Urs Tillmanns, 25. April 2020, 11:16 Uhr

Buchtipp «Aenne Biermann – Fotografin»

Der Bildband über das fotografische Schaffen von Aenne Biermann ist als Begleitbuch zu zwei Retrospektiven entstanden. Die eine war im Sommer 2019 in der Pinakothek München gezeigt worden, die andere ist gegenwärtig im Museum Folkwang in Essen (21. Februar bis 1. Juni 2020) zu sehen. Das Buch dokumentiert das Schaffen einer wenig bekannten Fotografin aus den 1920er und -30er Jahren, die in jener Zeit durch ihren modernen Bildstil und die Visualisierung insbesondere kleiner, unscheinbarer Objekte auffiel.

Jene Epoche war von den Stilrichtungen des «Neuen Sehens» und der «Neuen Sachlichkeit» geprägt, in denen die Fotografie, wie viele andere Kunstformen, nach neuen Ausdrucksweisen suchten. Man hatte sich an den romantischen, weichgezeichneten Kunstfotografien sattgesehen und pflegte nun einen Stil der realistischen, gegenständlichen Fotografie. Richtungsweisend waren die Künstler des Bauhauses in Dessau, die sich mit allen Arten des schöpferischen Gestaltens befassten und  – nicht zuletzt zur Dokumentation ihres handwerklichen und künstlerischen Schaffens – die Fotografie in einer neuen, realistischen Stilform nutzten. Der Stil der Neuen Sachlichkeit fand nicht nur in Europa ihre Anhänger, sondern er beeinflusste die Fotografie weltweit mit berühmten Namen wie László Moholy-Nagy, Man Ray, Albert Renger-Patzsch, August Sander, Karl Bloßfeldt, Edward Steichen, Edward Weston und Hans Finsler.

In diese Zeit fällt auch das Schaffen von Aenne Biermann. Sie war Autodidaktin und begann anfangs der 1920er Jahre vor allem im familiären Umfeld zu fotografieren, bevor sie sich der damals trendigen, detailgenauen Fotografie von Gegenständen, vor allem Steinen, widmete und ihr Interesse immer stärker auch Porträts, Landschaften und Stillleben zuwandte. Viele ihrer Bilder hatten experimentellen Charakter, sie erprobte ungewohnte Perspektiven, unübliche Bildausschnitte, machte Mehrfachbelichtungen, Collagen und fotografierte Spiegelungen.

Mit ihren Ausstellungen – 1928 mit grossformatigen Pflanzenfotografien im Graphischen Kabinett in München, 1929 im Folkwang Museum Essen und 1930 in Jena mit Makroaufnahmen, Porträts und Sachdarstellungen und nachfolgenden Publikationen – wurde die Öffentlichkeit auf Aenne Biermann aufmerksam. In den beginnenden 1930er Jahren zeichnet sich der Höhepunkt Ihres Schaffens ab, der im Januar 1933 mit ihrem frühen Tod im Alter von nur 34 Jahren ein jähes Ende fand. Als Jüdin wurde ihr damit die Verfolgung durch die Nationalsozialisten erspart, der ihr Mann und ihre zwei Kinder durch ihre Flucht nach Palästina entgingen. Das Archiv von Aenne Biermann wurde in Triest beschlagnahmt und gilt seither als verschollen.

Der vorliegende Bildband dokumentiert das Schaffen von Aenne Biermann in vortrefflicher Form und trägt allen Stilarten und Motivbereichen dieser Fotografin Rechnung. Damit wird nicht nur das Werk von Aenne Biermann in Erinnerung gerufen, sondern es kommen in den sieben Begleittexten sehr viele aufschlussreiche Informationen zusammen.

Für wen ist dieses Buch? Es ist in erster Linie eine Retrospektive über Aenne Biermann in Buchform, die für fotohistorisch Interessierte von Wichtigkeit sein dürfte, vor allem auch, weil die Epoche der Neuen Fotografie und der Neuen Sachlichkeit durch das Werk dieser Fotografin repräsentativ dargestellt wird. So wird das Schaffen einer weniger bekannten Künstlerin jener Zeit in Erinnerung gerufen und gebührend gewürdigt.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Verlages

Aenne Biermann (1898–1933) zählt zu den festen Grössen der Fotografie der 1920er- und 1930er-Jahre. Im Gegensatz zu Fotografenkolleginnen wie Florence Henri, Germaine Krull oder Lucia Moholy erfuhr sie weder eine künstlerische Ausbildung noch verkehrte sie in den Avantgardekreisen der Grossstadtzentren – und obwohl sie nur wenige Jahre fotografierte, entwickelte Biermann einen eigenen, signifikant modernen Bildstil, der sie innerhalb kürzester Zeit als Vertreterin der zeitgenössischen Avantgardefotografie etablierte. Sie richtete ihre Kamera auf Pflanzen, Dinge, Menschen und Alltagssituationen. Mittels klarer Strukturen, präziser Kompositionen mit Licht und Kontrast sowie enger Bildausschnitte entlockte sie den Motiven ihres persönlichen Umfelds eine besondere Poesie und vermittelte, wie sie 1930 schrieb, eine «Vertrautheit mit den Dingen».

Die Monografie präsentiert das Werk Aenne Biermanns als ein Beispiel für Moderneströmungen jenseits der Zentren der Avantgarde und thematisiert die Verflechtungen von Laienkunst und Avantgardefotografie in den 1920er-Jahren wie auch das Selbstverständnis bürgerlicher Frauen in Bezug auf künstlerische Produktion und individuelle Entwicklungen.

 

Der Inhalt

Vorwort
Bernhard Maaz und Peter Gorschlüter

Das intuitive Erfassen optischer Reize
Bemerkungen zur Fotografin Aenne Biermann
Simone Förster

 

 

 

Forschungsreisen
Die Welt des Kindes in den Fotografien von Aenne Biermann
Anna Volz

 

 

 

Modernität als visuelles Argument
Aenne Biermanns Bildpublikationen um 1930
Katharina Täschner

 

 

 

«Sehr scharfe Steinaufnahmen» von Aenne Biermann
im Kontext ihrer Zeit
Stefanie Odenthai

 

 

 

«Jedes Blatt ein Paradigma»
Auf Spurensuche nach den ersten Museumsausstellungen Aenne Biermanns
Rainer Stamm

 

 

 

Neue Sachlichkeit, neue Pädagogik
Zum Band Aenne Biermann. 60 Fotos, 1930
Olivier Lugon

Biografie

Bibliografie

Liste der abgebildeten Werke und Dokumente

 

Die Autoren und Herausgeber

Simone Förster ist Kuratorin der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Pinakothek der Moderne, München.

Thomas Seelig ist Leiter der Fotografischen Sammlung am Museum Folkwang Essen.

Peter Gorschlüter, Direktor des Museum Folkwang, Essen

Olivier Lugon, Professor für Fotogeschichte an der Universität Lausanne

Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen

Stefanie Odenthal, Kuratorin und Geschäftsführerinder Alfred Ehrhardt Stiftung, Berlin

Rainer Stamm, Direktor des Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg

Katharina Täschner, Stipendiatin des Programms «Museumskuratoren für Fotografie» der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung

Anna Volz, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Pinakothek der Moderne, München

 

Bibliografie

«Aenne Biermann – Fotografin»

184 Seiten, 68 farbige und 35 sw Abbildungen
broschiert, Format 21 x 28 cm
1. Auflage, 2020
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich
Herausgegeben von Simone Förster und Thomas Seelig.
Mit Beiträgen von Simone Förster, Olivier Lugon, Stefanie Odenthal, Rainer Stamm, Katharina Täschner und Anna Volz
In Zusammenarbeit mit der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Pinakothek der Moderne, München und dem Museum Folkwang Essen
Preis: CHF 39.00 / EUR 38.00
ISBN 978-3-85881-673-3

Das Buch kann im Buchhandel erworben, direkt beim Verlag bestellt oder im Ausland hier geordert werden

 

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