Urs Tillmanns, 7. Oktober 2019, 16:32 Uhr

11. Biennale dell’immagine: «Crash», das Thema in Chiasso

Die «Biennale dell’immagine» in Chiasso ist in der Szene der Fotofestivals längst zu einem festen Begriff geworden. Bereits zum elften Mal findet sie dieses Jahr in der südlichsten Grenzstadt statt, dieses Jahr unter dem Motto «Crash».

«Crash» ist Kollision, Unfall, Sturz, aber auch Nervenkitzel, Emotion und Angst – Schlagworte, die man in vielen der ausgestellten Bildern sieht, allen voran natürlich in den Unfallaufnahmen von Arnold Odermatt, die in deutschsprachigen Regionen weitgehend bekannt sind, in der Südschweiz und dem nahe Italien durchaus als Publikumsmagnete wirken.

«Crash» passt auch als Motto zu den Doppelbildern von Boris Mikhailov, der in seiner «Versuchung des Todes» (Temptation of Death) das verlassene Krematorium von Kiew als Leitmotiv nahm und harmonisierende oder kontrastierende Bilder nebeneinanderstellte.

«Crash» sind auch die Bilder der ECAL Lausanne, welche als Utopisten die bisherige Kunstform der Fotografie hinterfragen und mit eigenen Interpretationen eine neue Zukunft der Fotografie suchen.

«Crash» ist aber auch der Aufbruch zu Neuen, zu bisher Ungesehenen, zu Kreationen, die der persönlichen Fantasie entspringen und die Vergangenheit und ihre Bildersprache in Frage stellen.

 

Chiasso im Fotorausch

Die diesjährige Biennale dell’Immagine ist an 12 verschiedenen Orten von Chiasso zu finden, in öffentlichen Gebäuden ebenso wie viele Galerien der Stadt. Sie konzentrieren sich während den zwei Monaten vom 5. Oktober bis 8. Dezember 2019 auf die Fotografie und bieten jungen, aber auch arrivierten Künstlern die Gelegenheit, ihre Werke an der Biennale in Chiasso auszustellen.

Wie schon frühere Jahre ist die diesjährige Biennale auch über die Stadtgrenzen hinaus präsent, etwa in Mendrisio, in Lugano, in Ligornetto, in Porza, in Morbio Inferiore oder über die Landesgrenzen hinaus in Pellio Intelvi oder in Como. Das Interesse an guter zeitgenössischer Fotografie setzt sich über die Landesgrenzen hinweg, und so ist es naheliegend, dass die Biennale mit vielen Besuchern vor allem aus Italien, und hoffentlich auch aus der nördlichen Schweiz, rechnen kann.

 

Einige Highlights der Biennale Chiasso

Boris Mikhailov: The Temptation of Death

Das jüngste und umfassendste Werk des ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov (*1938) ist mit 24 von insgesamt 150 Doppelbildern im Spazio Officina die grösste der mehr als 25 Ausstellungen der Biennale. Es sind Bilder aus der Vergangenheit, viele fotografiert im Krematorium von Kiew aus der Sowjetzeit, die sich mit modernen Bilder paaren und so die Mehrdeutigkeit, den Drang zu Veränderungen, zu Neuanfang haben und dabei vor allem die Grundsätze des institutionellen politischen Systems hinterfragen.

 

Arnold Odermatt: die 32 Bilder der Biennale in Venedig

Aus dem reichhaltigen und umfassend dokumentierten Werk des Nidwaldner Polizeifotografen Arnold Odermatt sind an der Biennale in Chiasso jene 32 Bilder zu sehen, die 2001 an der Biennale in Venedig die Kunstwelt entdeckt hatten und alsbald in grosse Kunstmuseen und Galerien Einzug hielten. Einst als reine Dokumentationen für gerichtlichen Gebrauch entstanden, begeistern die Bilder durch ihre Einzigartigkeit und Unfällen aus einer längst vergessenen Zeitepoche und durch eine technische Perfektion, die ein grosses handwerkliches und formales Können des Fotografen beweisen.

 

ECAL: «Guardare l’utopia»

Die Piazza dei Colori ist den Arbeiten der Ecole Cantonale d’Art Lausanne gewidmet, welche die Kollision der bisherigen Kunstfotografie mit den modernen schnellen und omnipräsenten Kommunikationsmethoden und die damit verbundene radikale Veränderung zum Ausdruck bringen wollen. Sie suchen in ihren grossformatigen Bildern eigenen Interpretationen ihrer Zukunft der Fotografie.

 

Marcello Dudovich – Fotografie zwischen Kunst und Passion

Ein weiteres Highlight ist die Retrospektive zu Marcello Dudovich (1878-1962), der mit seinen Plakaten die grafische Gestaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit über die Grenzen Italien hinaus geprägt hat. Die Sammlung zeigt heute seltene Plakate ebenso wie Illustrationen für Zeitschriftentitel oder einfacher Gebrauchsgrafik. Was die Ausstellung besonders interessant und thematisch passend macht, sind die vielen Originalfotografien, welche Dudovich offensichtlich als Vorlagen dienten.

 

Karin Borghouts – The House

Der Brand ihres Elternhauses versetzte der Fotografin Karin Borghouts einen nachhaltigen Schock. Ruiniert sind ihre Kindheitserinnerungen, die materiellen Werte ihrer Jugend sind in verkohlte, kaum erkennbare Objekte verwandelt. Dennoch ist Borghouts fasziniert von der Schönheit der zurückgelassenen Zerstörung und beginnt die verbleibenden Objekte und Innenräume mit höchster Perfektion zu dokumentieren. Sie schafft damit nach diesem «Crash» nicht nur eine aussergewöhnliche Bildserie, sondern sie verarbeitet so auch den Verlust aus ihrer Kindheit.

 

Willi Moegle – Do not Drop

Willi Moegle (1897-1989) hat mit seinem Stil die Sachfotografie der Nachkriegszeit massgebend geprägt. Während er vor dem Krieg weitgehend dokumentarisch fotografierte, machte sich Moegle 1946 selbständig und pflegte einen neuen Stil klarer Linien, optimaler Objektdarstellung und effektvoller Lichtsetzung. Die von der Fondazione Rolla gezeigten Porzellanaufnahmen gehören zu den bekanntesten freien Werke Moegles, obwohl er vorwiegend als Werbefotograf für die aufstrebenden Industriefirmen Deutschlands arbeitete.

 

Die Fotografie nach dem «Crash»

Chiasso, und vor allem ein Gruppe unermüdlicher Organisatoren, Projektleiter und unerwähnter Helferinnen und Helfer, haben mit der diesjährigen Biennale dell’Immagine einmal mehr ein äusserst vielseitiges und spanendes Fotofestival realisiert, das nicht nur die neuen Impulse der zeitgenössischen Fotografie aufzeigt, sondern ebenso Raum lässt für klassische Werte wie die eindrucksvollen Gegenüberstellungen von Boris Mikhailov, die epochale Plakatgestaltungen eines Marcello Dudovich oder die persönlichen Erinnerungswerte von Karin Borghouts. Es ist ein breites Spektrum verschiedener fotografischen Stilrichtungen, die zum Verweilen rufen und zu neuen eigenen kreativen Leistungen anspornen.  

Text und Bilder: Urs Tillmanns

Die meisten Ausstellungen sind noch bis 8. Dezember 2019 zu sehen. Details dazu entnehmen Sie der untenstehenden Auflistung, dem Detailprogramm (pdf) oder der Webseite www.biennaleimmagine.ch

 

Biennale dell’immagine CRASH Chiasso
Datum Ort (siehe Plan) Ausstellungen
bis 08.12. 1 Crash Boris Mikhailov
Temptation of Death
bis 08.12. 2 Crash Arnold Odermatt
The Biennial Selection. 32 Photographs for Venice 2001
bis 08.12. 3 Crash / ECAL, Losanna
Guardare l’utopia Master
bis 16.02.
2020
4 Marcello Dudovich (1878 – 1962)
Fotografia fra arte e passione
bis 08.12. 5 Aline d’Auria
We are all going home
bis 08.12. 6 Karin Borghouts
The House
bis 08.12. 7 Miky Maoys 1
Esther Kempf, Laurent Kropf, Alfio Mazzei, Valentina Pini
bis 08.12. 8 Miky Maoys 2
Esther Kempf, Laurent Kropf, Alfio Mazzei, Valentina Pini
bis 08.12. 9 Menno Aden
Guarda che ti riguarda/ Room portraits
bis 08.12. 9 Pino Musi
Border Soundscapes
bis 08.12. 9 Crash / Stefano Comensoli, Nicolò Colciago
Fragments
Toccare un dito con il cielo
bis 08.12. 9 Crash / Francesco Maria Gamba
Contour
bis 08.12. 9 Luigi Boccadamo
Red bug I Ching project #01China
bis 08.12. 10 Willi Moegle
«DO NOT DROP»
bis 08.12. 11 Santiago Carrera
Natura Sospesa
bis 08.12. 12 Crash / Massimo Pacciorini
tra realtà e finzione
bis 08.12. Galleria Doppia V Lugano Santiago Carrera
Natura sospesa
bis 08.12. Casa del vino Ticino
Morbio Inferiore
Jean-Claude Fontana
Je t’appelais Seppi
Ich nannte dich Seppi,
Ti chiamavo Seppi
bis 08.04.
2020
Biblioteca dell’Accademia
di architettura
Mendrisio
Fotografare l’ira.
Le distruzioni a Parigi durante la Comune del 1871
19.10 – 21.12. Galleria
Daniele Agostini
Lugano
Salvatore Vitale
Control compound: changing of constants
19.10. – 31.07.2020 De Pietri Artphilein Foundation
Lugano
Pino Musi
La fotografia, un cantiere aperto
19.10.– 12.01.2020 Spazio 1929
Lugano
Sabelo Mlangeni
Country Girls
20.10 – 17.11. Casa Pessina
Ligornetto
Gian Paolo Minelli
Ex Barrio 26
27.10. – 12.01.2020 Fondazione d’Arte Museo Villa Pia
Porza
Marion Tampon-Lajarriette
bis 08.12. Casa Corti
Pellio Intelvi
Italia
Piero Martinello
Radicalia
bis 08.12. Galleria Ramo
Como, Italia
Igor Ponti
«South of no North»
Tagesveranstaltungen, siehe Detailprogramm (pdf)

 

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