Jakob Tuggener (1904–1988) gehört zu den Ausnahmeerscheinungen der Schweizer Fotografie. Seine persönlichen und ausdrucksstarken Aufnahmen von rauschenden Festen der besseren Gesellschaft sind legendär, und sein Buch Fabrik von 1943 gilt als ein Meilenstein der Geschichte des Fotobuchs.
Im Zentrum der Ausstellung «Maschinenzeit» stehen Fotografien und Filme aus der Welt der Arbeit und der Industrie. Sie reflektieren nicht nur die rasante technische Entwicklung von der Textilindustrie im Zürcher Oberland bis zum Kraftwerkbau in den Alpen, sondern zeugen auch von Tuggeners lebenslanger Faszination für alle Arten von Maschinen: von Webstühlen über Schmelzöfen und Turbinen bis zu Lokomotiven, Dampfschiffen und Rennautos. Er liebte ihren Lärm, ihre dynamischen Bewegungen und ihre unbändige Kraft, und er hielt sie in Bildern fest, die zwischen stiller Poesie und starker Expressivität oszillieren. Gleichzeitig beobachtete er die Männer und Frauen, die mit ihrer Arbeit den Motor des Fortschritts am Laufen hielten – nicht ohne anzudeuten, dass dereinst Maschinen die Menschen beherrschen könnten.
Maschinenzeit
Jakob Tuggener kannte die Welt der Fabriken wie kaum ein anderer Fotograf seiner Zeit, hatte er doch bei der Firma Maag Zahnräder AG in Zürich eine Ausbildung als Maschinenzeichner absolviert und danach in deren Konstruktionsabteilung gearbeitet. Durch den Werkfotografen Gustav Maag war er auch in die Technik der Fotografie eingeführt worden. Als Folge der Wirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre wurde er jedoch entlassen, worauf er sich den seit seiner Kindheit gehegten Traum, Künstler zu werden, mit einem Studium an der Reimannschule in Berlin erfüllte. Knapp ein Jahr befasste er sich dort intensiv mit Plakatgestaltung, Typografie und Film und liess sich mit seiner Fotokamera von der Dynamik der Grossstadt mitreissen.
Nach seiner Rückkehr in die Schweiz begann er 1932 als freier Mitarbeiter für die Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) zu arbeiten, vor allem für deren Hauszeitung mit dem programmatischen Titel «Der Gleichrichter». Obwohl die Firma bereits einen eigenen Werkfotografen beschäftigte, wurde er mit der Aufgabe betraut, eine Art fotografische Innensicht des Betriebs zu erarbeiten.
Damit sollte die Kluft zwischen Arbeitern und Büroangestellten einerseits und der Geschäftsleitung andererseits überbrückt werden. So erschienen bis Ende der 30er-Jahre neben mehrteiligen Reportagen aus den Produktionshallen sowie Porträtserien von «Mitgliedern der MFO-Familie» auch einseitige, albumartig angeordnete Bildreihen von unbeachteten Szenen aus dem Fabrikalltag. Ab 1937 schuf Tuggener auch eine Reihe 16mm-Kurzfilme – immer schwarzweiss und stumm und im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Dokumentation. Dazu gehört etwa das vom Surrealismus geprägte Drama um Tod und Vergänglichkeit («Die Seemühle», 1944), das Tuggener mit Laienschauspielern in einer leerstehenden Fabrik am Ufer des Oberen Zürichsees inszenierte; oder die filmische Auseinandersetzung mit dem Thema Mensch und Maschine («Die Maschinenzeit», 1938–70). Diese knüpft an die frühere, gleichnamige Buchmaquette an und transformiert sie in eine bewegte, unmittelbar erlebbare, aber auch flüchtige Vision des Tuggenerschen Maschinenzeitalters.
1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, erschien Tuggeners Buch «Fabrik». Auf den ersten Blick scheint die darin enthaltene Serie von 72 Fotografien ohne Text eine Art Geschichte der Industrialisierung nachzuzeichnen – von der ländlichen Textilindustrie über den Maschinenbau und die Hochspannungs-Elektrotechnik bis zum modernen Kraftwerkbau in den Bergen. Eine vertiefte Lektüre zeigt jedoch, dass Tuggener durch die filmisch-assoziative Reihung der Fotografien gleichzeitig auf das zerstörerische Potenzial von ungebremstem technischem Fortschritt hinweist, als dessen Resultat er den damals tobenden Weltkrieg sieht, und für den die Schweizer Rüstungsindustrie unbehelligt Waffen produzierte. Tuggener war mit dem nach den Gesetzen des Stummfilms konzipierten Buch seiner Zeit voraus. Weder seine kompromisslos subjektive Fotografie noch seine kritische Haltung passten zur bedrohlichen Lage, in der die Schweiz unter dem Schlagwort «Geistige Landesverteidigung» zu Einigkeit und Stärke aufgerufen war.
Obwohl das Buch kommerziell nicht reüssierte, wertete Tuggener Fabrik als grossen künstlerischen Erfolg und führte seine Auseinandersetzung mit den Themen Arbeit und Industrie weiter. Er produzierte zwei weitere Buchmaquetten: Schwarzes Eisen (1950) und Die Maschinenzeit (1952). Sie können als eine Art Fortsetzung des publizierten Buchs verstanden werden, das der Journalist Arnold Burgauer als einen «glühenden und sprühenden Tatsachen- und Rechenschaftsbericht von der Welt der Maschine, von ihrer Entwicklung, ihren Möglichkeiten und Grenzen» beschrieben hatte. Mitte der 1950er-Jahre, an der Schwelle zum Computerzeitalter, kam für Tuggener die klassische «Maschinenzeit» zu einem Ende. Einerseits entzogen sich die maschinellen Prozesse, die Tuggener so fasziniert hatten, zusehends seinem Auge. Andererseits konnte oder wollte er sich mit der Vorstellung, dass dereinst sogar ein menschliches Herz durch eine Maschine ersetzt werden könnte, nicht anfreunden.
Schilderer der Gegensätze
Schon 1930 in Berlin hatte Tuggener begonnen, an den damals berühmten Bällen der Reimannschule zu fotografieren. Die prickelnd erotische Atmosphäre dieser Anlässe faszinierte ihn, und das Fotografieren in spärlich beleuchteten Räumen empfand er als grosse Herausforderung. Zurück in Zürich, tauchte er sofort ins lokale Nachtleben ein, um sich ganz dem Glanz und dem Luxus von Masken-, Künstler- und Neujahrsbällen zu ergeben. Immer wieder liess er sich von eleganten Damen mit ihren Seidenkleidern, ihren Decolletés, nackten Rücken oder Schultern in eine glitzernde Märchenwelt entführen, deren geheimnisvolle Facetten er mit seiner Leica zu ergründen suchte. Obwohl Tuggeners Ballaufnahmen lange nur von einem kleinen Insiderpublikum wahrgenommen wurden, sahen viele in ihm schnell einen «meisterhaften Schilderer unserer Welt der starken Gegensätze», einer Welt im Spannungsfeld zwischen hell erleuchtetem Ballsaal und düsterer Fabrikhalle. Auch Tuggener selbst positionierte sich zwischen diesen Extremen, wenn er feststellte: «Seide und Maschinen, das ist Tuggener.» Denn er liebte beides, den verschwenderischen Luxus und die schmutzige Arbeit, die schmuckbehangenen Frauen und die schwitzenden Männer. Er empfand sie als gleichwertig und wehrte sich dagegen, als Sozialkritiker eingestuft zu werden.
In welcher Welt er sich auch immer bewegte, Jakob Tuggener tat es mit der Eleganz eines Grandseigneurs. Er war ein Augenmensch mit einem beiläufigen, liebevollen Blick für das Unscheinbare, das vordergründig Nebensächliche; nicht nur ein sensibler Bilderdichter, sondern der «photographische Dichter römisch I», wie er sich selbstbewusst zu bezeichnen pflegte. Über die Fotografien aus der Fabrik schrieb der Kritiker Max Eichenberger: «Tuggener ist imstande, Fabrikphotographien zu machen, die nicht nur einen Maler, sondern auch einen Dichter offenbaren und überhaupt einen seltenen Magier und seltsamen Alchimisten, der, wenn auch in bescheidenen Mengen, Blei in Gold verwandelt.»
Die Ausstellung
Die Ausstellung «Jakob Tuggener – Maschinenzeit» umfasst Vintage- und spätere Abzüge aus den frühen 1930er bis in die späten 1950er-Jahre, die zum grössten Teil aus dem Nachlass des Fotografen stammen. Dazu kommen diverse Publikationen (auch die speziell für verschiedene Industriebetriebe geschaffenen Firmenporträts etwa der Maschinenfabrik Oerlikon oder der Rieter AG in Winterthur) und eine Vielzahl von Dokumenten, die den Kontext von Tuggeners Tätigkeit in der Industrie sowie seine persönliche Arbeitsweise beleuchten.
In einem Nebenraum der Ausstellung wird zudem eine Auswahl seiner 16mm-Kurzfilme aus den Jahren 1937–70 gezeigt, die auf verschiedene Weise um das Thema «Mensch und Maschine» kreisen. Diese Filme wurden eigens für die Ausstellung neu digitalisiert (in Zusammenarbeit mit Lichtspiel / Kinemathek Bern).
Zur Ausstellung erscheinen zum ersten Mal im Steidl Verlag, Göttingen, in einer Box 12 Buchmaquetten als faksimilierte Erstausgaben sowie 14 Kurzfilme auf DVD, zusammen mit einem Begleitband mit Beiträgen von Martin Gasser und Severin Rüegg sowie einem Nachwort von Maria E. Tuggener. Der Begleitband sowie die Maquetten «Maschinenzeit» (1952) und «Uf em Land» (1953) sind während der Ausstellung als Einzelpublikationen erhältlich.
Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit der Jakob Tuggener-Stiftung, Uster realisiert, mit Unterstützung von Bundesamt für Kultur, Bern; Dr. Werner Greminger-Stiftung, Winterthur; Schindler Familienstiftung, Zürich; International Music and Art Foundation, Vaduz; Stanley sowie der Thomas Johnson Stiftung, Bern. Kurator ist Martin Gasser.
(Pressetext Fotostiftung)
Die Ausstellung ist noch bis 28. Januar 2017 zu sehen in der
Fotostiftung
Grüzenstrasse 45
CH-8400 Winterthur
Tel. 052 234 10 30
Filmvorführungen:
• Sonntag, 29. Oktober, 11 Uhr, Kino Cameo, Winterthur.
• Mittwoch, 1. November, 20 Uhr, Lichtspiel / Kinemathek Bern.
• Donnerstag, 11. Januar, 20.15 Uhr, Kino Cameo, Winterthur. Mit Livemusik, gespielt vom Trio Arsis, Winterthur, und einer Einführung.
Sonderführungen:
• Sonntag, 22. Oktober, 11.30 Uhr: Kuratorenführung mit Martin Gasser.
• Sonntag, 19. November, 11.30 Uhr: mit Urs Stahel, Kurator MAST Bologna, und Martin Gasser, Kurator.
Jakob Tuggener (1904 – 1988)
absolvierte nach seiner Schulzeit in Zürich eine Lehre als Maschinen- und später Kontruktionszeichner bei Maag Zahnräder AG. 1926 beginnt er zu fotografieren, belegt einen Zeichenkurs an der Kunstgewerbeschule Zürich und studiert danach Typografie, grafische Gestaltung, Zeichnen und Film an der Reimann-Schule in Berlin. Nach 1930/31 arbeitet Tuggener als freier Fotograf und spezialisiert sich auf die Industrie- und Gebrauchsfotografie. Ab 1935 betreibt er ein eigenes Atelier. Aus dieser Zeit existieren noch Originalfotobücher und rund 75 thematische Fotobuchmaquetten mit Originalfotografien und druckfertigem Layout. 1951 ist Tuggener zusammen mit Werner Bischof, Walter Läubli, Gotthard Schuh und Paul Senn Gründungsmitglied des «Kollegiums Schweizerischer Photographen», das die Anerkennung der Fotografie als eigenständige Kunstform zum Ziel hat. Neben seiner Auftragsfotografie produzierte Tuggener von 1937 bis 1970 immer wieder selbstfinanzierte Stummfilme. Für sein fotografisches Schaffen erhielt er 1957 die Goldmedaille der Internationalen Fotobiennale Venedig, wurde 1964 Ehrenmitglied des Vereins Zürcher Film-Amateure, erhielt 1982 eine Auszeichnung für kulturelle Verdienste der Stadt Zürich und wurde 1983 Ehrenmitglied Schweizerischer Photographenverband. (Quelle: Fotostiftung)