Urs Tillmanns, 16. September 2020, 17:52 Uhr

Halbzeit-Impressionen vom Festival Images Vevey 2020

Vevey steht ganz im Zeichen der zeitgenössischen Fotografie. Noch bis Sonntag 27. September 2020 sind im Freien, auf den Strassen, in den Parks von Vevey und in ungenutzten Gebäuden Fotografie-Ausstellungen zu sehen, welche die kreative Vielfalt der modernen Fotografie verdeutlichen. Dabei verfolgt die Biennale Images wie jedes Jahr das Ziel neben etablierten Künstlern auch viele junge Talenten zu präsentieren. Mit monumentalen Installationen und bewusst ungewöhnlichen Inszenierungen, laden die ausgestellten Projekte die Besucher ein, die Fotografie anders zu erleben … In einem alten Gefängnis, in einer Kirche, in einer Schmiede oder in einem Theater.

Nachdem wir bereits zur Festivaleröffnung in einem Interview mit dem Festival-Direktor Stefano Stoll viele Hintergrundinformationen zur Images 2020 vermittelten, wollen wir nun zur Halbzeit des Festivals auf einige Highlights hinweisen – ausgesucht nach persönlichem Geschmack und Gefallen …

 

Jeff Mermelstein: «Sidewalk» (Plan Nummer 30)

Monumental, an der Fassade der Waadländer Kantonalbank gegenüber des Bahnhofs, ist ein Bild des amerikanischen Fotografen Jeff Mermelstein aus der berühmten «SideWalk»-Reihe zu sehen. An der Schnittstelle zwischen Fotojournalismus und Voyeurismus angesiedelt, gibt Mermelstein die städtische Atmosphäre mit einem Hauch von Humor wieder und erschafft an Ort und Stelle ein Porträt jener Menschen, die das Rückgrat der Stadt bilden..

 

Peter Funch: «42nd and Vanderbilt» (13)

Die Aufgabenstellung der Aufnahme ist simpel: täglich am selben Ort, zur selben Zeit. An der Kreuzung von 42. Strasse und der Vanderbilt Avenue hat Peter Funch neun Jahre lang jeweils morgens zwischen 8:30 und 9:30 seine Kamera auf unbekannte Passanten gerichtet. Durch die Darstellung der Gewohnheiten einzelner Personen, die er mehrmals zur selben Zeit auf dieser Kreuzung antrifft, illustriert der Fotograf den repetitiven Charakter einer auf die Minute getakteten und durchgeplanten Existenz.

 

Edoardo Delille & Giulia Piermartiri: «Diving Maldives» (09)

Studien der Vereinten Nationen zufolge werden die Malediven unter den ersten Länder sein, welche im Zuge der Klimaveränderung zu verschwinden drohen. Die Reihe «Diving Maldives» illustriert diese schwer greifbare Realität auf unerwartete und beeindruckende Art und Weise: das Künstlerpaar hat Unterwasserfotografien von Touristen auf Flächen und Wände an den Wohnorten der indigenen Bevölkerung projiziert. Die Einwohner selbst stehen ebenfalls im Bild, mit dem Bewusstsein, dass sie unausweichlich dem ökologischen Exil geweiht sind.

 

Juno Calypso: «What to do with a Million Years» (07)

Girard B. Henderson, Direktor einer Kosmetikfirma, liess sich aus Angst vor dem kalten Krieg in Las Vegas ein unterirdisches Haus mit einem Garten mit Kunstrasen, Schwimmbad und Minigolfanlage bauen. June Calypso durfte in dieser vergoldeten Schutzoase ihre Kunstfigur Joyce inszenieren. Die Selbstporträtreihe «What To Do With A Million Years» vermengt Sinnlichkeit, Kitsch, Glamour, Realität und Fiktion, und evoziert Prepperfantasien und Unsterblichkeitsträume. Die Ausstellung findet in einem seltsamen unterirdischen Raum in Vevey statt.

 

Jean-Marie Donat: «Rorschach» (10)

Seit über 35 Jahren sammelt der Franzose Jean-Marie Donat Bilder auf Flohmärkten. Die am Festival Images Vevey präsentierte Bilderreihe besteht aus sich im Wasser spiegelnden Bergpanoramas. Donat dreht die Fotografien um 90°. Plötzlich verwandelt sich die von der Wasserspiegelung kreierte Symmetrie, in an Rorschachtests erinnernde, visuelle Abstraktionen. Mittels einer einfachen Rotation animiert Donat die Besucher des Festivals, sich in Angesicht des Bergpanoramas am Genfersee zu eigenen Interpretationen inspirieren zu lassen.

 

Beni Bischof: «Intensity Intensifies» (02)

Beni Bischof realisiert mit «Intensity intensifies» eine aus GIFs bestehende Arbeit für Instagram. Der Schweizer Künstler verwendet dieses Format um während des Lockdowns im Frühjahr 2020 Hunderte solcher Animationen zu kreieren. Als Instagram Stories veröffentlicht, sind sie innert 24 Stunden wieder verschwunden. Der dadaistischer Tradition verpflichtet und mit einem guten Schuss Punk versehen, sind Bischofs freche Interventionen gleichzeitig ein kritischer Kommentar zur Konsumgesellschaft und ein Verweis auf die Vereinheitlichung der Bilder, welche die sozialen Netzwerke verstopfen.

 

Christian Boltanski: «Chance» (03)

Christian Boltanski sucht mit seinen Werken Antworten auf existentielle Fragen, indem er Realität und Fiktion vermischt. Seine Installation «Chance», bestehend aus einem enormen Stahlgerüst, zeigt Dutzende Fotografien von Gesichtern Neugeborener aus polnischen Tageszeitungen. Gleichzeitig lädt eine Vorrichtung mit Bildschirm die Besucher dazu ein, Zufallsbilder aus verschiedenen Gesichtern zu generieren, vom Neugeborenen bis zum Greis. Zum Abschluss der Installation zeigen zwei mit dem Internet verbundene Zähler die globale Geburten- und Todesrate in Echtzeit, und visualisieren so den gesamten Lebenszyklus in Zahlen wieder.

 

Kensuke Koike & Thomas Sauvin: «No More, No Less» (24)

Kensuke Koike und Thomas Sauvin bündeln ihre kreative Energie für die Arbeit «No More, No Less». Das aus den 1980er Jahren stammende Übungsheft eines Fotografiestudenten in Schanghai ist der Startpunkt für ein gemeinsames Projekt. Das Heft enthält eine Reihe anonymer Schwarz-Weiss-Porträts. Gemeinsam entscheiden Koike und Sauvin diese Zeugen einer vergangenen Zeit zu verwandeln. Mit Skalpell und Klebstoff zerlegt und rekonstruiert der japanische Künstler die Bilder in überraschende, psychedelische Collagen.

 

Kristine Potter: «Dark Waters» (35)

Kristine Potter’s Dark Waters ist eine Reflexion über die Gewalt des Territoriums und der Populärkultur der Südstaaten von Amerika. Die Künstlerin stellt Frauenporträts Landschaften gegenüber, die heiter erscheinen, in Wirklichkeit aber Orte brutaler Gewalt während der Kolonialisierungszeit und Teil der Mythologie des amerikanischen Südens geworden sind. Kristine Potter lädt die Besucher in einen dunklen Konzertsaal ein, um an einer komplexen musikalischen Erfahrung teilzunehmen. Für ihr Projekt Dark Waters wird Kristine Potter mit dem Grand Prix Images Vevey 2019/2020 ausgezeichnet.

 

Alina Frieske: «Abglanz» (12)

Für das Projekt im Rahmen ihrer Diplomarbeit an der ECAL/ Ecole cantonal d’art in Lausanne sammelte Alina Frieske Bildmaterial in sozialen Netzwerken. Aus einer grossen Auswahl anonymer Schnappschüsse und Selfies, extrahierte die Künstlerin Bildfragmente, die sie dann in digitalen Fotomontagen neu zusammensetzt. Indem sie die ursprüngliche Absicht der gesammelten Fotografien verzerrt, sensibilisiert Frieske die Betrachter über die Zugänglichkeit und Aneignung von persönlichen und intimen Informationen, die im Internet für jedermann zugänglich sind.

 

Julian Charrière & Julius von Bismark: «I’m afraid, I must ask you to leave» (08)

Julian Charrière und Julius von Bismarck provozieren einen Sturm der Entrüstung in der öffentlichen Meinung, in dem sie die Zerstörung von prächtigen Steinbögen in einem amerikanischen Naturschutzgebiet filmen. Die Explosion wird in einer grossformatigen Reihe mit dem Titel «We Must Ask You To Leave» dokumentiert. Gezeigt werden die viralen Videos, die den spektakulären Angriff auf das Naturerbe beweisen sollen. Auf den selben Bildschirmen streiten sich die Medien über die Authentizität der Bilder. Der Zuschauer bleibt dabei hin- und hergerissen, ob es sich um tatsächlicher Vandalismus oder doch bloss fake News handelt.

 

Hans Gissinger: «Tartas» (16)

Das Projekt Tartas entsteht aus einer Zusammenarbeit des Schweizer Fotografen Hans Gissinger mit Christian Escribà, einem bekannten Konditor aus Barcelona. Gissinger lässt Kinderträume wahr werden, indem er diese Leckereien in farbenfrohen Explosionen in die Luft jagt. Diese ebenso festliche wie humorvolle Performance ist eine Aufforderung, das eigene Dasein ein bisschen weniger ernst zu nehmen. Pikant: Die Installation ist im Alimentarium zu sehen, einem Museum für Essen und Ernährung.

 

Alberto Vieceli: «Holding the Camera» (43)

Alberto Vieceli, Grafiker aus Zürich, sammelt Bilder aus Werbekampagnen, Bedienungsanleitungen und Werbebroschüren über die möglichen Weisen, wie Fotoapparate gehalten werden, von klassischen bis zu völlig unerwarteten Variationen. Wie schaut man durch den Sucher, wie neigt man die Kamera, abdrücken aus der Hüfte, das Ganze im Quer- oder im Hochformat … Diese technischen und teils fantasievollen Archivdokumente werden im Schweizer Kameramuseum sowie im Freien an einem Bus des regionalen öffentlichen Verkehrs präsentiert.

 

Brodbeck & Barbuat: «Memories of a Silent World» (05)

Heutige Fotografien werden in Sekundenbruchteilen aufgenommen, doch das Künstlerduo Brodbeck & Barbuat verwendet eine überlange Belichtungszeit, um alle bewegten Elemente aus den Bildern zu eliminieren. Simon Brodbeck und Lucie de Barbuat dokumentieren so die zentralen Orte von Paris, New York, Berlin und Peking, befreit von jeglicher lebender Präsenz. Bloss eine digital eingefügte Gestalt stört die Szene. Das Ergebnis ist eine zeitlose Welt, deren Eigenartigkeit ein Gefühl von Ruhe und Abgeschiedenheit ausstrahlt.

 

Annie Wang: «The Mother as a Creator» (44)

Annie Wang promoviert an der Universität Brighton in Kunstgeschichte und spezialisiert sich auf Fragen im Bereich der weiblichen Identität, Kreativität und visuellen Kultur. Als sie im Jahr 2000 schwanger wird, will sie mit ihrer fotografischen Tätigkeit beweisen, dass die Schwangerschaft als kreatives Unterfangen verstanden werden kann. Die erste Fotografie der weiterhin laufenden Serie wurde am Tag vor ihrer Entbindung aufgenommen. Seither nimmt sie jedes Jahr ein Foto von sich mit ihrem Sohn mit dem Bild des vergangenen Jahres im Hintergrund auf.

 

Stephen Gill: «The Pillar» (14)

Mitten in einer Schwedischen Landschaft installiert Stephen Gill eine mit Bewegungssensor ausgestattete fixe Kamera, ausgerichtet auf einen Holzpfahl auf den sich Vögel für einen Augenblick niederlassen können. Die Abwesenheit des Fotografen, die komplette Automatisierung des Prozesses ermöglichen einen ungewohnten und unvorhersehbaren Einblick in den Alltag der Vögel in ihrer natürlichen Umgebung. Der englische Künstler bietet somit unverfälscht aus dem Leben gegriffene Bilder, wobei die Vögel selbst zu den Urhebern ihrer spektakulären Bilder werden.

 

Kublaiklan: «Fontanesi» (25)

Fontanesi ist ein Projekt welches eine Reihe überraschender und genussvoller visueller Kombinationen präsentiert: es handelt sich hierbei um ein 2012 erstelltes, anonymes Instagram-Profil mit 40’000 Followern. Der Account enthält über 6000 mit der App Layout erschaffene Kreationen. Jede besteht aus zwei verschiedenen, jeweils entlang der horizontalen oder der vertikalen Achse kunstvoll zusammengesetzten Bilderhälften. Zusammen erschaffen sie ein neues Bild, in dem sich eine surreale und poetische optische Täuschung entwickelt und die Grenzen von Realität und Fiktion verschwimmen.

 

Maurice Schobinger: «FIN» (49)

Paris, 13. November 2015, 21:37 Uhr. Maurice Schobinger steht auf der Terrasse der Bar «La Belle Époque» im XI. Arrondissement, eines der Lokale, welches während den Terroranschlägen angegriffen wurde. Als das Attentat verübt wird, geht er instinktiv hinter einem Baum am Strassenrand in Deckung. Dieser Reflex rettet ihm das Leben. Die Pflanzenfasern sind so dicht, dass sie die Kugeln aufhalten. Diese Erfahrung hallt weiterhin in ihm nach, und so wird für Schobinger das Fotografieren von Bäumen in der Nacht zur Selbstverständlichkeit, stets geleitet von der Erinnerung an jene Nacht in Paris. FIN ist eine Reflexion über die Flüchtigkeit dieser Augenblicke, an denen sich alles ändern kann. Die Fotografien werden am Seeufer, an einer von hundertjährigen Bäumen gesäumten Grünfläche, auf zehn hölzernen Monolithen präsentiert.

Situationsbilder: Urs Tillmanns

 

 

Das Festival Images Vevey 2020

Wie alle zwei Jahre findet das Festival Images vom 5. bis 27. September 2020 mit knapp 50 Fotoausstellungen im Freien, auf den Strassen, in den Parks, in Museen, Galerien und öffentlichen Gebäuden statt. Der Zutritt zu allen Ausstellungen ist von 11:00 bis 19:00 Uhr kostenlos. Zum Festival gibt es einen umfassenden Katalog.

Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite https://www.images.ch

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