Raum und Zeit – Mit Symbolen Raum- und Bewegungseindrücke erzeugen
Die Fotografie kann nur ganz eingeschränkt die Welt so zeigen, wie wir sie mit unseren Augen wahrnehmen. Sie ist eine Abstraktion. Die vier Raum-Zeit-Dimensionen werden auf die zwei Dimensionen einer Fläche verkürzt.
Unsere Augen sehen die Umwelt dreidimensional, die Fotografie ist zweidimensional. Wir nehmen Bewegungen wie im Film wahr, die Fotografie schneidet einen kurzen Ausschnitt heraus. Wollen wir einen Raum- oder Bewegungseindruck (ein Gefühl für Raum oder Bewegung) im Bild «zeigen», so benötigen wir dazu Hilfsmittel.
Raum und Zeit
Raum- und Bewegungssymbole können uns nicht nur einen Raum- oder Bewegungseindruck vermitteln (uns das Gefühl für die Tiefe des Raumes und die Geschwindigkeit der Bewegung geben), sie sind auch mächtige Gestaltungsmittel in den Händen eines erfahrenen und kreativen Fotografen.
Raum | Die Fotografie bildet einen dreidimensionalen Raum zweidimensional ab. Schon aufgrund dieser Tatsache kann die Fotografie keine wahrheitsgetreue Abbildung sein. Wir sind mit unserem Sehapparat nicht in der Lage zu erkennen, wie ein dreidimensionaler Körper bei einer Projektion auf eine Fläche perspektivisch richtig wiedergegeben wird. Aus diesem Grund zeichnen Kinder Häuser ohne stürzende Linien, genauso wie es die Maler seit Jahrtausenden tun (obwohl das den optischen Regeln widerspricht). Da wir nur in einem engen Blickwinkel von ca. zwei Grad scharf sehen, erkennen wir diese optische Regel nicht. Wir wissen, dass ein Gebäude senkrecht auf dem Boden steht, deshalb wollen wir es auch so auf einem Bild sehen. Mit geeigneten Hilfsmitteln können wir aber einen räumlichen Eindruck erzeugen.
Höhenangst | Dieser Blick aus einem Heissluftballon direkt in die Tiefe vermittelt einen starken Raumeindruck. Es entsteht ein ähnliches Gefühl, wie wenn Sie an einem Felsvorsprung stehen und direkt in die Tiefe blicken. Solche Situationen sind für nicht schwindelfreie Personen problematisch, weil bei ihnen Höhenangst entstehen kann. © Peter Baumann
Raumsymbole | Für Andreas Feininger (in «Die hohe Schule der Fotografie») gibt es sieben Symbole der fotografischen Raumdarstellung:
• Perspektive: Eine optische Täuschung, parallele Linien werden nicht parallel gezeigt.
• Verjüngung: Gleich grosse Gegenstände werden nach hinten kleiner abgebildet.
• Verkürzung: Grafische Elemente werden verkürzt wiedergegeben.
• Überdeckung: Durch Überdeckung wird verdeutlicht, was vorn und hinten liegt.
• Stellung: Ein hoher Horizont verstärkt die Tiefenwirkung, ein tiefer reduziert sie.
• Staffelung: Durch die Staffelung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund entsteht ein Tiefeneindruck.
• Scharf-Unscharf: Durch das Spiel von Schärfe und Unschärfe entsteht ein Eindruck von Tiefe.
• Hell-Dunkel: Der Gegensatz von hell und dunkel erzeugt eine Tiefenwirkung. Dunkel strebt nach vorne, hell nach hinten.
Die Perspektive kann zeichnerisch auf viele Arten genau (Fluchtpunktperspektive) oder angenähert (z.B. Axonometrie) dargestellt werden. In der Fotografie wird mit der Fluchtpunktperspektive gearbeitet. Bei der Zentralperspektive liegt die Rückwand parallel zur Bildebene und die Seitenwände senkrecht dazu. Die raumparallelen Kanten treffen sich dann in einem zentralen Fluchtpunkt, der auf der Horizontlinie liegt. Ein Hauptmerkmal der Zentralperspektive ist die Frontalansicht des Objektes. Solche Bilder erzeugen in der Regel eine starke «Sogwirkung», denn der Blick des Betrachters wird in die Mitte zum Fluchtpunkt geführt.
Eine weitere Variante ist die Perspektive mit zwei Fluchtpunkten (auch Übereckperspektive genannt). Dabei verlaufen die parallelen Linien eines geometrischen Körpers auf beiden Seiten je auf einen Fluchtpunkt zu, der ebenfalls auf der Horizontlinie liegt. Bei Objektiven mit kurzen Brennweiten (und grossen Bildwinkeln) verlaufen diese Linien steil zu den nahen Fluchtpunkten, bei langen Brennweiten (und kleinen Bildwinkeln) flacher mit weit entfernten Fluchtpunkten.
Wird die Kamera nach oben oder unten gekippt, so entstehen Bilder mit drei Fluchtpunkten (»Frosch- oder Vogelperspektive«). Bei Gebäuden treffen sich dann die Kanten der drei verschiedenen räumlichen Ebenen jeweils in einem eigenen Fluchtpunkt. Solche Aufnahmen wirken dynamisch und ungewohnt.
Mit einer Fachkamera (mit beweglichen Objektiv- und Bildstandarten) oder mit Tilt-Shift-Objektiven können Sie die Darstellung der Perspektive beeinflussen, weil Sie die Kamera horizontal waagrecht und parallel zur Rückwand ausrichten und das Objektiv nach oben oder unten, links oder rechts verschieben können. Die Bildebene entscheidet über die Perspektive, die Objektivebene über den aufgenommenen Bildwinkel. So lassen sich auch hohe Gebäude vom Boden aus so aufnehmen, wie sie ein Maler malen würde.
Ungewohnte Perspektive | Ein Blick direkt nach oben erzeugt häufig eine für uns ungewohnte Perspektive, die bei dieser Aufnahme von Hochhäusern in Manhattan (New York City, USA) noch durch die Zentralperspektive und die steil zusammenlaufenden Linien verstärkt wird. Solche Aufnahmen erzeugen ein Raumgefühl mit einer starken Tiefenwirkung. © Martin Zurmühle
Verjüngungen wurden schon seit Urzeiten zur Andeutung der Perspektive verwendet. Wir wissen aus Erfahrung, dass ein gleich grosser Gegenstand kleiner wird, wenn er weiter von uns entfernt ist. Die einzige Voraussetzung für diese Art der Raumdarstellung ist, dass wir die Grösse des abgebildeten Gegenstandes kennen oder abschätzen können. Bei unbekannten Motiven ohne klar erkennbare Grössenbezüge (z.B. weite Wasserflächen) versagt diese Methode.
Verkürzungen entstehen, wenn wir einen Gegenstand nicht mehr genau senkrecht, sondern schräg aufnehmen. Das führt zu Verzerrungen, denn einzelne Seiten werden verkürzt abgebildet. So entsteht ein Eindruck von Tiefe. Je grösser der Winkel der Abweichung von der Senkrechten ist, desto stärker wird die Verzerrung.
Überdeckungen sind die einfachste Form der Raumdarstellung und sie werden bei Kindern ab dem Alter von ca. acht Jahren zur Andeutung von Tiefe eingesetzt. Es entspricht unserer Lebenserfahrung, dass vorne liegende Gegenstände die dahinter liegenden verdecken. Sie können mit diesem Effekt spielen, wenn Sie zwei Gegenstände nicht überlappen lassen, sodass der Betrachter nicht sieht, wo diese räumlich liegen.
Die Lage des Horizonts spielt in der Landschaftsfotografie eine wichtige Rolle. Es liegt an Ihnen zu entscheiden, ob Sie den flach wirkenden Himmel oder den räumlich tiefer wirkenden Boden mehr betonen wollen. Auch die Höhe der Kamera über dem Boden beeinflusst die Tiefenwirkung. Ein tiefer Kamerastandpunkt führt zu einer Betonung des Vordergrunds.
Vorder-, Mittel- und Hintergrund | Die klassische Gliederung einer Fotografie in die Bereiche Vorder-, Mittel- und Hintergrund erzeugt eine Tiefenstaffelung. Diese führt gleichzeitig zu einer Verstärkung der Tiefenwirkung. Hier wird dieser Effekt noch kombiniert durch die Einrahmung des Motivs mit der zerschlagenen Frontscheiben des alten Autos. © Peter Baumann
Durch eine Staffelung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund kann dem Betrachter ein Tiefeneindruck vermittelt werden. Das Spiel mit dem Fokus und der Schärfe ist ein klassisches Mittel zur Verstärkung der Tiefenwirkung. Mit dem Fokus betonen wir unsere Motive. Wird der Raum hinter dem Motiv unscharf abgebildet, so scheint der Raum tiefer zu sein, als wenn alles scharf gezeigt wird. Je stärker dieser Unschärfeeffekt ist, desto tiefer scheint der Raum zu sein.
Die Luftperspektive: Durch den atmosphärischen Dunst nehmen die Kontraste von vorne nach hinten ab, was dem Bild seine starke Tiefenwirkung verleiht. © Martin Zurmühle
Bei der Luftperspektive wird ein Tiefeneindruck erzeugt, indem die Kontraste von vorne nach hinten abnehmen und die Helligkeit von vorne nach hinten zunimmt. Die Farbperspektive sorgt für einen Tiefeneindruck, indem im Vorder-, Mittel- und Hintergrund unterschiedliche Farbtöne eingesetzt werden. Im Vordergrund dominieren warme Farben (gelb, orange, rot, braun), im Mittelgrund und im Hintergrund kältere Grün- und Blautöne.
Die Farbperspektive: Das Rot drängt hier in den Vordergrund und das Blau in den Hintergrund. So wird die Tiefenwirkung verstärkt. © Martin Zurmühle
Bewegung | Schnelle Bewegungen können von unseren Augen nur sehr schlecht erfasst werden. Es war für die Maler ausgesprochen schwierig, ein Pferd im Galopp zu malen, weil sie die schnellen Bewegungen der Beine nicht richtig sehen konnten. Solange Sie unbewegte Motive mit einer feststehenden Kamera fotografieren, betreffen Sie die nachfolgenden Ausführungen nicht. Möchten Sie aber sich bewegende Motive aufnehmen oder ihre Kamera während der Aufnahme bewegen, so spielen die Symbole, wie Bewegungen angedeutet und dem Betrachter vermittelt werden, eine zentrale Rolle, ob Ihr Bild vom Betrachter gut verstanden wird und Sie so die von Ihnen angestrebte Bildwirkung auch erreichen. Dann müssen Sie diese Symbole in Ihr Gestaltungskonzept integrieren.
Eine perfekte Symbolik von Raum und Zeit mit der eingefrorenen Bewegung der Tänzerin im Vordergrund und der Landschaft in der Abendstimmung, welche dem Bild eine starke Raumwirkung verleiht. © Martin Zurmühle
Bewegungssymbole | Wie bei der Raumdarstellung gibt es auch verschiedene Methoden, wie Bewegungen in der Fotografie gezeigt werden können:
• Einfrierung: Kurze Belichtungszeiten «frieren» die Bewegung ein.
• Verwischung: Mit Verwischungen lassen sich Bewegungen symbolisieren.
• Mehrfachaufnahmen: Durch mehrere Aufnahmen auf einem Bild werden Bewegungsabläufe sichtbar.
• Zeitaufnahmen: Durch sehr lange Belichtungszeiten verwischen oder verschwinden sich bewegende Objekte.
• Mitziehen: Durch das Mitziehen der Kamera wird ein sich bewegendes Motiv »eingefroren« und gleichzeitig der Hintergrund verwischt abgebildet.
• Kamera-Blitz: Eine lange Belichtungszeit verwischt die Bewegung, der Blitz »friert« sie zu einem Zeitpunkt ein.
• Bildaufbau: Durch den Bildaufbau (z.B. Kippen der Kamera) wird die Bewegung angedeutet oder der Bewegungseindruck verstärkt
(nach Andreas Feininger «Die hohe Schule der Fotografie»)
Einfrieren der Bewegungen | Kurze Belichtungszeiten (im Beispiel 1/3000 s) lassen auch schnelle Bewegungen wie erstarrt erscheinen. Bei diesem Motiv der aufspritzenden Welle zeigt die kurze Belichtungszeit jeden einzelnen Wassertropfen und verstärkt so die Dramatik der Aufnahme. © Martin Zurmühle
Grundsätzlich gibt es zwei Strategien zum Umgang mit Bewegungen: Sie können Sie mit einer kurzen Belichtungszeit «einfrieren» oder mit einer langen Belichtungszeit verwischen lassen. Welche Methode die richtige ist, hängt vom Motiv und Ihren Zielen ab, die Sie mit der Aufnahme erreichen wollen. Wenn Sie nicht sicher sind, dann setzen Sie einfach beide Methoden ein und entscheiden später, welche die bessere ist. Erfahrungsgemäss wirken Belichtungszeiten an den Rändern des Belichtungsspektrums (extrem kurze oder sehr lange) für uns interessanter, weil sie uns eine Welt zeigen, die wir so mit unseren Augen nicht sehen und daher spezieller wirken, als eine mittlere Belichtungszeit (um 1/125 s), die in etwa unserem Sehen entspricht.
Verwischen der Bewegungen | Fotografieren wir einen Wasserfall mit einer Belichtungszeit von 1/60 oder 1/125 s, so gleicht das Bild dem Eindruck, den wir mit unseren eigenen Augen beim Betrachten des Wasserfalls erhalten. Das Wasser wirkt so aber weder «eingefroren» noch verwischt. Um den Bewegungseindruck des Wassers zu verstärken, können wir mit einer längere Belichtungszeit (im Beispiel 2 s) das Wasser verwischen lassen. Je länger wir die Belichtungszeit wählen, desto stärker wird das Wasser verwischt und desto schneller erscheint es uns. © Martin Zurmühle
Es gibt viele Methoden, wie Sie mehrere Aufnahmen auf einem Bild zeigen können. Am perfektesten gelingt es, wenn Sie mit einer Serienautomatik eine Bewegung aufnehmen und anschliessend die Bilder in der Bildbearbeitung zusammensetzen. Voraussetzung dazu ist eine Kamera mit einer schnellen Bildfolge und viel Licht, um kurze Belichtungszeiten zu ermöglichen. Sie können einen ähnlichen Effekt auch in einem schwarzen Raum mit Stroboskopblitzaufnahmen erreichen. Aufnahmen mit sehr langen Belichtungszeiten (ab 10 s) wirken oft surreal auf uns. Auch leichte Bewegungen werden stark verwischt und zeigen zum Beispiel beim Wasser sehr weich wirkende Oberflächen. Sich schnell bewegende Objekte verschwinden vollständig auf dem Bild. Das Resultat zeigt uns einen Bildeindruck wie bei den ersten Aufnahmen der Fotografie, bei denen auch keine Fahrzeuge und Passanten sichtbar waren, weil die sehr langen Belichtungszeiten von mehreren Minuten alle bewegenden Objekte «verschwinden» liessen.
Bei schnell sich bewegenden Motiven bietet sich das Mitziehen an, um den Eindruck der Bewegung zu symbolisieren. Die Kunst liegt darin, das richtige Tempo für das Mitziehen zu finden. Dazu braucht es etwas Übung. Bei einer Belichtungszeit von ca. 1/15 bis 1/60 s wird das Hauptmotiv meistens noch scharf abgebildet, der Hintergrund gleichzeitig (je nach der Geschwindigkeit des Mitziehens) mehr oder weniger stark verwischt.
Die Langzeitbelichtung ist ein häufig angewandtes Stilmittel, um Bewegung zu symbolisieren. Der Betrachter ist nicht in der Lage die Geschwindigkeit des sich drehenden Karussells einzuschätzen. © Martin Zurmühle
Eine kreative Idee für das Darstellen von Bewegung ist es, in einem dunklen Raum mit einer Lichtquelle während einer langen Belichtungszeit Bewegungen zu machen. Am Ende oder am Anfang dieser Bewegungen «friert» ein Blitz das Motiv ein. Während den Bewegungen selbst ist nur die Lichtquelle sichtbar. So entstehen interessante Lichteffekte. Das Gleiche funktioniert auch bei Nacht mit den Lichtern von Autos.
Neben diesen technischen Mitteln zur Symbolisierung von Bewegung besitzen Sie auch mit der Bildgestaltung viele Möglichkeiten, einen Bewegungseindruck zu vermitteln. Kippen Sie die Kamera, so entsteht automatisch aus einer statischen eine dynamische Komposition, welche die Bewegung betont. Sie können auch ein Motiv aussen am Bildrand anordnen, wie wenn es sich schnell aus dem Bild bewegen würde. Dadurch entsteht auch ein Eindruck der Geschwindigkeit, denn der Betrachter denkt, dass das Motiv für den Fotografen zu schnell war, um es in der Mitte des Bildes zu erwischen. Diagonalen und Kreise wirken als Formen dynamisch und können so den Bewegungseindruck verstärken.
Es lohnt sich, mit diesen verschiedenen Methoden zu experimentieren. Sie können auch verschiedene Symbole auf einem Bild kombinieren (z.B. starke Verwischungen und eine dynamische Komposition). Entscheidend ist einzig, ob Sie damit Ihr angestrebtes Ziel erreichen und eine starke Wirkung beim Betrachter erzielen. Auch hier ist das richtige Zusammenspiel der Elemente für den Erfolg entscheidend.
Der Text ist eine Leseprobe aus
Martin Zurmühle «Das grosse Lehrbuch – Bilder analysieren»
Lesen Sie auch die Rezension auf Fotointern.ch (15. Dezember 2018)
Bibliografie
Martin Zurmühle
«Das grosse Lehrbuch – Bilder analysieren»
444 Seiten, Hardcover, gebunden
durchgehend vierfarbig illustriert
Format 235 x 235 mm
Vier-Augen-Verlag, Luzern
2019, ISBN 978-3-9523647-8-9
Preis: beim Verlag CH 59.90
Regulär: CHF 79.90 / EUR 49.90
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