Urs Tillmanns, 20. Oktober 2019, 09:16 Uhr

Von Cava, Blendenvorwahl und Zentraldingsbums …

Ein schwarzer Mercedes Kleinbus fährt von Sitges aufs Land hinaus. Sitges ist ein Fischerstädtchen etwa 40 Kilometer südwestlich von Barcelona, dessen frühesten Steine auf die Römerzeit zurückgehen. Es hat einen prachtvollen Sandstrand, malerische Strässchen mit weiss getünchten Häusern und kleine Gässchen, deren faszinierende Lichteinfälle jedes Fotografenherz höherschlagen lassen. Da und dort diskutieren gestikulierende Einheimische vor ihrem Glas Wein, Touristen hat es nur noch wenige – es ist Mitte Oktober.

Stephanie Immer: «Hallo liebe Leser. Mein Name ist Stephanie. Ich stamme in dritter Generation aus einer Fotografenfamilie – was in meinem Fall jedoch nicht viel heissen soll. Meine Kreativität drücke ich normalerweise im Tanz und dem Gesang aus. Darum blieb mein Genpool bis jetzt fein säuberlich in mir verpackt. Der zweite Grund, mich von meinen Genen zu drücken, war die ganze Technik von Blende, Zeit, Schärfentiefe, ISO … und was es alles noch für Menu-Einstellungen und Knöpfe gibt. Für alles kommt irgendwann der richtige Zeitpunkt, und so habe ich mich für den Fotokurs Street-Photography bei Markus Eichenberger angemeldet. Mit dabei: meine Nikon, eine Fujifilm Instax-Kamera und ein Fischaugen-Vorsatz für mein Handy. Die Reise nach Barcelona und Sitges hat sich in jeder Hinsicht gelohnt. In der kleinen Gruppe konnte vom Anfänger, bis zum Profi jeder profitieren. Das Programm war individuell und auf die Teilnehmer abgestimmt und lies immer Spontanität zu. Die bemerkenswerte Fähigkeit von Markus ist es, jeden an dem Punkt abzuholen, wo er gerade steht. Mit seiner herzlichen, geduldigen und bescheidenen Art, fühlt man sich rundum wohl – auch als tollpatschiger Anfänger, wie ich einer bin. Das Schönste an dem Kurs war, neue Blickwinkel zu entdecken, genauer hinzusehen, mich von Details berühren zu lassen. Barcelona und Sitges sind mit den vielen Farben, Schattenspielen, Lichtverhältnissen, der Natur und, und, und … ein Paradies für jeden Fotografen, selbst für mich als ‚Erstauslöser‘. Es war ein lehrreicher, spannender und fröhlicher Kurs, mit dem gewissen Etwas, den ich jedem weiterempfehlen kann, der diese Eigenschaften schätzt! Das aller, aller Bester war jedoch, diese unvergessliche Reise mit tollen Menschen geteilt zu haben!»

 

Sitges ist der Ausgangsort der kleinen Gruppe, die sich an den Streetphotography-Workshop von Markus Eichenberger eingeschrieben hat. Eigentlich hat er sich in den letzten Jahren vor allem mit seinen Sternenfotos und -videos (siehe Chasing Stars) einen Namen gemacht, zum Beispiel vor einem Jahr auf dem Schilthorn oder vor zwei Jahren auf dem Bettmerhorn – motivreiche Nächte, die man nie vergisst. Die Strassenfotografie ist der Kontrapunkt dazu. Hier ist Spontanität und Reaktionsvermögen gefragt, denn es gibt in den wenigsten Situationen eine zweite Chance.

Dass uns Markus nach Sitges gelockt hat und nicht ins grosse Barcelona, hat einen einfachen Grund: Er hat hier zweieinhalb Jahre lang gelebt, kennt jede Ecke, weiss wo man gut isst – und was man dazu trinkt. Zudem hat er hier jede Menge Freunde: Maika, die ihm in der Strasse spontan um den Hals fiel, Isabelle, die ihm schon mehrfach ihre ganze Lebensgeschichte anvertraut hat oder der 87jährige Pedro, der noch jeden Tag in seinem Coiffeur-Laden steht und den Leuten die Haare schneidet oder den Bart pflegt – mit 87! Aber was sollte Sitges denn ohne ihn machen?

Der Mercedes Kleinbus fährt weiter übers Land, durch malerische Dörfchen, vorbei an schattenspenden Pinienwäldern und riesigen Rebflächen. Reben, soweit das Auge reicht. Teils sind sie noch mit schweren Trauben behangen, da und dort ist die Ernte noch im Gang, teils sind die Rebstöcke leer und die Früchte in grossen Fässern gelagert. Den Monserrat, eines der Wahrzeichen Kataloniens, das vor allem durch das Benediktinerkloster Santa Maria aus dem 12. Jahrhundert bekannt ist, kann man in der Ferne nur erahnen – es ist zu diesig.

Jörg Mäder: «Nach dem ich seit über zehn Jahren eine Canon EOS 500 mein eignen nennen darf, habe ich die Chance gepackt, mich in meinen Herbstferien mit diesem etwas vergessenen ‚Ding‘ einmal eingehend auseinander zu setzten. Es hätte mir nichts Besseres passieren können, als den Kurs bei Markus Eichenberger zu buchen, um so, mit professioneller Unterstützung, vom Automatik-Modus in die Kreativwelt der manuellen Einstellungen zu wechseln. Dank viel Geduld und guten Erklärungen seitens des Kursleiters über die Möglichkeiten an der Kamera und den wertvollen Tipps für diverse Bildgestaltungen, sind mir einige einzigartige Fotos gelungen – sowohl mit der Systemkamera, aber auch mit meinem Smartphone. Die Möglichkeiten von Barcelonas und Sitges Kulissen, der Gassen, sehenswerten Gebäuden und interessanten Lichtverhältnissen, dies mit tollen Leuten zusammen, haben mächtig Spass gemacht. Nun bin ich sehr gespannt, was ich mit diesen Erkenntnissen in meiner gewohnten Umgebung alles künftig einfangen werde.»

 

Am Steuer ist Encarna. Kein Zufall, dass sie uns fährt, denn Encarna ist diplomierte Somelière, eine Weinkennerin, die uns alles über Traubensorten, den richtigen Erntezeitpunkt, über Gärung und die verschiedensten Arten von Wein erklären wird. Wir fahren durch’s Penedès, die wohl bedeutendste Weinregion Kataloniens, die auf Rotweine, aber auch auf Schaumwein spezialisiert ist. Unser Ziel ist Can Bas, ein Weingut mit einer über dreihundertjährigen Tradition und zwölf Hektaren Reben …

Can Bas produziert in erster Linie Schaumwein – eben den Cava – mit weissen Trauben der Sorten Macabeu, Parellada und Xarel.lo, dann aber auch Rotwein mit Tempranillo, Garnacha, Monastrell und Carinena. Die Produktion erfolgt, je nach Gärung und der Art des Weines, vorwiegend in Stahltanks, aber auch in Eichenfässern und – wie einst zu Römerzeiten – in Tonamphoren. Wir hatten Glück, dass in der Nähe gerade noch Traubenlese war, was man normalerweise auf der Besichtigungstour kaum zu sehen bekommt. Krönender Abschluss war die Weinprobe, bei der wir die vier wichtigsten Sorten probieren konnten, bevor es dann zu einem zweiten Weingut – Vilarnau in Sant Sadurní d’Anoia – ging, wo wir bei einem Lunch mit katalanischen Spezialitäten verwöhnt wurden. Auch hier: köstlichen Cava – schade, dass es beim Fluggepäck Gewichtsbeschränkungen gibt …

Katja Cevallos-Stöckli: «Schön ist es, mit den vielen Fotos die paar Tage nochmals Revue passieren zu lassen. Sie zeigen einerseits die hektische Grossstadt Barcelona mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten, dann das lebendige Städtchen Sitges, das mit einen vielen verträumten Gassen, dem wunderbaren Abendblau, der Kirche und den Museen, aber auch mit dem einladenden Strand vieles zu bieten hat. Überraschend waren auch die beiden Weingüter, die wir besuchen durften, mit ihren idealen Fotosujets, was mit der obligaten Weindegustation abgerundet wurde. Alles minutiös, perfekt und mit viel Herzblut von Markus organisiert! Der Workshop von Markus lehrt einem nicht nur viele praktische Tipps, sondern beinhaltet auch eine Präsentation, die das wichtigste über Street Photography zeigt. Markus stand zu jeder Zeit bereit, um bei Fragen weiterzuhelfen. Es ist ein Workshop und eine Reise, die noch lange in sehr guter Erinnerung bleiben wird – nicht zuletzt auch wegen der tollen Truppe die wir waren.»

 

Abends sass die Runde noch gemütlich beisammen: Stephanie, die Ballettlehrerin, die übrigens auch eine wundervolle Stimme hat, Jörg, der Informatiker, Katja, die schon beim Sternen-Workshop auf dem Schilthorn dabei war, und Markus, der uns viel Einleuchtendes über Bildgestaltung und fototechnische Raffinessen beibrachte – sowie der Schreiberling, der nun dabei ist das Ganze in Worte zu fassen. Zur Gestaltungslehre gehörten auch die formalen Grundgesetze, wie etwa die berühmte Zweidrittel-Regel oder die Zentralperspektive, aus der sich dann das geflügelte Wort der «Zentraldingsbums» ergab – bei dem jeder wusste, was damit gemeint war.

Um das eigentliche Thema des Workshops zu praktizieren, begab sich am nächsten Tag die frisch motivierte Gruppe nach Barcelona. Es war Samstag, der 12. Oktober, spanischer Nationalfeiertag, und damit war auch für genug Leben in den Strassen der katalanischen Hauptstadt gesorgt. Die wichtigsten Verkehrsachsen der Stadt waren gesperrt und mit Umzügen bevölkert, die singend, tanzend und mit ihren gelbroten Transparenten für farbenfrohe Motive sorgten – Strassenfotografie, wie man sie sich bunter und lebendiger kaum ausmalen kann. Erstaunlich, dass die meisten Demonstranten Pro-Spanien warben und dass es kaum Gegendemonstrationen der Katalanen gab. Hingegen schlossen sich einige bolivianischen Gruppen den Umzügen an, die auf diese Weise ihren gleichzeitigen Nationalfeiertag begingen. Alles verlief friedlich. Niemand ahnte, dass in den Folgetagen katalanische Extremisten den Flughafen lahmlegen und mit schweren und tagelang andauernden Ausschreitungen das Leben Barcelonas massiv stören würden.

Markus Eichenberger: «Donnerstagabend. Langsam treffen die Teilnehmer des Barcelona Street Photography Workshop in Sitges ein, einem Fischerdorf südwestlich von Barcelona. Ich freue mich immer sehr darauf den Teilnehmern ‚meine kleine Welt‘ hier zeigen zu dürfen. Ich habe zweieinhalb Jahre hier gelebt und kenne fast hundert Einheimische, welche ich manchmal schon ziemlich vermisse seitdem ich wieder in der Schweiz lebe. Wir machen eine Tour durch Sitges, treffen viele Leute, auch den 87jährigen Pedro, der immer noch acht Stunden pro Tag den Leuten Haare schneidet und kosten danach die besten Tapas der Region. Die beiden Weingüter, die wir am nächsten Tag besuchen, bieten ein Fülle von einzigartigen Motiven. Ich erkläre Stephanie und Jörg wie man mit der richtigen Blende die Schärfentiefe beeinflusst und so verschiedene Bildeffekte erzielen kann. Am Abend gibt es etwas Theorie zur Street Photography mit Beispielen von berühmten Fotografen, die verdeutlichen, wie man mit Schatten, Farbtupfern und Komposition wirkungsvolle Aufnahmen gestalten kann. Dies setzen wir dann auch prompt am nächsten Tag in Barcelona bei einer Strassendemo in die Praxis um, bevor wir durch die schmalen Gassen des Bario Gotico schlendern und dort das drittälteste Geschäft in Barcelona besuchen, wo der Film ‚Das Parfüm‘ gedreht wurde. Die Altstadt Barcelonas bietet eine Fülle von Motiven, die ideal sind, um die Theorie in fantastische Bilder umzusetzen.»

 

Zufrieden, mit vollen Speicherkarten und leeren Akkus, kehrte die Gruppe wieder ins friedliche Sitges zurück, um bei kulinarischen Köstlichkeiten gemeinsam einen letzten Abend zu verbringen. Ein Spaziergang zur Blauen Stunde dem Strand entlang und durch die nächtlichen Gässchen rundeten einen erlebnisreichen Workshop ab, bei dem wir alle viel vom fundierten Fachwissen, der jahrelange Erfahrung und den fabelhaften Ortskenntnissen von Markus Eichenberger profitieren konnten.

Text: Urs Tillmanns

Weitere Infos:

• zu Markus Eichenberger 

• zum Weingut Can Bas  

• zum Weingut Vilarnau  

• zur Weinregion Penedès 

• und zu Stephanie Immer

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