, einem Land, das sich nach dem Zerfall der Sowjetunion mit Waffengewalt von Aserbaidschan abspaltete. Die Folgen waren auch hier für Hunderttausende von Menschen eine existenzielle Katastrophe, nicht zuletzt für die, die sich selbst «befreit» hatten. Sie leben zwar heute in einer Art eigenem Staat, doch wird dieser international von niemandem anerkannt. Isoliert und umstritten – ein nächster Krieg scheint unausweichlich zu sein. Dasselbe gilt für die Situation in Israel und die palästinensischen Gebiete, wo Schade seit 2013 sein Projekt weiterführt.
Meinrad Schade versucht sich in alle diese Krisensituationen einzufühlen, hört zu, beobachtet, bezieht einen Standpunkt und entwickelt eine Perspektive – immer eine sehr persönliche. Unbestechlich und präzise zeigt er die Spuren der Konflikte, die sich in den Landschaften, Städten und Dörfern eingeschrieben haben.
Martin Gasser / www.fotostiftung.ch
Parallel zur Ausstellung erscheint im Verlag Scheidegger & Spiess (Zürich) das von Nadine Olonetzky herausgegebene Buch Krieg ohne Krieg – Fotografien aus der ehemaligen Sowjetunion mit Texten von Nadine Olonetzky, Fred Ritchin, Michail Schischkin und Daniel Wechlin. Hardback, ca. 270 Seiten, 163 Illustrationen, vierfarbig, im Shop CHF 50.00 (im Buchhandel CHF 59.00).
Weitere Informationen finden Sie unter www.fotostiftung.ch
Beachten Sie das Begleitprogramm zur Ausstellung:
• Sonntag, 15. März 2015, 11.30 Uhr, Spezialführung: Ausstellungsrundgang mit dem Fotografen Meinrad Schade und dem Schriftsteller Michail Schischkin.
• Mittwoch, 29. April 2015, 19 Uhr, Podiumsgespräch «Der Fall des Sowjetimperiums und seine Auswirkungen auf die Gegenwart» mit Sonja Margolina (Publizistin, Berlin) und Daniel Wechlin (NZZ-Russlandkorrespondent, Moskau), moderiert von Julia Richers (Professorin für osteuropäische Geschichte, Universität Bern).
• Dienstag, 5. Mai 2015, 19 Uhr, vfg Bildersoiree in der Ausstellung «Meinrad Schade. Krieg ohne Krieg». Ausstellungsrundgang und Gespräch mit dem Fotografen Meinrad Schade, dem Kurator Martin Gasser sowie der Herausgeberin der Begleitpublikation Nadine Olonetzky. Eintritt frei
Details zum Begleitprogramm finden Sie hier.
Die Vernissagen finden heute, 6. März 2015, um 18 Uhr statt.
Beide Ausstellungen sind bis 17. Mai 2015 in Winterthur zu sehen.
Weitere Ausstellungsdaten und Fotoevents finden Sie laufend aktualisiert auf www.fotoagenda.ch