Vera Rüttimann, 2. November 2020, 20:52 Uhr

Live aus Berlin: «Sven Marquardt. Dunkel, roh und echt»

Zwei Tage vor dem Lockdown-Light herrschte in Berlin eine Stimmung wie zu Silvester. Aus allen Löchern quollen Menschen auf die Strasse, in die Restaurants und in Läden. Unterwegs mit Mundschutz, wollten sich die halbe Stadt noch mal mit Freunden und Familienmitgliedern zum Essen treffen. Am Helmholtzplatz im Prenzlauer Berg, an dem die Autorin beim «Très» noch mal Tapas und Rosé genoss, wurden Leuchtkugeln in den Himmel geschossen.

Nicht wenige unter ihnen nützten die letzten Tage, um eine der Ausstellungen am «Europäische Monat der Fotografie» (EMOP) zu sehen. Die Auswahl fiel schwer: Zur Ausstellung «Masculinities: Liberation through Photography» mit Bildern von Laurie Anderson, Richard Avedon oder Wolfgang Tillmans gehen? Oder doch zur Ausstellung «Kontinent – Auf der Suche nach Europa» in der Akademie der Künste?

Als Club-Gänger musste es für mich heute klar «Stageless» von Sven Marquardt sein, die in Kooperation zwischen Marquardt, C/O Berlin und dem Friedrichstadt-Palast entstanden ist. Ich stellte mich in die Schlange vor dem Friedrichstadt-Palast in Berlin-Mitte – und hatte Glück! Wenn der Chef-Türsteher im weltbekannten Berliner Club Berghain, der jetzt geschlossen ist, etwas macht, ist ihm die Aufmerksamkeit sicher. In den letzten Monaten hat sich Sven Marquardt auf seine zweite grosse Passion konzentriert: auf die Fotografie. Gerade eben noch im Dokumentarfilm «Schönheit und Vergänglichkeit» in den Kinos vertreten, zeigte er zum Europäischen Monat der Fotografie 2020 nun Bilder, die von vielen wie aufgesogen wurden.

 

Nach der Show

Der gebürtige Ost-Berliner hat im vergangenen Oktober die fast dreissig Tänzerinnen und Tänzer der «Vivid Grand Show» porträtiert. Für die Bilder dieser Ausstellung wählte Sven Marquardt ein klares Konzept: Er zeigte erschöpfte, euphorische oder wie abwesend wirkende Tänzer und Tänzerinnen unmittelbar nach ihrem Einsatz auf der Bühne. Die Spuren ihres Einsatzes sind meist deutlich zu sehen: Da ein verschmierter Mund einer Tänzerin und eine Hautabschürfung, dort eine zerrisse Strumpfhose und das verschwitzte Shirt eines Tänzers. In ihren Augen erkennt man die Verwandlung vom Bühnen-Wesen zurück ins Ich.

Erst dachte der Fotograf an eine Hängung in den U-Bahnhöfen Friedrichstraße oder am S-Bahnhof Oranienburger Tor, um den Weg der Bilder zum Friedrichstadt-Palast aufzuzeigen. Er entschloss sich schliesslich für diese Ausstellung ein eigenes Konzept zu kreieren, in dem er seine mannshohen Werke an Baugerüsten befestigte. Die Besucher konnten im riesigen Foyer des Friedrichstadt-Palastes eine Art Bild-Parcours begehen.

 

Funkelndes Schwarz

Jene, die Sven Marquardts Kunst kennen, erkannten in vielen Details seine Handschrift: Die Shootings für seine Schwarzweiss-Aufnahmen machte er in einem Lastenfahrstuhl des Palastgebäudes, in das er ein improvisiertes Studio installierte. Die abgeschabten Böden und Wände und das kalte Licht grosser Neonröhren erinnerten an die spärlich ausgeleuchteten Clubs des Berlins der 90er-Jahre: Dunkel, roh und echt. Bilder jenseits der popbunten Instagram-Welt. Sie funkelten aus ihrem Schwarzen Innern nach aussen. Sven Marquardt fotografiert meist ohne künstliches Licht, daher sind einige der Aufnahmen betont unscharf gehalten.

 

Diese Melancholie

Durch all die Motive zieht sich, ähnlich wie bei den Ostkreuz-Fotografen Ute Mahler und Sibylle Bergemann, eine eigentümliche Melancholie. Sie passt gut zu diesen krisenhaften Tagen, die auch Sven Marquardt nicht verschonte. Eine Gastdozentur an einer Modeschule in Florenz war unter anderem nicht möglich.

An manchen Tagen, so erzählen Besucher, kreuzte auch Sven Marquardt hier auf. Schon von weitem zu erkennen an seinen auffälligen Gesichts-Tattoos, den dicken Ringen an den Fingern und schweren Doc-Martens-Halbschuhe mit roten Schnüren an den Füssen. Hinter einer riesigen fliegenartigen Brille beobachte er das Geschehen. Es hat ihm sicher gefallen.

Text und Ausstellungs-Impressionen: Vera Rüttimann, Berlin

Mehr Infos auf der Website des European Month of Photography, Berlin
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