Gastautor/-in, 13. November 2020, 16:00 Uhr

1. Folge: Das Vier-Augen-Modell von Martin Zurmühle

Die Wirkung, die unsere Fotos auf einen Betrachter entfalten, ist von entscheidender Bedeutung für unseren Erfolg in der Fotografie. Eine technisch perfekte Aufnahme, die aber den Betrachter nicht anspricht, bleibt wirkungslos. Was aber ist das besondere Geheimnis, wirkungsvoller und erfolgreicher Bilder? Das ist die zentrale Frage dieses Blogs. Der Schweizer Fotograf Martin Zurmühle, Studiengangsleiter an der Höheren Fachschule für Fotografie in Baden, analysiert mit seinem «Vier-Augen-Modell» die verschiedenen Faktoren, die die Bildwirkung beeinflussen und gibt Ihnen mit seinem Modell ein Werkzeug in die Hand, das Ihnen hilft, Ihre eigene Fotografie zu verbessern.

Die Bildanalyse nach dem «Vier-Augen-Modell» beschreibt, wie Fotografien auf vier verschiedenen Wegen auf den Betrachter einwirken: «Das Form-Auge» bietet einen visuellen Genuss, das «Erzähl-Auge» berichtet aus dem Leben, das «Gefühls-Auge» nimmt Emotionen wahr und das «Ich-Auge» zeigt die Sprache des Künstlers.

 

Die Wirkung eines Bildes auf den Betrachter ist der Schüssel für den Erfolg in der Fotografie.

Unter den unzähligen guten Fotografien, die täglich gezeigt werden, gibt es ein paar wenige herausragende Bilder, die eine grosse Wirkung auf uns entfalten und uns in ihren Bann ziehen. Wieso diese Bilder aber eine so starke Wirkung auf uns entfalten, ist schwierig zu erklären. Die bekannten Methoden der Bildbesprechung, die sehr stark auf der grafikorientierten Bildgestaltung basieren, sind nicht in der Lage, diese Bilder sicher zu erkennen und ihre spezielle Wirkung auf den Betrachter zu begründen.

 

Das Bild «Power house mechanic working on steam pump» von Lewis Wickes Hine aus dem Jahr 1920 weist auf die späteren Filme «Metropolis» von Fritz Lang (1927) und «Modern Times» von Charles Chaplin (1936) hin. Es ist ein Sinnbild für den Dialog/Konflikt zwischen Mensch und Maschine. Bei dieser Aufnahme werden formale, erzählende und gefühlsorientierte Element gut sichtbar und das Bild weist auch auf die besondere Bildsprache des Fotografen hin. © Lewis Hine

Hier setzt das «Vier-Augen-Modell» von Martin Zurmühle an. Es geht von der menschlichen Kommunikation aus. Die Fotografie bildet einen Teil dieser Kommunikation und es gelten ähnliche Regeln wie bei einem Gespräch. Die Kommunikation mit Bildern ist allerdings ein einseitiges Gespräch zwischen dem Fotografen und dem Betrachter seiner Bilder und basiert auf dem Sehsinn (im Gegensatz zum direkten Gespräch, das im Extremfall alle Sinne ansprechen kann). Das «Vier-Augen-Modell» ist eine einfache, aber trotzdem umfassende Methode, wie die Wirkung von Bildern erkannt und besprochen werden kann.

Das Vier-Augen-Modell der Fotografie von Martin Zurmühle © Martin Zurmühle

Das Modell basiert auf dem «Vier-Seiten-Modell» (Kommunikationsquadrat) von Friedemann Schulz von Thun. Im Gegensatz zur menschlichen Kommunikation ist die Fotografie eine einseitige Form der Kommunikation zwischen dem Fotografen als Sender und dem Betrachter der Bilder als Empfänger. Die vier Seiten einer Nachricht nach dem Kommunikationsquadrat (der Sachinhalt, die Selbstkundgabe, der Beziehungshinweis und der Appell) wurden von Martin Zurmühle deshalb für das Kommunizieren mit Fotografien angepasst.

 

Das bekannte Kommunikationsquadrat (auch «Vier-Seiten-Modell» oder «Vier-Ohren-Modell» genannt) von Friedemann Schulz von Thun beschreibt auf eine einfache Art die Komplexität der menschlichen Kommunikation. © Friedemann Schulz von Thun

Die klassischen Gestaltungsregeln der Fotografie beziehen sich in erster Linie auf das «Form-Auge» und «Erzähl-Auge». In diesem Bereich wird mit rationalen Mitteln und harten Fakten gearbeitet (eher der linken Gehirnhälfte zugeordnet). Das «Gefühls-Auge» und das «Ich-Auge» sind wesentlich schwerer zu fassen, denn wir bewegen uns in der Welt der weichen Faktoren (eher der rechten Gehirnhälfte zugeordnet). Trotzdem lassen sich auch hier allgemeine Aussagen machen, auch wenn diese nicht mehr so klar und eindeutig sind. Bei Bildern sind alle vier Ebenen (Form-, Erzähl-, Gefühls- und Ich-Ebene) in unterschiedlicher Intensität beteiligt. Erst durch das richtige Zusammenspiel dieser vier Ebenen entstehen spezielle und sehr wirkungsvolle Bilder.

 

Das Bild «Migrant Mother, Nipomo, California» von Dorothea Lange aus dem Jahr 1936 entfaltete eine so grosse Wirkung auf den Betrachter, dass die Amerikaner auf das Schicksal ihrer verarmten Landbevölkerung aufmerksam wurden. © Dorothea Lange

Die Betonung beim Bild von Dorothea Lange liegt bei einer Kombination von formalen Elementen (z.B. Bildgliederung, Goldener Schnitt, Wiederholung) und den starken Gefühlen (durch die Mimik und Gestik der Personen), die es beim Betrachter auslöst. © Martin Zurmühle

 

 

Bei der Analyse unserer Bilder sollten wir deshalb verstärkt auf diese Wechselwirkung achten. Am besten geht das, wenn Sie zu jedem Bild, das Sie besprechen möchten, eine kurze Bildbeurteilung der vier »Augen« durchführen. Ergänzen Sie diese Bildanalyse mit einer einfachen Grafik, die die Bedeutung der verschiedenen »Augen« (z.B. mit einer Skala von 0 bis 10) zeigt. Ein solches Schema zeigt uns auf einem Blick, wo das Bild seine Schwerpunkte setzt und wie wirkungsvoll die verschiedenen Elemente des Modells eingesetzt werden. Natürlich ist das keine scharfe und mathematisch genaue Bewertung. Das ist auch nicht notwendig. Es geht hier um das Erkennen der Wirkungsfaktoren.

Die vier «Augen» des Vier-Augen-Modells» sind in fast allen Fotografien erkennbar. Nur vollkommen abstrakte Bilder sprechen manchmal ausschliesslich das «Form-Auge» gezielt an. Bei wirkungsvollen Fotografien werden meistens alle vier «Augen» ähnlich stark angesprochen und so eine grosse Fläche beim Diagramm erzeugt. Das Geheimnis wirkungsvoller Aufnahmen liegt somit beim gezielten Ansprechen aller vier «Augen» und der geschickten Ausbalancierung dieser verschiedenen Effekte. In den nächsten Blogs schauen wir die verschiedenen «Augen» im Detail an.

 

Bei dieser Aufnahme aus Lanzarote liegt das grosse Windrad im Goldenen Schnitt und die verschiedenen Kamine des Öl- und Gaskraftwerks gliedern das Bild. Die Sonne bildet einen visuellen Gegenpol zu den beiden Windrädern, die sich an der gleichen Drehposition befinden. Die Aufnahme «erzählt» von verschiedenen Energiequellen (Öl- und Gaskraftwerk, Windräder und die Energie der Sonne). Die Wolken und das orange Licht der aufgehenden Sonne sprechen den Betrachter auch gefühlsmässig an und die Präzision der Aufnahme weist auf den Fotografen hin, der eine Wochen lang versucht hat, diesen entscheidenden Moment zu erwischen. © Martin Zurmühle

Text. Martin Zurmühle
Bildmaterial aus dem Buch des Autors

Die nächste Folge: Das «Form-Auge» beschreibt die Gliederung und Gestaltung eines Bildes.

 

Der Autor

Martin Zurmühle ist in Luzern 1956 geboren und aufgewachsen. Mit 16 begann seine Leidenschaft für die Fotografie. Seit seiner Ausbildung zum Architekt ETH/SIA leitet er sein eigenes Architekturbüro in Luzern. Zusätzlich arbeitet Zurmühle als Ausbilder und Auditor für Managementsysteme. Seit 2002 betreibt er ein Fotostudio, eine Fotoschule in Ebikon bei Luzern und ist Lehrgangsausbildner beim Zentrum Bildung in Baden. Martin Zurmühle ist vor allem auf die digitale Porträt-, Akt- und Erotikfotografie spezialisiert.

Das Buch zum Thema

Diese fünfteilige Artikelfolge basiert auf dem Buch «Lehrbuch Bilder analysieren» von Martin Zurmühle. Als zweites Buch der Trilogie Technik, Gestaltung und Wirkung in der Fotografie zeigt es Ihnen, wie Sie die Qualität von Fotografien bewerten, ihre Wirkung auf den Betrachter analysieren und das Besondere einer originalen, authentischen und kreativen Bildsprache erkennen können. In 10 Abschnitten (mit insgesamt 73 Kapiteln) werden die Bildwertung mit dem Doppelten Dreieck und die Bildanalyse nach dem Vier-Augen-Modell vorgestellt. Mit Aufnahmen von herausragenden Fotografen werden die verschiedenen Augen des Vier-Augen-Modells erklärt und den Einsatz des Modells in der Praxis und bei der Entwicklung einer eigenen Bildsprache aufgezeigt. Das Buch ist im 4-Augen-Verlag erschienen und kostet CHF 59.90 (inkl. Versand).

> Lesen Sie auch die Buchbesprechung auf Fotointern (15.12.2018)

 

 

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