Ansichten und festgefahrene Meinungen, die unser Autor Ralf Turtschi kritisch hinterfrägt. Die fotografische Kreativität lebt davon, alte Pfade zu verlassen, Neues zu erproben und technische Tools gestalterisch einzusetzen. Der nachfolgende Artikel von Ralf Turtschi, den Sie auch als pdf herunterladen können, will Denkanstösse vermitteln, die zu neuer Kreativität anregen.
Nichts ist mir lieber als meine Gewohnheit. Warum auch die eigene Komfortzone verlassen? Wer so ähnlich denkt, steckt mitten im fotografischen Dilemma: Soll man sich mit den technischen Möglichkeiten entwickeln oder stehenbleiben? Möchte ich immer weiter Landschaften fotografieren, ist die Stadt am Ende farbiger? Wie so oft kommt die Erneuerung nicht von den hochgradigen Spezialisten, sondern von Normalos und Quereinsteigern, die sich unvoreingenommen und ohne Qualitätsbrille an die Sache wagen.
Vorurteile entstehen gegen jede Art von Technik, auch in der Fotografie. Die anfänglichen Vorteile der Analogfotografie schrumpften ebenso rasant wie der Widerstand der Profifotografen. Heute wird nur noch ein Unbelehrbarer behaupten, Analogfotografie sei der Digitalfotografie überlegen. Jede Pauschalmeinung entbehrt jedoch einer differenzierten Betrachtung. Die Aussage «Analogfotografie» ist so gesehen wenig präzise. Was ist darunter zu verstehen? Genauso wenig erhellend ist der Begriff «Digitalfotografie». Skype und eine Nikon D5 bedienen sich beide der Digitalfotografie, haben so wenig gemeinsam wie Skischuhe und Flipflops. Gemachte Meinungen sind oft mit einer Pauschalisierung und einer Ausschliesslichkeit verbunden, die aus dem Gespräch leicht einen Krampf werden lässt. Zementierte Meinungen vermögen oft nur einen Teilbereich der Fotografie abzudecken, meistens kommen sie von eigentlichen Spezialisten. Solche Meinungen werden – allgemeingültig verstanden – zu eigentlichen Kreativitätskillern. Wer eine eigene Bildsprache entwickeln will, tut gut daran, Meinungen zu hinterfragen und Neuland zu betreten.
«Ich fotografiere nur mit Stativ!»
Es gibt Fotografen, denen käme es nie in den Sinn, ohne Stativ zu fotografieren. Vielleicht, weil sie in einer besonderen Situation stecken oder bestimmte Ziele anstreben: Objektive, die nicht lichtstark sind, schwache Lichtverhältnisse, weil sie Langzeitaufnahmen bevorzugen, mit grossen Teleobjektiven arbeiten oder ein minimales Verwackeln vermeiden möchten. Wie es Gründe für das Stativ gibt, können auch Argumente für das freie Fotografieren in Feld geführt werden: Grössere Bewegungsfreiheit, Schnelligkeit bei der Nachführung eines bewegten Objektes, Spontanität, weniger Gewicht im Gepäck etc. Das Stativ ist kein Glaubensbekenntnis, es kommt auf die Situation an. Es kann sehr wohl helfen, bessere Bilder zu bekommen, aber auch hinderlich sein. Wer nur mit Stativ fotografiert, kann bestimmte Situationen nicht richtig nutzen, genauso wie der, der nie mit Stativ arbeitet.
«Ich fotografiere immer mit ISO 100!»
Während früher die Körnigkeit zum Film einfach dazugehörte, haben heutige Fotografen eine grundsätzliche Abneigung gegen das Bildrauschen entwickelt. Mit der Grundeinstellung ISO 100 wird es wirkungsvoll und präventiv bekämpft. Mit ISO 100 handelt man sich eine längere Belichtungszeit oder eine grössere Blende ein, was sich bezüglich Verwacklungsunschärfe oder Schärfentiefe auswirkt. Lieber ein scharfes Bild mit Bildrauschen als ein unscharfes, welches kein Bildrauschen aufweist. Heutige Kameras sollten mit ISO 800 ohne Qualitätseinbusse umgehen können: 8 Blenden- oder Belichtungsstufen, die man nicht einfach so preisgeben sollte. Zudem haben Lightroom & Co. entsprechende Bordwerkzeuge, um unerwünschtes Bildrauschen einigermassen wirksam zu unterdrücken. Bemerkenswert ist ja die Retrobewegung, die alte, verblichene, kontrastlose, und farbstichige Fotografie nachahmt. Eigenartigerweise wird die Körnigkeit dabei kategorisch ausgeschlossen. Muss ein Retrobild nicht körnig, kontrastarm und tonig aussehen?
«Ich fotografiere nur in RAW!»
Die Vorteile von RAW sind unbestritten. RAW geht jedoch mit der Entwicklung der Fotos in Lightroom oder Camera RAW einher. Ohne RAW-Entwicklung sind zum Beispiel Sternenfotografie und andere Genres undenkbar. Anderseits bleibt zum Beispiel in der tagesaktuellen Sportfotografie für eine sorgfältige Entwicklung schlicht keine Zeit. Serienaufnahmen in JPG sind schneller, irgendwie muss «Big-Data» ja auf die Karte geschrieben werden. In der Tierfotografie oder Sportfotografie sind schnelle Serienaufnahmen zentral – RAW ist «nice to have». Schliesslich kann auch JPEG in Lightroom oder Photoshop noch perfektioniert werden.
Lesen Sie die weiteren Thesen von Ralf Turschi
in diesem downloadbaren pdf:
• «Ich fotografiere meistens schwarzweiss!»
• «Ich fotografiere nur in Vollformat!»
• «Meine Bilder müssen perfekt aus der Kamera kommen, eine Nachbearbeitung lehne ich ab!»
• «Digitalkameras bringen einfach nicht dieselbe Intensität wie die Analogfotografie!»
• «Filter sind nicht kreativ!»
• «Ich arbeite nur mit Festbrennweiten!»
• «Ich fotografiere ausschliesslich im Querformat.»
• «Ich setze die Szene immer in den Goldenen Schnitt!»
• «Ich begradige stürzende Linien immer!»
• Fazit
Text und Bilder: Ralf Turtschi
Der Autor:
Ralf Turtschi ist Inhaber der R. Turtschi AG, visuelle Kommunikation, CH-8800 Thalwil. Der Autor zahlreicher Bücher und Fachpublikationen grafischer und typografischer Themen fotografiert aus Leidenschaft und ist Mitglied beim Fotoclub Baar/Inwil. Er ist als Dozent beim zB. Zentrum Bildung, Baden, tätig, wo er im Diplomlehrgang Fotografie und an der Höheren Fachschule für Fotografie unterrichtet.
Kontakt: agenturtschi.ch, turtschi@agenturtschi.ch, Tel.: 043 388 50 00.
Sich fotografisch weiterentwickeln und die eigene Komfortzone verlassen? Ein interessantes Thema. Nur: Was bietet uns Ralf Turtschi in seinem Artikel? Nicht viel meines Erachtens. Wieso?
Bin ich in meiner Kreativität festgefahren und leidet meine Bildsprache, bloss weil ich fast immer auf Festbrennweiten, Schwarz-Weiss, niedrige ISO-Werte, RAW und ein stabiles Stativ setze? Gerate ich dadurch tatsächlich in ein fotografisches Dilemma? Ralf Turtschi verwechselt meines Eraachtens flexibel eingesetzte, auf Erfahrung abgestützte sowie bewährte Vorgehensweisen und Gewohnheiten mit kontraproduktiven Meinungen und Vorurteilen und setzt diese mit „Kreativitätskillern“ gleich.
Je merkwürdiger Ralf Turtschis Sätze ausfallen, umso mehr frage ich mich, was er uns mit seinen Ausführungen eigentlich sagen will. Beispiele: „Schwarzweissfotografie ist ein Relikt aus der Vergangenheit, in der Farbe noch nicht möglich war.“ Oder: „Festbrennweiten … sind jedoch unflexibel, der Fotograf bewegt sich und nicht der Bildausschnitt.“ Und: „… Schwarzweiss hat also auch heute noch mit kreativem Basteln im Labor zu tun, es geht weniger um die Fotografie an sich.“ Schliesslich: „Ein kreativer Geist auf der Suche nach dem «neuen» Foto wird nun aber eher fündig, wenn er nicht immer das Gleiche gleich macht.“
Wie bitte? Meint Ralf Turtschi diese Aussagen im Ernst? Oder will er die Leser nur provozieren? Oder (Amateur-) Fotografen für dumm verkaufen? Für mein Empfinden redet er mit seinen angeblichen „fotografischen Imperativen“ Probleme herbei, die gar keine sind.
Schade. Denn die Frage, was alles die eigene Kreativität ausbremsen kann und wie dieselbe gefördert werden könnte, ist doch brennend interessant. Darauf jedoch bleibt uns der Autor Antworten schuldig. Ich denke, dass – wenn überhaupt – festgefahrene Routinen nur einen kleinen Teil an möglichen Kreativitätskillern ausmachen.
Ralf Turtschi schliesst seinen Artikel mit folgender, für den ganzen Artikel kennzeichnenden Empfehlung: „Wenn also nächstens jemand behauptet, er fotografiere nur «manuell», dann sollten Sie einfach verständnisvoll schweigen.“
Mein Tipp: Wenn also nächstens wieder einmal jemand behauptet, RAW ist „nice to have“, oder in fundamentaler Überzeugung die Meinung vertritt, „Neutralgrau ist so was von langweilig“ oder mit einer Ausschliesslichkeit postuliert, bei der Schwarz-Weiss-Fotografie handele es nicht um Fotografie an sich, dann dürfen auch Sie lächelnd widersprechen. Oder sich Ihren Teil denken.
Da ich nur manuell fotografiere, schweige nun auch ich.
Rezept für fotoschulmeisterliche Belanglosigkeiten
Man nehme
– 12 Behauptungen, von der banalen Sorte,
– bezeichne diese zum Beispiel als «zementierte Meinungen»,
– gebe reichlich faden Senf dazu,
– garniere das Ganze mit ziemlich gewöhnlichen Bildern,
– bastle dazu wichtigtuerische Legenden,
– richte das Ganze noch mit einem selbstgefälligen Selfie an,
und fertig sind die nicht sehr bekömmlichen Allgemeinplätzchen.
Ich sehe das ähnlich wie Piero Rossi, wobei meiner Meinung nach Ralf Turtschi’s Artikel total in einer Technik-Denkweise steckten bleibt. Er betrachtet Fotografie als reine technische Anwendung und darum versucht er mehr Kreativität durch Änderung technischer Anwendungs-Gewohnheiten zu provozieren.
Durchaus sind solche Gewohnheiten oft ein Grund, wieso jemand mit seiner Fotografie ‚feststeckt‘. Vor allem, wenn man sich nur mit technischen Betrachtungen befasst, wie eben dieser Artikel es tut.
Die Auseinandersetzung mit dem Motiv, das Interesse an Themen, Kommunikationsmöglichkeiten, die Bedeutung der mentalen Einstellung des Fotografen in der Reportage- und Menschenfotografie, oder einfach Neugier-weckende Aspekte sind meiner Meinung nach mindestens genau so ergiebige und sehr spannende Bereiche, wenn es um die Kreativität in der Fotografie geht.