Monica Boirar, 22. Februar 2016, 07:00 Uhr

Ernst Scheidegger – ein Abschied

Wie wir verspätet erfahren haben, ist der Schweizer Fotograf, Bildredaktor und Verleger Ernst Scheidegger am Dienstag, 16. Februar 2016 im Alter von 92 Jahren verstorben. Er gehört zu den bedeutendsten optischen Gestaltern des 20. Jahrhunderts und hinterlässt mit seinem vielseitigen Schaffen ein beeindruckendes Lebenswerk. Monica Boirar dankt in diesem Nachruf für ihre persönliche Begegnung mit Ernst Scheidegger.

 

 

Lieber Ernst Scheidegger

Ihr bester Freund Werner Bischof hat lange auf Sie gewartet; nun sind Sie bei ihm und Ihren Freunden Alberto Giacometti und Max Bill, Ihren wegweisenden Lehrern Hans Finsler und Alfred Willimann, Ihren Kollegen Henri Cartier-Bresson und Robert Capa, Joan Miró und den vielen Künstlern, Gleichgesinnten, Seelenverwandten, die uns dank Ihrer fotografischen Begegnung in Erinnerung bleiben. Sie alle haben, ebenso wie Sie selbst, nach der Form, nach dem Ausdruck gesucht, unermüdlich, beharrlich, getrieben von einem inneren Drang, den eigenen Gefühlen und Gedanken Gestalt zu verleihen.

 

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Ernst Scheidegger (1923 – 2016) Foto: Monica Boirar

Nun sind Sie an diesem jenseitigen Ort angelangt, den es vielleicht gibt, oder auch nicht, einem Ort, der unser aller Vorstellungsvermögen übersteigt. Sie haben die Grenze überschritten. Sie sind da, wo wir alle einmal sein werden. «Sterben ist das Auslöschen der Lampe im Morgenlicht, nicht das Auslöschen der Sonne», so beschrieb es der indische Philosoph und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore.

Wenn die Sonne am Morgen aufgeht, ist wieder das Licht da, mit dem Sie am allerliebsten gearbeitet haben. In natürlichem Tageslicht sind Ihre Fotografien entstanden, unprätentiös, mit einer Sensibilität, einem Feingefühl, das zum Verweilen einlädt, Tiefgang offenbart. Freundschaften waren Ihnen wichtig. Die Begegnungen mit Menschen stellten das allerwichtigste für Sie dar. Die künstlerische Qualität von Alberto Giacomettis spindeldürren Kunstfiguren haben Sie noch vor allen anderen erkannt. Sie waren ein Visionär, ein begnadeter Vermittler, ein grosses Licht, auch wenn Sie das nicht gerne gehört hätten, wussten Sie selbst sehr wohl, dass die Einschätzung zutrifft. Noch lange wird Ihr Werk und Wirken weiterstrahlen. Sie haben alles zu Lebzeiten in Ihrem Sinn und Geist eingefädelt und das ist gut so, gut zu wissen, dass Ihre Stiftung die Verbreitung Ihres geistigen Eigentums nach Ihren Wünschen betreut. Sie haben ein grossartiges Geschenk hinterlassen. Lange hat es gedauert, bis schliesslich auch in der Schweiz die verdienten Auszeichnungen kamen, 2011 von der Eidgenossenschaft, 2012 vom Kanton Zürich. Bereits zehn Jahre früher im Jahr 2001 würdigten die Franzosen Ihre Verdienste mit der Verleihung des höchsten Ordens «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» in Paris.

Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, die Sie persönlich kennen lernen durften. Spät zwar, aber nicht zu spät, am 27. April 2012 im Zusammenhang mit einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Sie noch heute am Eingang Ihrer lichtdurchfluteten Wohnung im Zentrum von Zürich, wo Sie mich, die Besucherin mit einem freundlichen Lächeln in Empfang nahmen. Kaum zu glauben, was Sie in einem einzigen Leben alles geschafft haben, die vielen Rollen, die Ihnen allesamt auf den Leib geschrieben waren: Filmemacher, Verleger, Bildredaktor der Wochenendbeilage der NZZ, Ausstellungsmacher, Grafiker, Gestalter, Galerist und natürlich allen anderen voran Berufsfotograf.

Im Hinblick auf Ihren 90-igsten Geburtstag am 30. November 2013 hatte ich im Sommer ebendieses Jahres mit Telefonieren begonnen. Die Absage eines Kulturredaktors einer Zürcher Tageszeitung von wegen «Wir machen keinen Jubiläumsjournalismus», so seine Begründung, führte dazu, dass es mir schliesslich gelang, mehr als ein Dutzend Geburtstagsporträts über Sie für andere Zeitungen schreiben zu können. Der Name Ernst Scheidegger war nicht allen Redaktoren ein Begriff. Wenn ich dann jedoch erwähnte, dass Sie es mit Ihrem Porträtbild von Giacometti bis auf die Hunderternote geschafft hatten, merkte ich, wie sie aufhorchten.

Seit jener allerersten Begegnung denke ich immer an Sie, wenn ich einen blauen Giacometti-Scheidegger aus meinem Portemonnaie nehme, an Ihre wunderbare Original-Porträtfotografie des Künstlers, die unbearbeitete. Ein Porträt, das wie kaum ein anderes die Optik zu vergessen vermag, die zwischen den Augen von Giacometti und Ihnen, dem Fotografen gewesen war. Die Offenheit des melancholischen Blicks, die etwas von der Sehnsucht preisgibt, lässt die tiefe Traurigkeit des Künstlers spürbar werden. Dabei sei das Foto, wie Sie erzählten, bloss entstanden, weil Giacometti ein Passfoto benötigt habe. Mir ist kein weiteres «Passfoto» in einer so aussergewöhnlichen Qualität bekannt.

Mein journalistischer Eifer führte dazu, dass ich mich für neue Texte mit neuen Fragen bald ein zweites und ein drittes Mal wieder bei Ihnen meldete. Sie waren alsdann bereit, auch noch die nächsten obligaten 20 Journalistenfragen mit mir abzuarbeiten, pflichtbewusst, wie Sie ja auch waren, liessen es sich jedoch nicht nehmen, eine Zigarre anzuzünden, eine Toscano, mit der sie lustvoll die Luft verpesteten. Der Schalk kroch hinter Ihren Ohren hervor und glänzte aus Ihren Augen und wir waren uns unausgesprochen einig darüber, dass wenn ich denn diese Fragen beantwortet haben wollte, Ihnen wenigstens der Genuss bleiben sollte, mich mit dem stinkenden Rauch in subtilster Form malträtieren zu können. Ihre Boxerhündin hatte es da weit besser als ich. Sie wusste, wo Sie die Leckerbissen für sie versteckt hatten, und wurde in regelmässigen Abständen verwöhnt.

Viel wurde über Sie geschrieben, viele namhafte Literaten, allen voran Hugo Loetscher haben Ihr Werk mit kunstvollen Formulierungen zu würdigen gewusst. Das grösste Kompliment, das ich über Sie gehört habe, kam allerdings von einem Fotografenkollegen, der für die Wochenendbeilage der NZZ gearbeitet hatte. Wenn Ernst Scheidegger denn schliesslich mit Erzählen begonnen habe, so der Fotograf, dann sei es vorgekommen, dass sogar Hugo Loetscher zuhörte und schwieg.

Abschiednehmen ist bekanntlich das allerschwierigste, das es im Leben zu meistern gilt. Sie haben mir den Abschied erleichtert. Ihren Händedruck beim Sich Verabschieden werde ich Zeit meines Lebens nicht vergessen; es war ein warmherziger, verbindlicher und sehr freundschaftlicher. Danke, Ernst Scheidegger.

Text und Fotos: Monica Boirar

Weitere Infos auf wikipedia.org und bei der Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv. Hier finden Sie auch eine ausführliche Biografie von Ernst Scheidegger.

Lesen Sie auch den Artikel «Ernst Scheidegger wird heute 90» (Fotointern.ch, 30.11.2013)

 

Ein Kommentar zu “Ernst Scheidegger – ein Abschied”

  1. Hatte die Freude das Universalgenie auf der NNZ-am Wochenende-Redaktion kennenlernen zu dürfen anlässlich einer Bildseite meinerseits über die Makaken-Kolonie auf Ruine Landskron in Frankreich an der CH-Grenze bei Basel.

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