«Chäs u Chole» verrät wenig über den Inhalt der Ausstellung, die derzeit im Kunsthaus Langenthal zu sehen ist. Sie zeigt das Schaffen des Bannwarts und Fotografen Johann Schär in Gondiswil, der zu Beginn des letzten Jahrhunderts das Leben und Wirken einer ländlichen Bevölkerung dokumentierte – mit Bildern, die heute Seltenheitswert haben.
Mehr als viertausend Glasnegative, Abzüge, Alben und Ansichtskarten bilden das Fotobildwerk des in Gondiswil geborenen Johann Schär (1855–1938). Im Jahr 1900, dem Todesjahr seines Vaters, hatte sich der Bauer und Bannwart einen Fotoapparat der Marke «Hess & Sattler» gekauft. Mithilfe von drei Einsätzen war es möglich, mit der hölzernen Laufbodenkamera der fotografischen Manufaktur in Wiesbaden Aufnahmen der Bildformate 13×18, 10×15 und 6×9 Zentimeter zu machen. Bis zum Ableben seines Vaters hatte sich «Dängi Hannes», wie Johann Schär im Dorf genannt wurde, als Forstwart um die ihm anvertrauten Gondiswiler Wälder gekümmert. Spätberufen mutierte der Hüter dieser Waldreviere nun zum Dorf- und Wanderfotografen. 45-jährig fand er in der Fotografie eine neue, sinnstiftende Lebensaufgabe.
Auf autodidaktischem Weg, wohl auch mithilfe von herbeigezogener Ratgeberliteratur, erlernte Johann Schär die Handhabung der Kamera und den Umgang mit den lichtempfindlichen Glasplatten in der Dunkelkammer. Ob «Dängi Hannes» Land und Leute auf dem Pferd, dem Pferdewagen, dem Fahrrad oder gar Motorfahrrad besuchte, entzieht sich unseren Kenntnissen. Die Auswahl von rund 200 seiner Schwarzweissfotografien bezeugt sein überdurchschnittliches Talent als Jäger und Sammler sichtbarer Erscheinungen. Seine fotografische Handschrift ist eine Entdeckung. Die Bilder aus Schärs unmittelbarer Erlebniswelt, aber auch von Reisen, die er unternommen hatte, erzählen von den sozialen und wirtschaftlichen Realitäten der ersten vier Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts.
Kurator und Fotohistoriker Markus Schürpf mit der «Hess & Sattler» Laufbodenkamera von Johann Schär (Foto: Monica Boirar)
Kuratiert hat die Ausstellung Markus Schürpf. Die Zusammenarbeit zwischen dem Leiter des Berner Büros für Fotografiegeschichte und dem Kunsthaus Langenthal hat Tradition. Im Jahr 1993 begann die Kooperation mit Fotografien unter dem Titel «Harte Zeiten». Mehr als ein halbes Dutzend sehenswerter Ausstellungen konnte Schürpf, der auch den Nachlass des berühmten Schweizer Fotoreporters Paul Senn betreut, in den Folgejahren in fruchtbarem Teamwork mit dem Museum in Langenthal realisieren.
Die Ausstellung im Kunsthaus Langenthal zeigt bisher ungesehene Originalfotos und -negative (Foto: Monica Boirar)
Die aktuelle Präsentation des Schär’schen Œuvres im Kunsthaus stellt einen neuen wichtigen Meilenstein der Berner Fotografiegeschichte dar. Die insgesamt 14 Räume als vorgegebene Gliederung hat Schürpf für die thematischen Gruppierungen des ausgewählten Bildmaterials in optimaler Weise genutzt. Den Menschen, den interessierten Zeitzeugen und begnadeten Inszenator, Johann Schär, lernen wir, gespiegelt in seinen Porträtfotografien, gleich im Entrée des Museums kennen. Zwei Hintergründe, von einem Kunstmaler hergestellt, nutzte der Fotograf neben der natürlichen Umgebung als Kulissen. Die Art und Weise, wie Schär Menschen in Szene zu setzen wusste, wie sie sich genussvoll der Selbstinszenierung hingaben, macht die Leidenschaft und offensichtliche Liebe des Mannes hinter der Kamera zu seinen Mitmenschen und seinem Metier spürbar.
Ein Bild mit Ikonen-Charakter: Mädchen mit Kuh
Auch der feine Humor des Fotografen offenbart sich in vielen gelungenen Bildern. Allen voran wäre da diese reizende Fotografie mit dem kleinen Mädchen als Viehhüterin und der Kuh zu erwähnen. Allein die Grössenverhältnisse lassen die Inszenierung «Kleine Kuhhirtin» als wenig glaubhaft erscheinen. Wer könnte sich ob solch gelungener Situationskomik ein Schmunzeln verkneifen?
Fotos aus dem Leben auf dem Bauernhof: Kinder auf dem Jauchewagen
In der inszenierten Fotografie der beiden kleinen Bauernkinder, die auf dem Frontsitz eines Jauchewagens thronen, erscheint ebendieser mehr als elegante, ja gar vornehme Kutsche. Die Bäuerin im Hintergrund, in wohl unbeabsichtigter Bewegungsunschärfe wiedergegeben, erinnert an die Belichtungszeiten von bis zu zwei Sekunden, die Anfang des 20. Jahrhunderts noch gang und gäbe waren.
Hühner, Eierprodukte und Honig – die Lebensgrundlage dieser Bauernfamilie aus Madiswil, Mättenbach
Als eigentliches Highlight und Lieblingsmotiv des Publikums entpuppte sich ein besonders werbewirksames Familienfoto: Ein opulentes Ehepaar posiert mit je einem Huhn im Arm. Mutter und Vater flankieren ihren ebenfalls opulenten, vielleicht 12-jährigen Sohn. Vor ihnen, wohlfeil drapiert, präsentieren sie die zum Verkauf dargebotenen Produkte als weitere Früchte ihrer Anstrengungen: Eier, dazu passender Likör und Honig, allesamt aus Mättenbach in Madiswil.
Johann Schär hat das Leben in seiner Region dokumentiert: Frauen und Mädchen beim Heidelbeerpflücken
In den Landschaftsfotografien des Berner Oberaargaus mit seinen sanften Hügeln, Dörfern und verstreuten Weilern offenbart sich der dokumentarische Charakter der Fotografie. Schär selbst wuchs im Gondiswiler Weiler Freibachmoos auf. Die Aufnahmen von Häusern, Höfen, historischen Bauten und neuen Bauwerken, Kirchen oder dem Gondiswiler Gemeindehaus konnten im Format 10×15 cm auch als Postkartenmotive genutzt werden.
Bei wichtigen Ereignissen durfte Johann Schär nicht fehlen, zum Beispiel bei der «Flachsbrächete» in Gondiswil
Gruppenbilder von Bauernfamilien bei der Heuernte, von Männern beim Flachsbrechen oder Mädchen beim Heidelbeerenpflücken ermöglichen ebenso wie Fotos von Konfirmandengruppen, Schulklassen, Chören, Musikgesellschaften, Schützen- und anderen Vereinen einen Einblick in das soziale, kulturelle und religiöse Leben. Dem von Schär und seinen «Brüdern» ins Leben gerufene Posaunenchor ist ein ganzer Raum gewidmet. In Gondiswil herrschte eine starke Volksfrömmigkeit. Schär selbst war aktives Mitglied einer evangelikalen Bewegung, betreute den «Verein junger Männer» und nahm an Versammlungen teil.
Sein Neffe, der Chirurg Wilhelm Iff, beschrieb ihn als «Friedefürst». Der von Schär über viele Jahre hinweg geleitete Posaunenchor gab dem tiefreligiösen Evangelikaner bei seiner Beisetzung am 18. Februar 1938 das letzte Geleit. Das traurigste und erschütterndste Zeugnis ritueller Momente stellt eine Trilogie mit Fotografien von drei kleinen toten Kindern im Raum 2 der Ausstellung dar. Besonders anrührig wirkt ein Familienfoto; das Mädchen mit Downsyndrom, sonntäglich herausgeputzt, steht in liebevoller Obhut zwischen seinen Eltern. Unter dem Titel «Kurioses» findet sich im Raum 10 eine Auswahl von Motiven, die sich allesamt nicht so recht in die sonst sehr einheitlich geordnete Bildwelt des Johann Schär einordnen lassen.
Der Traum vom ertragreichen Kohleabbau erwies sich 1918 als «Schlag ins Wasser». Das perfekt inszenierte Bild der Choleschürfer hat einen grossen lokalhistorischen Wert
Noch ist nicht erwähnt, wie denn die Ausstellung «Chäs u Chole» zu ihrem Namen kam: Der «Chäs» spielt an die 1847 gegründete Käsereigenossenschaft an. Schärs Vater, der Gemeinderat Daniel Schär, wurde deren erster Sekretär. Johann selbst übernahm dieses Nebenamt 22-jährig und übte es bis 1931 aus. Fotos von Gewerbetreibenden gibt es einige zu sehen, von der Käseproduktion nur gerade deren drei. Dafür liegen im grossen Raum 10 in Glasvitrinen ausgebreitet Originaldokumente und -bücher mit handschriftlichen Einträgen zur gelieferten Milch. Mit «Chole» konnten die Gondiswiler keine «Chole» verdienen. Der durch Probebohrungen in Aussicht gestellte Ertrag von 450’000 Tonnen Kohle und ein Nettogewinn von 1,5 Millionen Franken erwiesen sich als grobe Fehleinschätzung. Die Qualität der Kohle, die geringere Schichtdichte und ein Wassereinbruch liessen das Unternehmen in einem Fiasko enden. Es blieben der Spott der Nachbargemeinden, die sich im Sommer über den grossen Badesee und im Winter über die schöne Eisbahn freuten und für die Schweizer Geschichte einmalige Dokumentarfotografien des Johann Schär vom Tagebau der Braunkohle mithilfe von Kohlebaggern.
Als der Bäcker noch mit seinen Broten von Hof zu Hof fuhr … der damalige Alltag wurde vom Fotochronisten Johann Schär in Bildern festgehalten, welche die Zeit angehalten haben
Noch ist Schärs Frau Elisabeth (1854–1931) nicht erwähnt, eine begnadete Gärtnerin, bekannt für ihre besonders wohlriechenden Rosen. Das Paar blieb kinderlos, betreute aber immer wieder Pflegekinder. Noch gilt es die drei mal drei zeitgenössischen Blicke von schreibenden und bildenden Künstlern zu erwähnen, die einen spannenden Kontrapunkt zu den historischen Fotografien bilden. Der Künstlerin Céline Manz hatten es die vielen Porträts junger Frauen besonders angetan. In Sonntagskleidern posieren sie vor idyllischer Naturkulisse im Wald. Selbstbewusst flirten sie allesamt mit der Kamera. Manz hat mit dem Bildmaterial das Video «Vogue 2017» realisiert; wer mehr sehen will, nimmt am besten baldmöglichst den Weg nach Langenthal unter die Räder. Es lohnt sich. Noch bis zum 2. April 2017 dauert die Ausstellung im Kunsthaus. Sie ist ein wahrer Publikumsmagnet. Den neu zu entdeckenden historischen Bilderkosmos sollte man sich nicht entgehen lassen.
Text: Monica Boirar
• Das Gesamtwerk von Johann Schär ist inzwischen wissenschaftlich umfassend aufgearbeitet und digitalisiert. Die Originale werden demnächst dem Staatsarchiv in Bern übergeben.
• Die Buchvernissage des Bildbandes von Markus Schürpf «Johann Schär, Dorffotograf, Gondiswil 1855–1938» findet am Sonntag, 18. März 2017 um 15 Uhr statt.
Die Ausstellung «Chäs u Chole» im Kunsthaus Langenthal dauert noch bis 2. April 2017. Mehr Infos dazu finden Sie auf www.kunsthauslangenthal.ch .