Die aktuelle Sonderausstellung im Nationalmuseum Zürich zeigt Fotografien arbeitender Menschen in der Schweiz. Optische Darstellungen der Welten des Berufsalltags machen den Wandel der Lohnarbeit und der Gesellschaft im Zeitraum von rund 150 Jahren in eindrucksvoller Weise sichtbar.
Die erstmals präsentierten Fotografien zum Thema «Arbeit» aus dem umfassenden historischen Bestand des Nationalmuseums Zürich sind keine Sensationsbilder oder besonders spektakuläre Schnappschüsse; nichtsdestotrotz stellen sie ausgesprochen spannende Zeitzeugnisse dar, die in visueller Form vielschichtig kommunizieren.
Die zum Stillstand gebrachten Wirklichkeiten aus dem Arbeitsalltag laden zum genauen Beschauen und zum Verweilen ein: Menschen in Arbeitsräumen mitsamt Mobiliar, in Fabrikhallen oder auf dem offenen Feld tätig, die benutzten Werkzeuge und Maschinen, die Handgriffe und Gesten, die Kleidungen und Frisuren erzählen von den jeweiligen Zeiten, dem Zeitgeist, den Absichten und Umständen der Entstehung fotografischer Bilder der Arbeitswelt.
Das älteste Bild der Ausstellung ist eine Daguerreotypie von 1845, welche die Belegschaft der Uhrenfabrik Montadon in Saint-Imier zeigt. Foto: Jean Masmejean © Schweizerisches Nationalmuseum
Eine Daguerreotypie, ein Gruppenporträt von zehn Männern, im Jahr 1845, also nur gerade sechs Jahre nach der Erfindung dieses ersten kommerziell nutzbaren fotografischen Verfahrens, entstanden, ist die älteste Fotografie aus dem reichen Bilderbogen der Ausstellung. Gezeigt wird die Belegschaft der Uhrenfabrik Montadon in Saint-Imier. Zum Unikat gesellen sich in dem Raum zum Thema «Technik und Verwendung von Fotografien» weitere Originale: Firmenalben mit kleinformatigen Albumin-Abzügen der Angestellten, eine Tafel mit dem gesamten Betriebspersonal eines Gaswerks, Albumseiten mit Gelatinesilberabzügen aus privaten Beständen, Postkarten mit Handwerkern, Szenen aus dem Bauernleben beim Pflügen und Heuen, eine Bäuerin, die gerade ihre Ziege melkt, Arbeiter im Jungfrautunnel.
Mechanische Ziegelei Allschwil, 1898, Foto: Eduard Müller. © Schweizerisches Nationalmuseum
Die Originaldokumente belegen das Bedürfnis der Selbstdarstellung über die visuelle Kommunikation des Mediums Fotografie, mit deren Erfindung vor rund 175 Jahren für Firmen, Klein- und Grossunternehmer, Vereine, Hotels und Privatpersonen ungeahnte Möglichkeiten eröffnet worden waren. Die Direktoren liessen ihre Zimmer mit einem Gruppenporträt der gesamten Belegschaft gerahmt hinter Glas schmücken, stolze Bauunternehmer und Besitzer industrieller Betriebe konnten den Kunden oder Besuchern die Aktivitäten ihres Unternehmens auf Fotografien zeigen. Auch Feuerwehrmänner oder Mitglieder von Sportvereinen nutzten die Bilder als Schmuck ihrer Lokalitäten. Der gesellschaftliche Nutzen zur Integration nach innen und zur Repräsentation nach aussen war enorm.
Ursprünglich Carte-de-visites, werden drei Berufsbilder plakatgross präsentiert: Metzgermeister, Fotograf und Zimmermädchen. © Schweizerisches Nationalmuseum
Im grössten Raum der Ausstellung wird ein chronologischer Rundgang mit unterschiedlichsten Perspektiven der Arbeit gezeigt. Der grossformatigen Trilogie «Metzgermeister», «Fotograf» und «Zimmermädchen», allesamt inszenierte Fotografien aus dem Jahr 1865, folgen Bilder von Arbeitern in Fabriken und von draussen auf freiem Feld. Schweisser, Erdbeerpflückerinnen, operierende Ärzte, Näherinnen, Brückenbauer, Apotheker, Pflegefachfrauen, Angestellte erster Grossraumbüros, Piloten, Fotolaborantinnen, Weberinnen und unzählige weitere Menschen sind bei ihrer spezifischen Tätigkeit zu sehen.
Der Karosseriebau um 1940. Foto: Theo Ballmer. © Schweizerisches Nationalmuseum
Die Werkschau «Arbeit. Fotografien 1860–2015» wurde mehrheitlich mit Exponaten aus dem thematischen Teilbestand der umfassenden Sammlung von über 400’000 historischen Fotografien des Landesmuseums bestückt. Viele Bilder stammen von anonymen Fotografen. Bekannte Aufnahmen der berühmten Schweizer Autorenfotografen wie beispielsweise Paul Senn, Hans Staub oder Hans Finsler, die sich eingehend mit dem Thema «Arbeit» befasst haben, sind in der Ausstellung nicht anzutreffen. Einzig ein paar Bilder von Jakob Tuggener werden gezeigt. Zu entdecken gilt es die herausragenden Fotografien des Baslers Theo Ballmer, der von 1930 bis 1965 Leiter der Fachklasse Schrift, Grafik und Fotografie und als Professor an der Kunstgewerbeschule Basel tätig war.
Einzelne Themen werden mit eingehenden Erklärungen auf Schrägpulten präsentiert
Themen wie die Arbeitsmigration am Beispiel italienischer Saisonniers, der Kampf um Arbeit, das erste eidgenössische Fabrikgesetz, das sich wandelnde Verhältnis von Meister und Schüler, geschlechtsspezifische Aspekte der Arbeit, insbesondere während der Kriegsjahre, drängen sich auf. Schräge, breitformatige Leuchtpulte laden zur Vertiefung solcher und weiterer, kritischer Facetten der Arbeitswelten ein.
Bauarbeiten 1949 an der Kathedrale St. Pierre und «Analytical Work» bei Sandoz USA, ca. 1955 (ca.), East Hanover (USA), Foto: Lewis-Man Studio. © Schweizerisches Nationalmuseum
Viele dieser Berufsbilder sind auch aus der Notlage des Zweiten Weltkriegs entstanden, als viele männliche Arbeiten unter die Fahne gestellt wurden und ihre Frauen wichtige Rollen im Betrieb oder in der Rüstungsindustrie übernehmen mussten. Oder Bilder aus dem kriegsvorsorglichen Landanbau, die insbesondere Frauen, Kinder und ältere Männer in städtischer Umgebung bei ihrer harten Feldarbeit zeigen. Als besondere Trouvaillen können die Reportagen anonymer Pressefotografen der 1940er bis 50er Jahre aus den Agenturbeständen von «Presse Diffusion Lausanne» (PDL) und «Actualités Suisse Lausanne» (ASL) gelten.
Agenturbilder vergessener oder veränderter Berufe als sehenswerte Diaschau. Hier die ersten Stewardessen der Swissair
Allesamt mit Mittelformatkameras aufgenommen, lassen sich diese in einem separaten Raum in digitalisierter Form als etwa 20minütige Diashow geniessen: Heuen im Sommer, Fischen auf dem Zürichsee, ein Appenzeller Weissküfer, die Herstellung von Zigaretten – noch von Hand gedreht, ein Briefträger auf seinem Pferd mitten im verschneiten Winterwald, eine Zwiebelernte, die Schulung angehender Stewardessen, die Züchtung von Champignons in ehemaligen Steinbrüchen und verlassenen Tunnels, die Herstellung von Espadrilles; alle Schwarzweissfotografien werden zuerst im quadratischen Originalformat und anschliessend als Auswahl mit Bildausschnitten im Layout der Zeitschrift präsentiert.
Vier Bilderwolken zeigen verschwundene Berufe, hier typische Beispiele aus der früheren Textilbranche
Wie sehr sich die Berufe im Wandel der Schweiz vom Produktionsland zur Dienstleistungsnation gewandelt haben, sieht man den Bildern verschwundener Berufe an. Diese sind in fünf Bildwolken an einer Wand dargestellt und zeigen Arbeitende aus der Textilindustrie, aus dem Maschinenbau oder aus dem grafischen und fotografischen Gewerbe. Es sind gerade diese Bilder, welche die Ausstellung besonders interessant und sehenswert machen.
Wenn der Kurator der Fotoschau, der Ethnologe Dario Donati, auf die doppelte Mitteilung von Fotografie hinweist, das Abgebildete, Sichtbare einerseits sowie den der Aufnahme einverleibte Gestaltungswille der Person hinter der Kamera andererseits, so sollte zur Präzisierung vielleicht sogar von einer dreifachen Mitteilung gesprochen werden. Denn wie in kaum einem anderen Medium gesellt sich in der Fotografie zum «Was» und zum «Wie» das «Womit». Die jeweils genutzte Kameratechnologie, sei es eine sperrige Studiokamera aus Edelholz, eine zweiäugige Mittelformat-, eine einäugige Spiegelreflexkamera oder kleine digitale Sucherkamera stellt einen entscheidenden Faktor bezüglich der Formgebung und spezifische Qualität der fotografischen Repräsentationen dar.
Frauenberufe im Wandel der Zeit, spannend präsentiert, von der Schuhmacherin zur Verkehrspolizistin. Insert: Die erste Schuhmacherin der Schweiz, 1944, Lachen (SZ), Foto: PDL
Viele historische Fotografien erlauben auch ohne Lesen der Bildlegenden eine zeitliche Zuordnung zum entsprechenden Jahrzehnt. Eine Verkehrspolizistin, die in den 1970er Jahren angesichts des Mangels von männlichem Personal den Verkehr regelt, trägt einen Minirock – ganz bestimmt zur vollen Zufriedenheit der damaligen Verkehrsteilnehmer. Historische und auch überholte Berufsbilder, Berufsalltage und Rollenverständnisse bilden den grösstmöglichen Kontrast zum modernsten Berufsverständnis unserer Zeit. Ein Selfie, das der Deckenmonteur Roger Hagen auf der Baustelle des Erweiterungsbaus des Museums im Jahr 2015 von sich gemacht hat, zählt zu den aktuellsten Exponaten wie die vier Arbeiten zeitgenössischer Fotografen ebenso; in einem dritten, separaten Raum zeigen Barbara Davatz, Jean-Luc Cramatte, Giorgio von Arb und Andri Pol ausgewählte Werke.
Die Berufsdarstellungen reichen bis in die Gegenwart, beispielsweise mit der Bildserie «Inside CERN» von Andri Pol © Stiftung für Fotografie, Winterthur
Eltern und Grosseltern, die die Ausstellung mit ihren Kindern und Enkeln besuchen wollen, können sich auf zahlreiche Fragen gefasst machen. Warum macht die das? Was macht denn der da? Was machen denn die? Was ist denn das? Grossvater, was ist eine Fotolaborantin? Die Ausstellung zum Thema «Arbeit» beantwortet als wertvolle Dokumentation zahlreiche Fragen – und stellt auch viele neue …
Text: Monica Boirar, Zürich
Informationen zur Sonderausstellung auf einen Blick
Dauer und Öffnungszeiten: 11. September 2015 bis 3. Januar 2016,
Di – So 10.00 – 17.00 Uhr, Do 10.00 – 19.00 Uhr
Ort: Nationalmuseum Zürich
Eintritt:
Erwachsene: CHF 10.–,
Ermässigte: CHF 8.–,
Kinder und Jugendliche bis 16-jährig gratis
Weitere Informationen zu öffentlichen Führungen und Podiumsveranstaltungen der Fotoausstellung «Arbeit – Fotografien 1860–2015» finden Sie auf der
Webseite des Nationalmuseums Zürich
Buchpublikation
«Arbeit / Le travail»
Fotografien aus der Schweiz 1860–2015
Photographies provenant de Suisse 1860–2015
Mit Texten von Ricabeth Steiger, Dario Donati, Markus Schürpf, Fabian Müller, Daniel Strassberg, Max Küng, Daniela Nowakowski
Herausgeber Schweizerisches Nationalmuseum
224 Seiten, 21 x 28 cm, gebunden, 218 Fotografien, vierfarbig
Preis: CHF 48.–, EUR 52.–
ISBN 978-3-85791-790-5