Das Verzasca Foto Festival in Sonogno hat begonnen. Noch bis Sonntag dauert das offizielle Programm mit Workshops, Vernissagen und Künstlergesprächen. Danach sind die Bilder noch bis 3. Oktober 2015 zu sehen. Die Reise lohnt sich, einmal wegen der guten Bildauswahl, dann aber auch wegen der einzigartigen Bildpräsentation im schmucken Tessinerdorf.
«Einen Kulturbeitrag ins Verzascatal bringen …» war die Devise der beiden Initianten Alfio Tommasini und Rico Baumann im Interview mit Fotointern.ch. Das haben sie wahrlich getan, und die Art und Weise, wie die Bilder in Sonogno präsentiert werden, ist ebenso einzigartig, wie der schmucke Rahmen des Tessinerdorfes. Dieses ist nicht nur Ausstellungsort, sondern auch selbst Motiv …
Wir haben schon mal einen Rundgang gemacht und zeigen hier die 15 Arbeiten, die an den Steinfassaden der alten Tessinerhäuser zu sehen sind. Die Reihenfolge der folgenden Arbeiten ist frei gewählt und ohne jegliche Wertung.
Iveta Vaivode, Lettland, ist während der letzten fünf Jahre immer wieder in ihr Heimatdorf Pilcene in Ostlettland zurückgekehrt, um die Menschen zu dokumentieren, die ihre Vorfahren kannten. Dabei sind in ihr viele Jugenderinnerungen geweckt worden.
Anne Golaz, Schweiz, lädt mit ihrer Arbeit «Alisa da Metsästä» die Betrachter ein, ein Stück finnische Kultur kennenzulernen. Die Arbeit ist teilweise autobiografisch, dann aber auch ebenso fiktiv wie dokumentarisch. Einerseits verbinden die Bilder den Betrachter mit der Natur, anderseits entführen sie in eine Traumwelt.
Kollektiv Garapa, Brasilien. Die Bilder spannen einen Bogen zwischen Existenz und Vergangenheit von Gebäuden und ihren Bewohnern, die vor vier Jahren in Saõ Paulo einen Umsiedlungsbefehl erhielten und ihren Lebensraum verlassen mussten.
Ciril Jazbec, Slowenien, verfolgt mit seiner Serie «on thin ice» Fischer und Jäger in Grönland, welche die Folgen des Klimawandels unmittelbar miterleben. Auf Grund steigender Temperaturen wird nicht ihr Eis immer dünner sondern ebenso die Erträge immer magerer.
Flavia Leuenberger, Schweiz, fotografiert Menschen, die wie sie im sich entvölkernden Muggiotal leben: Sie wollen weg vom Chaos der Grossstadt und abgelegen mit ihrer Naturverbundenheit leben. Es sind junge Leute, die mit unterschiedlichen Motivationen diesen neuen Lebensraum für sich entdecken.
Aaron Huey, USA; hat in den letzten acht Jahren das Leben im «Pine Rich Indian Reservation Camp» in South Dakota dokumentiert und im August 2012 darüber einen Bildbericht im Nation Geographic Magazine veröffentlichen können. Er will damit den dortigen Indianern zu einer besser Akzeptanz und das Durchsetzen ihrer Rechte verhelfen.
Musuk Nolte, Peru, setzt sich mit ihren Bildern für den Kampf der Ashaninka Eingeborenen gegen das Projekt eines riesigen Wasserkraftwerks im Ene-Fluss ein, welches deren Lebensraum im Amazonas-Dschungel massiv beeinträchtigen würde.
Delphine Schacher, Schweiz, widmet sich in ihren Bildern dem Leben eines Weinbauernehepaars im Wallis, das auf 890 Meter über Meer ihr Land nach biodynamischen Grundsätzen anbaut. Die Bilder sind ein Spiel der Objekte, des Lichtes und der Eindrücke, welche auf die Fotografin bei ihren Besuchen einwirkten.
Simon Tanner, Schweiz, befasst sich in seiner Reportage mit den gesellschaftlichen Folgen des Rohstoffbooms in Westaustralien. Insbesondere der Eisenerzabbau wir hier massiv gefördert, vermutet man doch in dieser dünn besiedelten Region noch riesige Reserven. Simon Tanner hat beeindruckende Porträts und Landschaftsbilder zu diesem Thema geschaffen.
Sandra Calligaro, Frankreich, hat ihre Bildserie «Afghan Dream» während drei Jahren realisiert, um den Einfluss der internationalen Koalitionen zu dokumentieren. Es geht ihr darum, das Leben der Kaboulis realistisch darzustellen und nicht so, wie man es aus der Sensationspresse kennt.
Kostas Maros, Schweiz, zeigt in seinen Bildern aus der Mongolei das Leben der Obdachlosen in der Hauptstadt Ulan Bataar, die in Kanalsystemen leben, um die winterliche Kälte zu überstehen und in ihrer ausweglosen Situation übermässig viel Wodka konsumieren. Werden die Versprechen der Regierung diesen Menschen wirklich zu einem positiveren Leben verhelfen?
Juliette Russbach, Südafrika, bringt in ihren Bildern das Leben von immigrierten Europäern in Südafrika zum Ausdruck, die heute weder Europäer noch Afrikaner sind, sondern in ihrem Mikrokosmos eigene Lebensphilosophien pflegen.
Alessandra Meniconzi, Schweiz, will mit ihrem Bild die dramatische Situation der Gletscherschwunde hinweisen, welche durch die Klimaerwärmung ausgelöst wurden. Der Rhonegletscher ist in den letzten 130 Jahren um über 1260 Meter zurückgegangen. Damit sind nicht nur die Wasserreserven der Schweiz bedroht, sondern das gesamte hydrologische System Europas.
Lara Gasparotto, Belgien, bringt in ihren Bildern die Schönheit des menschlichen Körpers mit natürlichen Landschaften in Verbindung. Die Formen verschmelzen im Bild zu einer harmonischen Einheit.
TerraProject, Italien, ist ein Rundgang durch Brasilien, Dubai, Äthiopien, Indonesien, die Philippinen, Madagaskar und die Ukraine um zu dokumentieren, was oft als neue Form des Neokolonialismus bezeichnet wird und andere als Entwicklungschance sehen: Landenteignung für Investitionen mit industrialisierten Anbaumethoden. Fünf Fotografen haben sich im Projekt «Land Inc.» mit diesem Thema befasst.
Abends fand im Grotto Redorta ein spannendes Gespräch «am runden Tisch» statt, in welchem der Journalist Fredy Franzoni den Magnum-Fotografen Patrick Zachmann und den Bellinzoner Fotografen Alfonso Zirpoli zu ihren Philosophien und Bildern befragte. Ein sehr spannendes und interessantes Gespräch, das mit eindrucksvollen Projektionen untermalt wurde.
Nachtrag Samstag, 5. September 2015:
Vernissage der Künstlerresidenz im Verzascatal
Erstmals dieses Jahr wurden zwei Fotografen auserwählt, welche sich an dem Projekt der Künstlerresidenz im Verzascatal beteiligen konnten. Dieses beinhaltet einen einmonatigen Aufenthalt in Sonogno, der dazu dient ein fotografisches Projekt über das Tal mit absoluter künstlerischer Freiheit zu realisieren. Das Projekt ist in Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung von Pro Helvetia entstanden.
Gestern wurden die Arbeiten im Rahmen einer feierlichen Vernissage öffentlich präsentiert. Die beiden Gewinner sind Karen Paulina Biswell und Christian Lutz.
Karen Paulina Biswell ist Kolumbianerin und lebt heute in Paris. Ihre Arbeit ist weniger eine Gesellschaftsreportage als eher eine Autobiographie, indem sie sich in ihrer Arbeit mit menschlichen Gefühlen befasst und in ihren Bildern mit aussagestarken Inserts Verwundbarkeit, Kraft, Sexualität und Authentizität zum Ausdruck bringt.
Christian Lutz ist als Kunstfotograf mit vielen Preisen ausgezeichnet worden und publizierte mehrere Arbeiten zu gesellschaftskritischen Themen. Auch hat er an verschiedenen internationalen Ausstellungen teilgenommen. In seinen Bildern zum Verzascatal kommen das Leben der Bewohner und die Eigenheiten des Tals zum Ausdruck.
Die Ausstellung der Künstlerresidenzarbeiten sind in der «Tecc da er Giacomina» ebenfalls bis 3. Oktober 2015 zu sehen.
Mateusz Sarello aus Polen gewann den Wettbewerb «Nera di Verzasca»
Etwas am Rande der Ausstellung beim Spielplatz wurden die Gewinnerbilder des Wettbewerbs «Nera di Verzasca» ausgestellt, eine Fotogeschichte in drei Bildern, die von einer internationalen Jury als beste Arbeit auserkoren wurde.
«’Swell’ ıst die Geschichte eines Neuanfangs nach einer unverarbeiteten Trennung. Über Erinnerungen, die man nicht vergessen kann. Zuerst sollte daraus eine Dokumentation über das Baltische Meer werden, doch der Plan wurde schliesslich aufgegeben. Hingegen habe ich die Orte auf einer Karte angezeichnet, die meine Freundin und ich gemeinsam besucht hatten, bevor wir uns trennten. Unsere Trennung hat mich verändert, und ich war nicht mehr in der Lage mein ursprüngliches Projekt zu realisieren. Ich ging zurück an jene Orte, die wir zusammen erlebt hatten – und hier endet das Projekt uns eine persönliche Geschichte beginnt …» Mateusz Sarello
Nachtrag Sonntag, 6. September 2015:
Die Vernissage – Höhepunkt des Verzasca Foto Festival
Gestern, Samstagabend, 5. September 2015, wurde als Höhepunkt des Verzasca Foto Festivals auf der Piazza in Sonogno die Arbeiten aller ausstellenden Fotografen gezeigt. Diese offizielle Vernissage begann um 17 Uhr mit einem Unterhaltungsprogramm und Gelegenheiten, die anwesenden Fotografen zu treffen und sich mit ihnen über ihre Werke auszutauschen. Danach konnte man sich mit einer typischen Tessiner Polenta oder einem Bergkäseteller sowie weiteren gastronomischen Besonderheiten der Region verköstigen.
Als allmählich die Blaue Stunde über Sonogno hereinzog, wartete das zahlreiche Publikum gespannt auf die Abendprojektion an die Fassade des Ortsmuseums – übrigens recht sehenswert, wenn man sich für die Geschichte eines einst abgelegenen Bergtals und seiner Bevölkerung interessiert.
Rund 300 Personen wohnten der Projektion aller Künstlerarbeiten bei, die zugleich als Vernissage den Höhepunkt des Fotofestivals darstellte. Die Bilder sind noch bis 3. Oktober 2015 an den Fassaden in Sonogno zu sehen
Mit der Projektion aller 15 Arbeiten, welche die Besucher bisher nur von den ausgestellten Einzelbilder her kannten, konnte man viele der Arbeiten und die Beweggründe der Künstler dieses oder jenes Thema fotografisch zu bearbeiten, besser verstehen. Dabei wurden viele Topbilder projiziert, die es ebenso verdient hätten an den Fassaden Sonognos gezeigt zu werden. Auflockernd waren auch die beiden Making-of’s der Residenzkünstler Karen Paulina Biswell und Christian Lutz, welche sie bei ihrer nicht einfachen Aufgabe zeigen, die Einheimischen zu ihrer Statisten- und Modelrolle zu überzeugen.
Das Foto Festival Verzasca hat dieses Jahr zum zweiten Mal seine Bewährungsprobe bestanden und hat nicht nur Fotografen aus der Region angezogen, sondern auch viele aus dem Ausland, ja sogar von fernen Kontinenten. «Foto Festival Verzasca» dürfte damit zu einem stehenden Begriff der nationalen und internationalen geworden sein, und man kann gespannt auf das Foto Festival Verzasca 2016 blicken.
Noch etwas für die Besucher des Festival Verzasca
Die Bilder, die noch bis 3. Oktober 2015 in Sonogno zu sehen sind, werden als Einzelbilder der Künstler präsentiert und nicht etwa dessen gesamte Themenarbeit. Diese ist eventuell auf den entsprechenden Webseiten zu finden.
Weitere Informationen über das Verzasca Foto Festival finden Sie unter www.verzascafoto.com
oder in unserem Artikel «Fotofestival im Verzasca-Tal: Vom 3. September bis 3. Oktober 2015» (31.08.2015).
Text und Bilder: Urs Tillmanns
fotografiert mit Samsung NX1