Urs Tillmanns, 30. Juni 2019, 10:00 Uhr

Ernst Leitz Museum eröffnet mit Retrospektive «Dr. Paul Wolff und Alfred Tritschler»

Das Ernst Leitz Museum bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Unternehmens-Museum und Fotografie-Museum. Es steht daher für ein vielseitiges und fundiertes wissenschaftliches Wirken, das sowohl Fotografie-Ausstellungen mit einschliesst, als auch Projekte zur Unternehmensgeschichte oder zu technologischen Aspekten der Fotografie. Es greift relevante Fragestellungen der Fotografie auf und schafft Bezüge zu aktuellen Diskursen fotografischer Themen – dies in inszenierten Ausstellungen und Erlebnisräumen.

 

Das Ernst Leitz Museum beherbergt eine umfassende Sammlung aller wichtigen Leica-Modelle, darunter auch die Ur-Leica von 1914 von Oskar Barnack

 

Eröffnungsaustellung: Dr. Paul Wolff und Alfred Tritschler

Die Namen Dr. Paul Wolff (1887–1951) und Alfred Tritschler (1905–1970) sind eng mit der Geschichte von Leica verbunden. Sie gehörten zu den Pionieren der Leica-Fotografie und haben in den 1920er- und 30er-Jahren mit ihren qualitativ hervorragenden Bildern gezeigt, wozu die Kleinbildfotografie in der Lage war – dies in einer Zeit, als noch vorwiegend mit Glasplatten und Rollfilmen fotografiert wurde.

 

Den beiden Kleinbild-Pionieren Dr. Paul Wolff (links) und Alfred Tritschler ist die Eröffnungsausstellung der Ernst Leitz Museums in Wetzlar gewidmet © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Mit dieser ersten grossen Retrospektive «Licht und Schatten – Fotografien 1920 bis 1950» zum Schaffen von Dr. Paul Wolff und Alfred Tritschler werden zwei der bekanntesten deutschen Fotografen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geehrt. Bis heute geläufig sind Dr. Paul Wolff & Tritschler als Pioniere der Leica, als herausragende Techniker und Vorreiter eines lebendigen Stils in Illustrationsfotografie und Reportage. Daneben spiegelt ihr auf 700’000 Aufnahmen geschätztes Werk gleich mehrere Kapitel deutscher Geschichte: vom Untergang des Kaiserreichs über die gescheiterte Weimarer Republik, den Nationalsozialismus bis hin zum Zweiten Weltkrieg, in dessen Endphase auch wesentliche Teile des Wolff-Archivs vernichtet wurden.

 

Dr. Paul Wolff, aus der Serie «Frankfurt a. M. Altstadt», 1928 © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Wolff und Tritschler beschritten durchaus neue Wege: Fototechnisch (Stichwort Kleinbild), ästhetisch (Stichwort Neues Sehen) oder in ihrer Affinität zum gedruckten Bild (Stichwort illustrierte Massenpresse). Gleichzeitig bedienten sie das Feld einer eher gefälligen Illustrationsfotografie oder den Bildbedarf nationalsozialistischer Propaganda. In der Summe ist das Lebenswerk von Wolff und Tritschler nicht ohne Widersprüche, was die mit rund 400 Objekten – darunter bis dato nie gezeigte Vintageprints, Plakate, Dokumente, Zeitschriften und Bücher – reich orchestrierte Ausstellung eher als Herausforderung und Chance begreift: das Unternehmen Dr. Paul Wolff & Tritschler als «Phänomen», eingebettet in deutsche Geschichte um 1930, umfassend darzustellen.

 

Alfred Tritschler, «Graf Zeppelin», 1928 © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Kaum ein Feld der Fotografie, auf dem das Unternehmen Dr. Paul Wolff & Tritschler mit Sitz in Frankfurt am Main zwischen 1920 und 1950 nicht tätig gewesen wäre: Von der Architektur- oder Landschaftsfotografie über die Sport- oder Reisereportage bis hin zum Tier- oder Pflanzenfoto im Geist der Neuen Sachlichkeit. Im Bereich der noch jungen Industriefotografie waren Wolff und Tritschler ebenso Pioniere wie auf dem Feld einer sich ab Mitte der 1930er-Jahre ankündigenden Farbfotografie. Mit ihren Zyklen bzw. Reportagen über das Alte oder Neue Frankfurt haben sie unser Bildwissen ebenso geprägt wie mit ihren Aufnahmen rund um die Themen Autobahn, Zeppelin und Flugzeugwesen, Industrie und Automobilismus unsere Vorstellung einer frühen technischen Moderne.

 

Dr. Paul Wolff, «Schattenbilder, figürlich», 1930 © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Wolff und Tritschler verstanden sich nicht als Künstler, sondern als verlässliche Dienstleister mit einem breiten Angebot an zeitgemässen Themen. Als Agentur war ihr Frankfurter Unternehmen gut geölter Teil einer Medien-Moderne, deren Funktionieren die beiden Fotografen wie wenige verstanden hatten. Ästhetische Neuerungen einer sich vom Piktorialismus emanzipierenden Fotografie griffen sie auf, ohne sich allzu weit auf das Terrain des Experimentellen vorzuwagen. Auch sie haben Objekte des Designs neusachlich ins Bild gerückt; auch sie lieferten fertige Reportagen im Sinne eines fotoillustrierten Narrativs; auch sie stifteten surrealistisch inspirierte Schattenbilder. Zeitgleich bedienten sie eine idealisierende Heimatfotografie oder aus ihrem Fundus auflagenstarke Propagandaschriften – nicht der einzige Widerspruch, dem nachzugehen sich die Ausstellung vorgenommen hat.

 

Alfred Tritschler, aus der Serie «Die Dame. Große Köpfe», 1931, Hedwig Haegely als Modell © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Als Ergebnis mehrjähriger Recherchen ist die erste umfassende Ausstellung zu Dr. Paul Wolff & Tritschler angetreten, alle Aspekte im Werk der Fotografen entlang ausgewählter Vintage Prints zu untersuchen. Gezeigt werden über 200 Originalabzüge aus internationalen Sammlungen, flankiert von dokumentarischem Material, Büchern, Broschüren, Plakaten, Objekten sowie technischem Gerät aus dem Nachlass. Zu sehen sind frühe Wolff-Filme rund um das Neue Frankfurt sowie erläuternde Videos zu den wichtigsten Buchpublikationen der Fotografen Wolff und Tritschler, deren Werk und Vita in zehn Kapiteln materialreich aufgeblättert wird.

 

Dr. Paul Wolff, aus der Serie «Rhön. Segelflug», 1931 © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Erkunden lässt sich die Ausstellung auf mehreren Ebenen. Als Reise zu den Ursprüngen der Kleinbildfotografie; als fotografisch gestützter Blick auf Schlüsselmomente des frühen 20. Jahrhunderts; als Kondensat der massgeblichen künstlerischen Strömungen nach 1900 – vom Piktorialismus bis zum Neuen Sehen; und schliesslich als historisch-kritische Exkursion zum stilbildenden Werk zweier fast vergessener Fotografen.

 

Dr. Paul Wolff, Stillleben ohne Titel, um 1929 © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Vom neuen Ernst Leitz Museum Wetzlar organisiert und von Hans-Michael Koetzle (München) kuratiert, ist die Ausstellung «Dr. Paul Wolff & Tritschler. Licht und Schatten – Fotografien 1920 bis 1950» die erste museale Schau zum Werk der beiden Fotografen. Im Bauhaus-Jahr 2019 will sie unter anderem zeigen, wie Strategien eines Neuen Sehens über Wolff und Tritschler bzw. ihre rege publizistische Tätigkeit popularisiert wurden. Wie sich durch ein Amalgam von künstlerischem Anspruch und kommerziellem Denken dem Feld angewandter Fotografie neue Qualitäten erschlossen. Wie sich durch den Griff zur Leica, das anfangs mutige Bekenntnis zum Kleinbild, das fotografische Sehen spontaner, dynamischer gestaltete, wobei sich parallel ein Fotografen-Mythos formen konnte, der tatsächlich bis nach Japan strahlte. Dr. Paul Wolff war es, der massgeblich einer fotografischen Moderne in Fernost den Weg geebnet hat.

 

Dr. Paul Wolff, aus der Serie «Flugplatz Frankfurt a. M. Neue Zeppelinhalle im Bau», 1935 © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Als Fotograf war Dr. Paul Wolff ein durchaus widersprüchlicher Geist, eine in ihrer Haltung und unternehmerischen Praxis ambivalente Persönlichkeit. Rückblickend steht sein Name ebenso für künstlerischen Aufbruch wie für Anpassung im Politischen. Genau diese Widersprüchlichkeit begreift die aktuelle Ausstellung gleichermassen als Herausforderung wie Chance. Worum es geht: Das Werk von Wolff und Tritschler in all seinen Facetten und vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte kritisch zu beleuchten.

 

Dr. Paul Wolff, «Ständer von Wasserkraftgeneratoren. Siemens-Schuckert, Berlin 1936» © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

 

Ein Museum für Fotografie und Fototechnik

Am 27. Juni 2019 wurde das Ernst Leitz Museum mit der ersten grossen Retrospektive zu Dr. Paul Wolff und Alfred Tritschler Tritschler (1905–1970) feierlich eröffnet. Das Museum wird zu einer zentralen kulturellen Institution von nationaler und internationaler Strahlkraft entwickelt, in der sich zahlreiche unterschiedliche Facetten der Fotografie begegnen und entdeckt werden können. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen nach dem Code of Ethics des International Council of Museums (ICOM) das Beschaffen, Bewahren, Erforschen, Bekanntmachen und Ausstellen von Zeugnissen der Fotografie, der Fotokunst und der Fototechnik. Dabei liegt der Fokus auf der Erforschung und Vermittlung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der modernen Fotografie.

 

Dr. Paul Wolff, aus der Serie «New York von oben», 1932 © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Die Ausstellungen des Museums entstehen in Kooperationen mit führenden Experten, Museen, Galerien und Sammlern. Daneben bereichern Koproduktionen mit Partnermuseen unsere Arbeit. Nach der Präsentation in Wetzlar sollen ausgewählte Projekte als Wanderausstellungen in weiteren Museen weltweit gezeigt werden. Initiator und Hauptsponsor des Ernst Leitz Museums ist die Leica Camera AG Wetzlar.

 

Dr. Paul Wolff, «Eröffnung des Opelbades in Wiesbaden», 1934 © Dr. Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, Offenburg

Das Ernst Leitz Museum verfügt über rund 1000 m² Ausstellungsfläche und befindet sich im Leitz-Park Wetzlar. Neben den Wechselausstellungen können Besucher zahlreiche Exponate der Leica Firmengeschichte von 1923 bis heute entdecken, Fotoworkshops für Profis und Anfänger sowie Unternehmensführungen besuchen oder die Leica Erlebniswelt, Leica Galerie und Store sowie einen Naturlehrpfad erkunden. Das Café Leitz, die Weinwirtschaft sowie das «arcona Living Ernst Leitz Hotel» sorgen für das leibliche Wohl.

 

Generelle Informationen zur Ausstellung

Die als materialreicher Parcours angelegte und von Hans-Michael Koetzle kuratierte Ausstellung umfasst circa 200 Originalabzüge (Vintage Prints) von Dr. Paul Wolff und Alfred Tritschler, ausserdem Plakate, Dokumente, Zeitschriften und Bücher sowie mehrere Filme von und über Paul Wolff. Laufzeit: 28. Juni bis Januar 2020. Weitere internationale Stationen sind geplant.

Adresse: Ernst Leitz Museum, Am Leitz Park, DE-35578 Wetzlar.

 

Publikation zur Ausstellung

Begleitend erscheint ein umfangreicher Band mit Beiträgen von Sabine Hock, Randy Kaufman, Hans-Michael Koetzle, Kristina Lemke, Günter Osterloh, Tobias Picard, Gerald Piffl, Shun Uchibayashi und Thomas Wiegand:

Hans-Michael Koetzle (Hg.): Dr. Paul Wolff & Tritschler. Licht und Schatten – Fotografien 1920 bis 1950, 464 Seiten, circa 1000 Abbildungen, gebunden, Kehrer Verlag Heidelberg, Preis: 78 Euro.
ISBN 978-3-86828-880-3 (deutsche Ausgabe)
ISBN 978-3-86828-881-0 (englische Ausgabe)

Schreibe einen Kommentar

  • Kommentare werden erst nach Sichtung durch die Redaktion publiziert
  • Beachten Sie unsere Kriterien für Kommentare im Impressum
  • Nutzen Sie für Liefer- und Kontaktnachweise die Angaben im entsprechenden Artikel
  • Für Reparaturanfragen und Support bei Problemen wenden Sie sich bitte direkt an den Hersteller (siehe dessen Website) oder Ihren Händler
  • Beachten Sie, dass Fotointern.ch eine reine und unabhängige Informationsseite ist und keine Waren verkauft oder vermittelt
  • Ein Kommentar darf maximal 800 Zeichen enthalten.

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Noch 800 Zeichen

Werbung
Werbung

Abonnieren Sie jetzt Fotointern per E-Mail direkt in Ihr Postfach und verpassen Sie keine Beiträge mehr. Wir nutzen MailChimp für den Versand. Weitere Infos finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Ihr Browser ist veraltet!

Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser, um diese Website korrekt dazustellen.Den Browser jetzt aktualisieren

×