Urs Tillmanns, 7. Januar 2017, 10:00 Uhr

Buchtipp: Tekeal Riley / Martin Bichsel «Fremd-Kontakt in Bern»

Das Buch «Fremd-Kontakt in Bern» von Tekeal Riley und Martin Bichsel hat gegen Jahresende Furore gemacht. Das soziale und fotografische Experiment konnte sowohl in Buchform als auch als Ausstellung ein breites Publikumsinteresse gewinnen. Menschen, die sich noch nie gesehen hatten, kommen in Berührungskontakt für ein Foto, das publiziert wird. Wie würden Sie reagieren?

 

Stellen Sie sich vor, Sie schlendern ziellos durch Bern und werden von einer hübschen Dame angesprochen, ob Sie sich für ein Foto intim zusammen mit einer wildfremden Person ablichten lassen würden. Genau dies ist der Grundgedanke des Experiments von Tekeal Riley und Martin Bichsel. So geschehen in den letzten zwei Jahren, um daraus ein Buch und eine Ausstellung zu machen – beides war gegen Jahresende ein grosser Erfolg, der von verschiedenen Medien aufgegriffen wurde und sogar zu bester Sendezeit im Schweizer Fernsehen zu sehen war.

Das Thema ist in der Tat sowohl als soziales als auch als fotografisches Experiment interessant. Allerdings ist es nicht ganz erstmalig, denn der Chicagoer Fotograf Richard Renaldi hatte 2007 mit «Touching Strangers» ein ähnliches Experiment realisiert – Tekeal Riley und Martin Bichsel machen auch kein Geheimnis daraus. Das tut der Originalität und der konsequenten Umsetzung dieser Idee keinen Abbruch. Was zählt ist das Ergebnis, und dieses ist ebenso originell wie aufschlussreich. Die Darsteller auf den Bildern wirken völlig natürlich und entspannt. Sie scheinen an dem Experiment Gefallen zu finden, und von Scheu oder Hemmungen ist den Bildern nicht anzumerken. «Natürlich – alles gestellt» werden Sie sagen. Aber das ist nicht der Punkt, denn schliesslich galt es grosse natürliche Hemmschwellen abzubauen, um einem wildfremden Menschen für ein Foto nahezukommen oder zu umarmen, das danach in einer Ausstellung und in einem Buch zu sehen ist.

«Mir gefällt es, Menschen aufzufordern ihre Komfortszene zu verlassen und etwas Neues auszuprobieren …» erklärt Tekeal in ihrem Interview am Ende des Buches – übrigens ein durchaus aufschlussreicher Text dazu, wie das Experiment entstanden ist und wie die Leute darauf reagiert haben. Ich verzichte bewusst darauf mehr daraus zu zitieren, denn schliesslich ist das Interview wie eine Art Pointe, besonders wenn man mehr über die soziale Seite des Experiments erfahren möchte.

Aufschlussreich sind auch die Zitate einiger Posierender, mit denen die Bildstrecken ebenso unterbrochen sind wie mit Blankoseiten. Das gibt dem Buch Luft und hebt einzelne Bilder wohltuend hervor. Viele davon brauchen dieses ruhige Umfeld, um auf den Betrachter stärker zu wirken. Bei anderen sind die Gegenüberstellungen auf der Doppelseite gelungen und bewirken eine wohltuende Ergänzung.

Auch wenn die Idee, Unbekannte, die sich näherkommen, zu fotografieren, nicht ganz neu ist, faszinierend sind die Bilder alleweil. Bei einigen hat man nicht das Gefühl, die Leute wären sich fremd – das inszenierte Beisammensein wirkt echt, die Gesichtsausdrücke vertraut. In anderen Bildern ist eine gewisse Reserviertheit zu erkennen, die wohl auf eine recht ungewohnte Situation zurückzuführen ist.

Je länger ich mich mit den Bildern auseinandersetze und mir mit den Stellungen und der Mimik die realen Situationen vorstelle, desto faszinierender wirken die Bilder auf mich. Ob ich gerne mitgemacht hätte? Oder hätte ich mich letztlich doch nicht getraut, mit einer mir wildfremden Person im Bild zu erscheinen?

Urs Tillmanns

Buchbeschreibung des Verlages

Was passiert, wenn sich zwei Menschen, die sich nie zuvor getroffen haben, gebeten werden, sich zu berühren? Lassen sich völlig fremde Personen dazu auffordern, sich körperlich nahe zu kommen und sogar gemeinsam für eine Fotografie zu posieren? Wie viel Begegnung lassen wir von Fremden zu, wie viel Berührung, wie viel Intimität ist zu viel?

Inspiriert von der Fotoserie «Touching Strangers» des Chicagoer Fotografen Richard Renaldi, stellten sich, die in Bern lebende kanadische Tänzerin Tekeal Riley und der Berner Fotograf Martin Bichsel, diesen Fragen auch in Bern.

An unterschiedlichen Orten fragten Riley und Bichsel Passanten in Bern, ob sie bereit wären, einer unbekannten Person für den kurzen Augenblick einer Fotoaufnahme nahezukommen. Entstanden sind dabei im wahrsten Sinne des Wortes berührende, intime Momentaufnahmen. Sie zeigen den starken Höhepunkt einer Geschichte mit einem oft aufwändigen «Davor» und einem emotionalen «Danach», bei der die Beteiligten aus ihrer Komfortzone geholt wurden.

Jeder Arbeitstag an diesem Fotoprojekt war ein Überraschungstag. Am Ende stehen aussagekräftige, ästhetische Fotografien. Unterschiedlichste Charaktere, Ethnien, Altersgruppen, Kulturen und Nationalitäten begegnen sich für einen kurzen Augenblick, der für sich selbst oder am Anfang von etwas Neuem stehen kann. Es sind Szenen von spontaner Privatheit zwischen Unbekannten. Augenblicke, die Geschichten erzählen.

 

Aus dem Inhalt

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«Da spürt man die eigenen Berühungsängste. Zuerst wussten wir beide nicht, wie wir uns verhalten sollten. Berührt man sich? Überschreitet man Grenzen? Ich spürte das Unwohlsein meines Gegenübers und fühlte mich dann etwas ratlos. Er war viel älter als ich, und ich glaube er hatte zuerst etwas Skrupel, weil ich eine jüngere Frau bin und das automatisch ein Bild generiert. Verrückt, diese Klischees.»

 

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«I could hear the lady I embraced exhaling with a sort of hum as if she was feeling she had been longing for and had not felt in a while»

 

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«Eine junge Frau ist bereit, sich mit mir vor die Kamera zu stellen. Sie kommt mir vor wie meine jüngere Schwester, die ich nie hatte. Ich lege den Arm um sie und möchte sie gleich ein bisschen vor der Welt beschützen. Ein paar Sekunden, dann ist’s vorbei, die ‚Schwester‘ mitsamt meinem Beschützerinstinkt wieder verschwunden. Es bleibt ein Gedanke: Sind wir nicht alle irgendwie Schwester und Brüder?»

 

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«Normalerweise mag ich es gar nicht, von Fremden berührt zu werden. Ich hätte das auch nicht mit jeder Person gemacht, aber der ältere Herr war mir sympathisch. Ich hatte nach den Aufnahmen ein gutes Gefühl.»

 

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Die Autoren

Tekeal Riley (*1969) ist Tänzerin, Bildende Künstlerin, Szenographin, Bewegungstherapeutin und lebt seit 1995 in Bern. Die Kanadierin leitet regelmässig zeitgenössische Tanzkurse, macht Körperarbeit (The Trager Method) und eigene Kunstprojekte. Seit 1999 ist Sie Kompaniemitglied bei «InFlux» von Lucia Baumgartner welche 2015 und 2016 mit dem Stück «Trigger» u.a. in der Dampfzentrale Bern grosse Beachtung fand. 2014 zeigte sie die Einzelausstellung «The Whole Women Project» (Soon Art Galerie Bern), und «Paintings» 2005-2011 (Forum Altenberg, Institut für Pharmakologie Bern).

Martin Bichsel (*1973) lebt als Fotograf seit 1996 in Bern. Er arbeitet seit 2001 als selbständiger Fotograf und interessiert sich für Menschen in ihrem Umfeld, ob für redaktionelle Auftragsarbeiten oder künstlerische Projekte. Seit 2008 ist er Mitglied des Künstlerkollektivs «rueckenlage», welches sich auf Bild- und Musikprojekte für liegendes Publikum spezialisiert hat. 2014 erschien im Kommode Verlag Zürich sein erster Bildband «Trans*Visit». Die Ausstellung «Flüchtig» mit Porträts von geflüchteten Menschen, wurde 2014, 2015 und 2016 an diversen Orten ausgestellt.

Bibliografie

Tekeal Riley / Martin Bichsel
«Fremd-Kontakt in Bern»
71 Abbildungen, 128 Seiten
Texte deutsch und englisch
21 x 15 cm, geleimt, broschiert
Eigenverlag Martin Bichsel, 2016
Preis: CHF 25.00

Das Buch kann über foto [at] martinbichsel.ch für Fr. 25.– plus Porto bestellt werden.

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