Urs Tillmanns, 14. April 2018, 10:58 Uhr

Buchtipp: Marco Meier «Auf der Suche nach dem fotografischen Unikat»

Seit es die Fotografie gibt steht die Frage von Unikat und Reproduktion in Raum. Gibt es die Fotografie als Unikat überhaupt? Ist das Medium nicht in erster Linie für die Reproduktion, die Vervielfältigung geschaffen? Welchen Einfluss auf diese Thematik hat der technologische Wandel von der analogen zur digitalen Fotografie gehabt? Ist die Reproduzierbarkeit nicht zwangsläufig mit der Fotografie verbunden, gerade im heutigen digitalen Zeitalter und den Social Medias?

Schon zur Zeit der Erfindung der Fotografie befassten sich die Wissenschaftler und die Kritiker der Daguerreotypie mit der Frage, welchen unikaten Charakter diese Bilder wirklich hätten, denn schliesslich wären sie eine Reproduktion von Gegenstände, Landschaften und Menschen. Herausgeber Marco Meier befasst sich mit dieser Thematik der frühesten Fotografie im Eingangskapitel «Das Paradox einer vergeblichen Suche» und bindet den Leser in eine faszinierende Gedankenwelt ein.

Auch das folgende Kapitel über «Materielle Qualitäten in der Fotografie um 1900» von Monika Faber fasziniert nicht minder, geht die Autorin doch auf die Stilepoche der Edeldrucke ein, und zeigt darin auf, dass diese gemäldeähnlichen Werke wahrscheinlich am ehesten «Bilder» statt «Abbilder» gewesen wären.

Bernd Stiegler zeigt in seinem Text «Das Glück der Reproduktion und die Suche des Singulären» auf, wie fliessend die Grenzen zwischen Unikat und Reproduktion in der Geschichte und auch in der Theorie der Fotografie sein können und zieht dabei verschiedene interessante Bildbeispiel aus der Geschichte der Fotografie heran.

Das Kapitel von Yves Bossart «Die Wüste ins Bild holen – Monochrome Welten» ist vor allem für jene interessant, die sich mit dem Werk und Schaffen von Hans Danuser befassen. Bossart trägt mit seinen Betrachtungen viel zum Verständnis von Danusers Bilder bei.

Valentin Groebner betrachtet unter dem Titel «Einzigartiges Gesicht, reproduziertes Gefühl» vor allem die Bildwirkung des menschlichen Gesichts auf den Betrachter, meist verbunden mit einer Werbeaussage. Er zieht dabei eine Reihe sehr treffender Beispiele heran und vergleicht unter anderem Gemälde aus dem späten Mittelalter der Wirkung moderner Plakate im Grossformat.

Johannes Binotto zieht in seinem Aufsatz «Revers Shots: vom Wiedersehen der Fotografie in Film» als Beispiele die beiden Filme «Blow up» und «The Girl with the Dragon Tattoo» heran, um den filmischen Rückblick – eben den Reverse Shot – auf die Fotografie zu zeigen und wie sich Fragen nach der Reproduzier- und Lesbarkeit im Zuge der Entwicklung von der analogen zur digitalen Fotografie stellen.

Stefan Zweifel begeht mit «S/M in S/W» eine «Nostalgische Abschweifung», wie der Titel des Kapitels besagt und betrachtet diverse pornografische Bildbeispiele und deren Wirkung auf die Betrachter.

Ulrike Meyer Stump befasst sich im Schlusskapitel «Recycled Books: Reedition und Remake im zeitgenössischen Fotobuch» mit Fotobüchern als bildverbreitende Medien, die als Ausgangsmaterial Bücher anderer Künstler verwenden und damit Re-Produktionen schaffen.

Die neun Texte des Buches – die übrigens auf Referaten einer Tagung des Collegium Helveticum an der ETH und der Universität basieren – gehen das Thema von Unikat und Reproduktion auf eine sehr vielfältige Weise an und lassen dem Leser einen grossen eigenen Meinungs- und Interpretationsraum. Es ist keine leichte Lesekost und ist vor allem jenen empfohlen, die sich mit philosophischen Themen der Fotografie auseinandersetzen wollen.

Urs Tillmanns

 

Die Buchbeschreibung des Verlages

Wo über Fotografie nachgedacht wird – und zwar seit deren Erfindung im 19. Jahrhundert –, sind die Themen Reproduktion und Unikat gegenwärtig. Doch die Suche nach dem fotografischen Unikat ist vergeblich. In einem strengen Sinn von Einzigartigkeit gehören Kategorien wie Original und Unikat nicht zu einem Medium der Reproduktion. Bernd Stiegler hat recht, wenn er feststellt, dass wir eigentlich keine »emphatische Bestimmung von Singularität brauchen«, um Fotografie angemessen zu denken. Und auch Monika Fabers Feststellung, die Fotografie sei »nicht als Medium der Kunst geboren«, zielt in die gleiche Richtung. Trotzdem ist diese Suche seit bald 180 Jahren im Gang. Ob es die Pioniere dieses neuen Mediums der Sichtbarkeit so wollten oder nicht, die Fotografie brachte sich als Kulturtechnik der Abbildung vor allem gegen die Kunst in Stellung.

Das Thema bleibt aktueller denn je. Der Übergang von der fotochemischen Fotografie zu den elektronischen Bildtechnologien beschreibt einen Bruch. Es wäre falsch, die zwei Kulturtechniken der Bildgebung gegeneinander auszuspielen. Aber es lohnt, die Suche nach Unikat, Original oder jedenfalls künstlerischer Singularität im Sog dieses Umbruchs nicht ganz aufzugeben. Die Theorie der Fotografie ist noch nicht zu Ende geschrieben.

Anhand von Themen wie Fotografie um 1900, Porträts in der Werbung, die Fotografie von Hans Danuser oder den zwei Filmen «Blow up» und «The Girl with the Dragon Tatoo» setzen sich die acht AutorInnen mit den Fragen rund um Unikat/Reproduktion und analog/digital auseinander.

 

Der Inhalt

Marco Meier
Prolog – Das Paradox einer vergeblichen Suche

Marco Meier
Reproduzierbarkeit in der Fotografie als Gestus menschlicher Kulturtechnik

Monika Faber
Statt Mimesis: Materielle Qualitäten in der Fotografie um 1900

Bernd Stiegler
Das Glück der Reproduktion und die Suche des Singulären

Yves Bossart
Die Wüste ins Bild holen – Monochrome Welten
Hans Danusers Fotografie-Projekt «The Last Analog Photograph – Landschaft in Bewegung», 2007–2017

Valentin Groebner
Einzigartiges Gesicht, reproduziertes Gefühl. Die Fotografie wird im Mittelalter erfunden

Johannes Binotto
Reverse Shots: Vom Wiedersehen der Fotografie im Film

Stefan Zweifel
S/M in S/W – Nostalgische Abschweifung

Ulrike Meyer Stump
«Recycled Books»: Reedition und Remake im zeitgenössischen Fotobuch

 

Der Herausgeber

Marco Meier, geboren 1953, studierte Zeitgenössische Philosophie, Sozialethik und Moraltheologie an der Universität Fribourg. Er war Redaktor bei der «Weltwoche» (1980-1984), beim Magazin «Magma» (Tamedia) (1985-1987) und Stellvertretender Chefredaktor der Kulturzeitschrift «du» (1988-1995). Von 1996-1998 leitete er das Medienausbildungszentrum (MAZ) in Luzern und kehrte 1998 als Chefredaktor zurück zur Zeitschrift «du». 2003 wechselte er als Redaktionsleiter der Kultursendung «Sternstunden» zum Schweizer Fernsehen SF. 2008 bis Ende 2010 war er Programmleiter von Radio DRS 2. Seit Anfang 2011 ist er freier Publizist und Kulturvermittler.

 

Bibliografie

Marco Meier
«Auf der Suche nach dem fotografischen Unikat – Zwischen analoger und digitaler Reproduktion»

140 Seiten, gebunden, 160 x 235 mm,
Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-906304-30-4
Verlag Rüffer & Rub, Zürich, 2017  
Preis: CHF 26.00, EUR 26,00

Das Buch kann hier online bestellt werden

 

 

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