Urs Tillmanns, 20. Dezember 2015, 13:43 Uhr

Photobastei: «Flüchtlinge und Wir»

Dass die Themenausstellung «Flüchtlinge und Wir» in die Vorweihnachtszeit gelegt wurde, ist kein Zufall. Die Ausstellung, die nur noch bis 27. Dezember 2015 zu sehen ist, soll aufrütteln. Sie will uns die Flüchtlingsproblematik in sechs sehenswerten Ausstellungen aufzeigen und uns zum Nachdenken anregen.

 

Europa sieht sich mit einer Flüchtlingskrise konfrontiert. Ist diese eine Ausnahmeerscheinung? Oder sind Flucht und Migration nicht viel eher Konstanten der menschlichen Geschichte, insbesondere der Geschichte Europas? Die Photobastei geht mit den beiden Magnum Photos Ausstellungen «Odyssee Europa. Flucht und Zuflucht seit 1945» und «Uprooted / Exil» sowie Arbeiten von Kristian Skeie, Denis Jutzeler, Déri Miklòs, Jean Révillard, Marcel Cavallo und anderen auf fotografische Spurensuche.

 

Photobastei_Magnunm

Jetzt in der Photobastei: Die beiden Magnum-Ausstellungen «Odyssee Europa. Flucht und Zuflucht seit 1945» und «Uprooted / Exil»

Ursprünglich geplant auf April nächsten Jahres, wenn das Meer wieder ruhig wird und die Mittelmeerroute erneut ihre Opfer fordert, hat die Photobastei aufgrund der aktuellen Ereignisse die Ausstellung vorgezogen und wider aller Ratschläge von Dritten auf die Weihnachtszeit gesetzt. Neben der Ausstellung «Odyssee Europa. Flucht und Zuflucht seit 1945» von Magnum Photos zeigt die Photobastei eine Reihe von weiteren Positionen zum Thema.

Die Ausstellungen wollen den Horizont unseres Denkschemas aufgrund des Schlagwortes «Flüchtlingskrise» erweitern. Neben den Fluchtbewegungen in Europa seit dem 2. Weltkrieg werden Arbeiten zur Balkanroute (Déri Miki) und zur Mittelmeerroute (Jean Révillard) gezeigt, ebenso Arbeiten zum Thema Flucht in der Schweiz: von Denis Jutzeler «On nous tue en silence», eine Reportage aus einem Ausschaffungsgefängnis, sowie von Kristian Skeie «Life after Genocide?» mit Porträts von Flüchtlingen, die nun in der Schweiz leben.

 

photobasei_Revillard-Outland_Landscape_3_droite_06_750

Jean Revillard «Patras»

 

Odyssee Europa. Flucht und Zuflucht seit 1945

Einem Schuh fehlt der Schnürsenkel, von dem anderen ist nur die Sohle geblieben: Das Foto, das Magnum-Fotograf Werner Bischof 1946 in Bonn gemacht hat, trägt den Titel «Füsse eines Vertriebenen». Und zeigt doch viel mehr. Bischof, der stets hohe Ansprüche an die Inszenierung seiner Bilder hatte, zeigt uns die Füsse eines Menschen, der alles verloren hat. Doch hier, im Schein des Lichts, spricht auch Hoffnung aus ihnen: Es sind diese Füsse, die ihren Besitzer in eine bessere Zukunft tragen können.

 

Photobastei_odyssee_bischof_PAR140853_750

Werner Bischof «Füsse eines Vertriebenen», Bonn, Germany, 1946 © Werner Bischof / Magnum Photos

Fast 70 Jahre nach Bischofs Aufnahme ist das Thema, dem er sich gewidmet hat, aktueller denn je: Laut UN-Flüchtlingshilfswerk sind derzeit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele wie nie zuvor. Sie sind Opfer von Kriegen oder Naturkatastrophen, sie fliehen vor Diskriminierung, Folter oder Hunger. Die Mehrheit lebt als «Binnenflüchtlinge» im eigenen Land. Doch viele müssen ihre Heimat verlassen, wenn sie überleben wollen. Oder gehen, weil sie zuhause keine Zukunft für sich sehen. Ihr Ziel heisst oft: Europa.

Und Europa? Macht die Grenzen dicht. Versucht, sich abzuschotten. Und sieht zu, wie viele den Versuch, die «Festung» zu betreten, mit dem Leben bezahlen. Es scheint, als habe der Kontinent längst vergessen, dass Flucht und Zuflucht die eigene Geschichte entscheidend geprägt haben; dass gerade die Flüchtlingsdramen des 20. Jahrhunderts bis heute im Leben vieler Europäer nachwirken. Dass «Flucht», wenn man so will, ein ur-europäisches Phänomen ist.

Die Fotografen der legendären Agentur Magnum Photos, 1947 von Robert Capa, George Rodger, David Seymour und Henri Cartier-Bresson gegründet, haben über Jahrzehnte die Geschichten von Flucht und Zuflucht auf der ganzen Welt festgehalten. Ein Blick in ihr Archiv macht eine neue Sicht auf das Leid der Flüchtlinge von heute möglich. Und erinnert daran, dass das Schicksal der Flucht jeden treffen kann – und jeden betrifft.

Die Ausstellung «Odyssee Europa» zeigt 50 Bilder von Magnum-Fotografen zum Thema Flucht und Zuflucht, die nach dem 2. Weltkrieg entstanden sind. Sie beginnt in Deutschland im März 1945 und reicht bis zur Situation heutiger Kriegsflüchtlinge in Syrien, im Irak oder in der Ukraine. Zwölf junge Journalisten der Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl haben die Geschichten der Bilder recherchiert und aufgeschrieben.

 

Magnum Photos – Uprooted / Exil

«Land makes people into what they are. Of that I am sure. If they lose it, they forfeit their solvency and a little bit of their souls, which they will spend the rest of their lives trying to regain.» Larry Towell

Diese Textpassage stammt von Larry Towell aus seinem Buch The World from my Front Porch (2008). Wie viele seiner Magnum-Kollegen hat auch er auf seinen Reportagereisen Menschen kennengelernt und fotografiert, die ihr Zuhause und ihre Heimat verloren haben. Menschen, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen mussten, die von Kriegs- oder Naturkatastrophen ins Exil gezwungen wurden. Menschen, die nur noch das wenige haben, das sie tragen können und von denen einige im Westen Asyl suchen, während die anderen in Flüchtlingslagern landen oder vergeblich versuchen in ihr Land zurückzukehren.

«L’Homme qui marche» vermeidet jegliche historische, chronologische oder geografische Ordnung. Was hier visualisiert werden soll, ist die Anzahl der internationalen Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren Massen an Exilanten und Flüchtlingen. Ähnlich in ihrem Schicksal, austauschbar in ihren Kolonnen, schreiten und fahren sie einer ungewissen Zukunft entgegen, entwurzelt, heimatlos, unerwünscht.

 

Photobastei_odyssee-pellegrin_PAR302535_750

Paolo Pellegrin «Kosovo Albanische Flüchtlinge auf dem Weg nach Kukes, Albanien», 1999. © Paolo Pellegrin/Magnum Photos

«L’Homme qui marche» stellt in Auszügen folgende Fotografen und Reportagen vor: Dominic Nahr (Kongo, Sudan, Südafrika); Alex Majoli (Kenia, Mazedonien, Tunesien); Jérôme Sessini (Pakistan, Haiti, Tunesien); Jean Gaumy (Bangladesch); Patrick Zachmann (Frankreich, Griechenland, Tunesien); Thomas Dworzak (Mazedonien, Afghanistan, Tschetschenien, Tschad, Georgien, Libanon, Libyen); Stuart Franklin (Libanon, Sudan); Paul Fusco (Mexiko); Paolo Pellegrin (Albanien, Irak, Sudan, Tunesien); Cristina García Rodero (Mazedonien, Kosovo); Eli Reed (Tansania); Abbas (Pakistan, Saudi Arabien, Serbien); Chris Steele-Perkins (Jordanien, Bangladesch, Zaire); Raymond Depardon (Algerien, Tschad, Rwanda); Nikos Economopoulos (Jemen, Griechenland); Bruno Barbey (Türkei, Indien); John Vink (Sudan, Türkei, Angola, Indonesien); Bruce Gilden (Kurdistan); Philip Jones Griffiths (Vietnam, Malaysia, Sudan); Kryn Takonis (Algerien); Moises Saman (Jordanien, Türkei, Kirgistan); Susan Meiselas (Irak); Christopher Anderson (Afghanistan); Hiroji Kubota (Vietnam) Déri Miklòs – Ostbahnhof Keleti, Budapest.

 

Photobastei_DeriMiklos_01_750

Déri Miklòs «Ostbahnhof Keleti, Budapest»

Photobastei_DeriMiklos_02_750

 

Bereits im Frühjahr, lange bevor in den hiesigen Medien über die Balkanroute berichtet wurde, beschäftigt den ungarischen Fotografen Miklòs Déri die Situation der Flüchtlinge in Budapest. Ausgestattet mit einem einfachen grauen Leintuch und einem Stativ ging Miklòs Déri in einen Park in der Nähe des Ostbahnhofs Keleti und fragte die Flüchtenden, ob sie sich porträtieren lassen möchten. Es sind Bilder entstanden, wie man sie in den Medien selten sieht: keine Aktion, keine Nachrichten, keine Bildlegenden, nicht einmal eine Umgebung. Nur Gesichter, Menschen, man spürt Hoffung. «Ich habe realisiert, dass wir beim Thema Flüchtlinge in den Medienfotos keine Details wahrnehmen, nur eine Art Totalaufnahme aus der Vogelperspektive. In den Nahaufnahmen hingegen kommen plötzlich Gefühle zum Vorschein. Gefühle, mit denen es schwierig ist, fertigzuwerden.», sagt Déri Miklòs.

 

Kristian Skeie – Life After Genocide?

Life After Genocide? is a project that is based on a collection of stories collected from survivors of the genocides in Srebrenica, Bosnia and from Rwanda. The focus is on the individual stories that these people have shared. You get to meet people like John Musha (Webster St. Louis graduate 2010), Enver Husic who now lives in Geneva, Fatima Klempic, Hasan Hasanovic and Advija Krdzic. You also meet Reverien Rurangwa. As a boy, at the age 15, he lost his entire family of 43 members. Reverien now lives and works in Switzerland, but returned to Rwanda to visit his village, 20 years after the genocide was committed.

 

Photobastei Skeie 750

Kristian Skeie «Life After Genocide?»

The photographer accompanied Reverien on this voyage, during which Reverien visits Janvier, a girl whom he met while at the Red Cross field hospital when she was 11 years old and badly injured after having been thrown into a pit. Today, Janvier is paralyzed from the neck and down and unable to leave her bedroom, or even her bed.

Skeie has collaborated with a number of different media organizations, companies and nongovernmental organizations in Switzerland and abroad. An extended version of this project was presented at the Foto 8 gallery in London. It has also been on display at the FIFDH Geneva International Film Festival and Forum on Human Rights, and Nikon Pro Magazine recently selected part of this photographic story to be featured in their magazine (Winter 2014/15 issue). A part of «Life After Genocide» was shortlisted by the Swiss Photo Award and has been put on display by Reporters Sans Frontiers and PhotoReporters/ Impresum in Zurich, Geneva and Lausanne.

 

Denis Jutzeler – On nous tue en silence

«Ich habe während der gesamten Zeit der Dreharbeiten eine tiefgreifende Ungerechtigkeit, ein Schamgefühl im Angesicht dieser Behandlung verspürt, die diese Männer in einem schrecklichen Schweigen ertragen müssen, unsichtbar und in einer allgemeinen Gleichgültigkeit.» Denis Jutzeler

Frambois ist ein Gefängnis für Ausschaffungshaft, das sich seit 2004 im industriellen Stadtrandgebiet von Genf befindet, in der Nähe des Flughafens, von Blicken abgeschirmt und fernab von öffentlichem Interesse. Achtundzwanzig kantonale Haftanstalten führen neben dem Strafvollzug auch die Ausschaffungshaft durch.

 

Photobastei_Denis_Jutzeler_750

Denis Jutzeler «On nous tue en silence»

Diejenigen, die hier inhaftiert sind, sind in einer sehr speziellen Lage. Sie sind im Gefängnis, aber ihre Haft hat keinerlei strafrechtlichen Hintergrund. Sie ist ausschliesslich eine Verwaltungsmassnahme. Im Rahmen der Zwangsmassnahmen ist es gesetzlich erlaubt, eine Ausländerin oder einen Ausländer ohne Aufenthaltsbewilligung ab dem Alter von fünfzehn Jahren für eine Dauer von bis zu achtzehn Monaten zu inhaftieren, um ihre Ausschaffung zu gewährleisten. So kann jeder beliebige Ausländer ohne legalen Status, das heisst: so ungefähr 150’000 Personen in der Schweiz, von einem Moment auf den anderen verhaftet werden, ohne einen anderen Gesetzesverstoss begangen zu haben. Diese Ausschaffungshaft hat niemals zum Ziel zu bestrafen, sondern ausschliesslich, eine Rückschaffung zu gewährleisten. Aber auch wenn sie somit einen anderen Status hat als der Strafvollzug, ist die Ausschaffungshaft in einigen Gesichtspunkten noch härter.

Bei einer strafrechtlichen Verurteilung ist jeder Tag ein Schritt in die Freiheit. Das ist hier nicht der Fall. Die Inhaftierten haben keinerlei Perspektive. In vielen Fällen hat die Haft schwerwiegende Konsequenzen: Depressionen, Selbstverstümmelungen, Hungerstreiks, Suizidversuche. Die beiden einzigen Möglichkeiten für die Insassen, die Haft zu verlassen, sind, gemäss der geltenden Terminologie, entweder die Abschiebung per «Ausschaffungsflug» oder die «mise au trottoir» (wörtlich: «auf die Strasse gesetzt»).

Bei der Abschiebung durch den Ausschaffungsflug kann der Stress, die Angst, die Verzweiflung des Häftlings zum Einsatz heftiger Mittel führen: Knebelung, Spritzen, gewaltsame Ruhigstellung. Von Körperverletzung durch Polizeigewalt wurde berichtet. Drei Menschen sind schon in der Schweiz gestorben. In Ausnahmefällen, am Ende der langen Monate in Gefangenschaft, können einige Häftlinge nicht abgeschoben werden, aufgrund des Fehlens eines Rückübernahmeabkommens mit ihrem Herkunftsland. Sie werden also «auf die Strasse gesetzt», eine Formulierung, die nicht ihre Freilassung, sondern eine Art von Aussetzen bedeutet. Mit der einzigen Anweisung, die Schweiz innerhalb von achtundvierzig Stunden zu verlassen. Einmal draussen, nicht wissend wohin, ohne Geld, werden wohl nur wenige aus der Schweiz ausreisen. Ohne legalen Status haben sie keinerlei Möglichkeit, das Land zu verlassen; sie werden versuchen, so gut es geht zu überleben. Dabei laufen sie aber Gefahr, jeden Moment wieder festgenommen und, als Höhepunkt der Absurdität, von Neuem den Zwangsmassnahmen unterworfen zu werden.

Denis Jutzeler ist Fotograf und Filmer. 2010 hat den Swiss Photo Award in der Kategorie Free gewonnen. Er lebt in Genf.

 

Installation von Marcel Cavallo – Identity

Es sind nicht die Papiere, die die Identität eines Flüchtenden ausmachen. Denn die Papiere fehlen oft – und geglaubt wird ihnen sowieso nicht, den Papieren! Die Identität des Flüchtenden, das ist heute das Handy! Handies werden zur Routenkommunikation eingesetzt und sie sind die einzige Verbindung in die Heimat – in ein Leben davor. Vor allem hüten Handies Fotos und Filme. Handies sind Erinnerungs- und Erfahrungsträger aus einer Zeit mit den Liebsten, aus einer Zeit eines normalen Leben. Bis der Bruch einsetzt, bis das Chaos in das Leben einbricht.

Cavallos Installation besteht aus einer Reihe von Handies. Wer diese in die Hand nimmt, findet darauf Bilder und Filme von Flüchtenden, die es in die Schweiz geschafft haben. Sie dokumentieren aus individuell-subjektiver und authentischer Sicht den Wechsel und den Verlust, den Aufbruch, die Flucht und im besten Falle das Ankommen in einem neuen Leben. Die Installation gibt den Besuchern die Identität der Flüchtenden, gibt ihnen ihr Leben in die Hand. Die Installation wird zum Instrument der Empathie ohne ideologischen Filter.

Pressetext Photobastei

Die Ausstellung «Flüchtlinge und Wir» ist noch bis 27. Dezember 2015 in der Photobastei am Sihlquai 125, 8005 Zürich zu sehen. (Am 24. und 25. Dezember 2015 ist die Photobastei geschlossen.)

Aktualisierte Informationen finden Sie auf der Homepage www.photobastei.ch

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

  • Kommentare werden erst nach Sichtung durch die Redaktion publiziert
  • Beachten Sie unsere Kriterien für Kommentare im Impressum
  • Nutzen Sie für Liefer- und Kontaktnachweise die Angaben im entsprechenden Artikel
  • Für Reparaturanfragen und Support bei Problemen wenden Sie sich bitte direkt an den Hersteller (siehe dessen Website) oder Ihren Händler
  • Beachten Sie, dass Fotointern.ch eine reine und unabhängige Informationsseite ist und keine Waren verkauft oder vermittelt
  • Ein Kommentar darf maximal 800 Zeichen enthalten.

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Noch 800 Zeichen

Werbung

Abonnieren Sie jetzt Fotointern per E-Mail direkt in Ihr Postfach und verpassen Sie keine Beiträge mehr. Wir nutzen MailChimp für den Versand. Weitere Infos finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Ihr Browser ist veraltet!

Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser, um diese Website korrekt dazustellen.Den Browser jetzt aktualisieren

×