Urs Tillmanns, 27. Oktober 2018, 10:36 Uhr

Buchtipp: Lewis W. Hine «The Boss don’t care»

Der Bildband von Lewis W. Hine ist mehr als ein repräsentativer Querschnitt durch das Schaffen eines hervorragendes Dokumentarfotografen. Es ist ein Buch, das anklagt, ein Buch das ein dunkles Kapitel der amerikanischen Geschichte in Erinnerung ruft und welches das Schicksal tausender Kinder erzählt, die zur Arbeit in Kohlebergwerken, auf den Baumwollfeldern und Tabakplantagen, Konservenfabriken oder Glasbläsereien gezwungen wurden. Diese Kinderarbeit war der Preis der Industrialisierung Amerikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um im harten Preis- und Konkurrenzkampf die Konsummaschine der Gesellschaft anzutreiben.

Lewis W. Hine hat das Fotografieren autodidaktisch erlernt, als er als Lehrer an der Ethical Culture School in New York arbeitete und als erste sozialkritische Geschichte die Einwanderer auf Ellis Island dokumentierte. Diese beeindruckenden Porträts von Leuten, die im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» eine neue Existenz suchten, bewogen die Lobbyorganisation gegen Kinderarbeit dazu, Lewis W. Hine mit einer Reportage über die Kinderarbeit in den aufblühenden Industriezweigen zu beauftragen.

Was daraus in den Jahren 1908 bis 1917 entstand, ist ein einmaliger fotografischer Beitrag zur Sozialgeschichte Amerikas. Hine hat es verstanden, die Kinder in ihrer Arbeitsatmosphäre in einer Natürlichkeit zu dokumentieren, welche ihre Überforderung, ihren körperlichen und seelischen Schmerz und ihre Ausweglosigkeit zum Ausdruck brachten. Es sind beeindruckende Porträts, einzigartige Bilder von ergreifenden Arbeitsszenen und stimmungsvolle Gruppenbilder, welche in diversen Zeitungen und Magazinen abgedruckt wurden und so Amerikas Bevölkerung über einen ebenso dramatischen wie unhaltbaren Missstand aufklärte.

Die Bilder werden von informativen Texten begleitet, welche den damaligen Sachverhalt und die Ursachen für diese weit verbreitete Kinder-Zwangsarbeit umfassend schildern. Zudem hat Lewis W. Hine in seinem Notizbuch begleitend zu seinen Aufnahmen wertvolle persönliche Details der fotografierten Kinder festgehalten, die als Bildlegenden in das Buch eingearbeitet sind.

Die Bilder von Lewis W. Hine berühren uns emotional auch deshalb, weil wir uns diesen Missstand der Kinder-Zwangsarbeit heute gar nicht mehr vorstellen können – obwohl, wie Jean Ziegler in seinem Vorwort klarstellt, «heute weltweit über 15 Millionen Kinder unter zehn Jahren der mörderischen Zwangsarbeit ausgeliefert» sind. Es fehlt ein neuer Lewis W. Hine, der die heutige Situation in ebenso eindrucksvollen Bildern festhält …

Urs Tillmanns

 

 

Buchbeschreibung des Verlages

Die Bilder sind berührend und bestürzend zugleich: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dokumentierte der Fotograf Lewis W. Hine das Leben von arbeitenden Kindern in den USA. Beauftragt von Amerikas erster Lobbyorganisation gegen Kinderarbeit, dem National Child Labor Committee, kämpfte er mit seiner Kamera als Waffe gegen die Ausbeutung der Kleinsten und Schwächsten, die, ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert, sowohl seelische als auch körperliche Verletzungen von ihrer Arbeit davontrugen.

Elf, oft zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche schuften sie unter der brennenden Sonne auf den Baumwollfeldern von Texas und den Tabakplantagen Kentuckys. Heranwachsende Jungen fahren unter Tage in die stickigen Kohlegruben von Pennsylvania ein. ln den Konservenfabriken an der Golfküste verletzen sich Heranwachsende beim Aufbrechen der Austern mit grossen Messern die Hände.

Hines Fotografien sind ergreifend: Kinder, die mit leeren, müden Augen in die Kamera blicken, gestrauchelt und erschöpft von harter Arbeit, ernst und ohne Zuversicht. Es ist die Zeit der Frühindustrialisierung in den USA, Kinder werden als billige Arbeitskräfte gebraucht- und missbraucht.

Der amerikanische Fotograf Lewis W. Hine hat die Kinder begleitet, ihren Schmerz und ihre Leere, ihre Müdigkeit und ihr Ausgebranntsein dokumentiert. Er ist den Kindern auf Augenhöhe entgegengetreten, hat sie porträtiert und ihnen dabei ihre Würde zurückgegeben, ihnen ein Gesicht und eine Identität geschenkt, indem er sich die Namen und das Alter des Kinder sowie den Ort und das Datum der Aufnahme akribisch notiert hat. Rund 240 Fotos sind in dem Bildband «The boss don’t care» abgebildet – begleitet von Hines Notizen, die sich wie short stories lesen und dem Buch eine zusätzliche Dimension verleihen.

Die Aufnahmen von Hine gelten als Meilensteine in der sozialdokumentarischen Fotografie. Auch heute – hundert Jahre später – haben sie nicht an Bedeutung verloren. Die Fotos klagen an und berühren, sie sensibilisieren und nehmen gefangen, sie bestürzen und empören. Der Bildband ist die erste komplexe Veröffentlichung Hines zum Thema Kinderarbeit. UN-Berater Jean Ziegler liefert in seinem Vorwort einen klugen Beitrag über das erschütternde Verbrechen Kinderarbeit.

 

Der Inhalt

«And when you play? Play? I never play?» Vorwort von Wilfried Kraute

Das Verbrechen der Kinder-Zwangsarbeit. Vorwort von Jean Ziegler

 

Into the Night

Oyster Shucker & Shrimp Picker, Seafood Canneries

 

Farm Work

Coal Mine

 

Glass Workers

I’m at work

 

Mill Work

On the streets at home

 

 

Die Autoren

Lewis W. Hine (1874-1940) arbeitete als Lehrer an der Ethical Culture School in New York, als er autodidaktisch das Fotografieren erlernte. Er porträtierte zunächst Einwanderer, die auf Ellis Island ankamen. Nachdem er seine Dokumentation über Kinderarbeit in den USA abgeschlossen hatte, ging er 1918 für das amerikanische Rote Kreuz nach Europa, um die Folgen des Ersten Weltkriegs festzuhalten. Zurück in den Staaten hielt er den Bau des Empire State Buildings in Bildern fest, die er in seinem berühmten Bildband «Men at Work» veröffentlichte. Er verstarb verarmt 1940 in New York.

Wilfried Kaute (Herausgeber) lebt als Kameramann, Filmproduzent und Autor in Köln. Sein Können und seine Erfahrung im Umgang mit Archiven und riesigen Bild-Konvoluten hat er bereits mit den Bänden «Koks und Cola», «Maloche und Minirock» und «Wenn es Nacht wird» erfolgreich präsentiert. Für das Werk von Lewis W. Hine begeisterte sich Kaute schon während seines Studiums der Fotografie. Der Pionier der sozialdokumentarischen Fotografie wurde besonders durch seine Kampagne zur Kinderarbeit für ihn und viele seiner Kollegen zum Vorbild.

Jean Ziegler (Verfasser des Vorwortes), geboren 1934 in Thun, Schweiz, lehrte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2002 Soziologie an der Universität Genf und an der Sorbonne in Paris. Von 2000 bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Er ist Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates und zählt zu den international profiliertesten Globalisierungskritikern. Jean Ziegler ist Autor der Bücher «Warum wir weiter kämpfen müssen: Mein Leben für eine gerechtere Welt» (Penguin, 2018) und «Ändere die Welt. Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen» (Penguin, 2016).

 

 

Bibliografie

Lewis W. Hine, Wilfried Kaute
«The Boss don’t care» – Kinderarbeit in den USA 1908-1917

320 Seiten, mit ca. 300 Fotografien von Lewis W. Hine
Gebunden mit Schutzumschlag
Format 24 x 30 cm
Mit einem Vorwort von Jean Ziegler
Emons-Verlag, Köln    
ISBN 978-3-7408-0465-7
Preis: CHF 59.90, EUR 39,95 [D], 41,10 [AT]

Das Buch kann hier online bestellt werden

 

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