Das «Form-Auge» beschreibt die Gliederung einer Aufnahme, während sich das «Erzähl-Auge» um die inhaltliche Aussage kümmert. Wir hören gerne Geschichten. Früher erzählten die Ältesten und Weisen am Lagerfeuer Märchen und spannende Erzählungen. Später lasen religiösen Führer aus den heiligen Büchern, die interessante und lehrreiche Geschichten erzählten (und uns so auch beeinflussen wollten). Heute berichten Medien auf allen Kanälen im Sekundentakt über Neuigkeiten aus der ganzen Welt. Das Grundprinzip bleibt aber gleich. Wir sind interessiert, Neues zu hören, wenn es spannend, lehrreich, realitätsnah, sensationell oder sonst wie für uns fesselnd ist. Das Foto dient dabei als »Beweis«, dass die gezeigte und beschriebe Geschichte wahr ist. Das «Form-Auge» unterstützt dabei die Bildwirkung, weil durch eine gute Gestaltung die Bildaussage besser zur Geltung kommt.
Das «Erzähl-Auge» beschreibt die Welt im Stil der Reise- und Reportagefotografie. Die Bilder geben uns einen Einblick in für uns vielleicht unbekannte Welten, zeigen spezielle Ereignisse und wollen uns manchmal auch in unserer Meinung und Haltung beeinflussen. Starke Bilder können unsere Einstellung wie auch die Politik eines Landes verändern (zum Beispiel Bilder der Kriege in Vietnam und Irak).
Die sechsjährige Daisy lebt auf dem Friedhof in Cebu City auf den Philippinen. Dieses Bild gibt uns Einblick in eine für uns ungewöhnliche und vielleicht auch schockierende Welt am Rande der Zivilisation. © David Sünderhauf
Während Bilder der Form-Ebene noch völlig neutral und ohne eine inhaltliche Aussage sein können (z.B. Abstraktionen), nehmen Bilder der Erzähl-Ebene immer irgendwie Stellung zum Ereignis und Geschehen, das sie darstellen. Diese Fotografien leben von gut erkennbaren Zusammenhängen, die allgemein verstanden werden. Durch klare Formen und einer gezielten Bildgestaltung erhalten diese Bilder mehr Kraft und Wirkung. Wir können diese Fotografien meistens noch gut rational erfassen und erklären. Aufgrund ihrer mehr oder weniger vorhandenen, bewussten oder unbewussten Beeinflussung des Betrachters entspricht die Erzähl-Ebene der Appell-Seite des Kommunikationsquadrats von Friedemann Schulz von Thun.
Dieses alte Ehepaar lebt ebenfalls auf dem Friedhof in Cebu City auf den Philippinen, ohne Haus, nur umgeben von wenigen Habseligkeiten, die ihnen geblieben waren. © David Sünderhauf
Ein rein formales Bild, das dem Betrachter nichts Interessantes erzählt, wird auch bei einer sehr gekonnten Gestaltung kaum eine starke Wirkung entfalten. Auch in der Malerei geniesst die abstrakte Malerei bei Weitem nicht die gleiche Wertschätzung wie zum Beispiel die Bilder der Impressionisten, die uns mit ihren Farben und Malweisen, aber auch den erzählten Alltagsgeschichten zu begeistern wissen.
Das kubistische Gemälde von Robert Delaunay «La Ville de Paris» bleibt noch so konkret, das sich die erzählte Geschichte dem Betrachter erschliesst.
Erzählungen spielen in vielen fotografischen Themen eine grosse Rolle: Reportage- und Reisefotografie, Inszenierungen, Fantasiewelten, Serien- und Sequenzen. Aber auch eher gefühlsmässige Themen wie die Porträt- und Sportfotografie oder die Landschaftsfotografie profitieren davon, wenn die Bilder auch eine erzählende Komponente aufweisen. Bei Landschaftsfotografien zum Beispiel kann eine spezielle Wettersituation dem Bild erst die starke Wirkung geben.
Das Aufeinandertreffen so unterschiedlicher Boote und der Gegensatz zwischen dem riesigen Kreuzfahrtschiff und der «kleinen» Kirche macht die Faszination dieser Reisefotografie aus. © Martin Zurmühle
Suchen Sie deshalb bei allen Themen nach einer erzählenden Komponente. Diese kann auch sehr klein und unbedeutend sein (z.B. ein Mensch bei einer Landschaftsfotografie), macht aber trotzdem oft den entscheidenden Unterschied aus. Auch sehr formale Themen wie die Architekturfotografie können von solchen erzählenden Elementen profitieren. Bilder, die uns Geschichten erzählen, sind einfach interessanter als reine Formstudien oder technisch perfekte Aufnahmen.
Oft machen auch kleine «Geschichten» den Unterschied aus. Hier trifft der Mond auf die berühmte Silhouette des Matterhorns und gibt so dem Bild eine zusätzliche erzählende Note. © Martin Zurmühle
Wie wichtig ein menschlicher Bezug sein kann, beweist diese Aufnahme des Breithorns (4’164 m ü. M.) in der Schweiz. Die vier Bergsteiger, die in einer perfekten Reihe den Berg hinuntersteigen, vermitteln einen Grössenbezug und erzählen dem Betrachter von der Besteigung dieses formschönen Berges. © Martin Zurmühle
Schnappschüsse leben von den kleinen menschlichen Geschichten, die sie erzählen. Ich war fasziniert, wie dieses junge Pärchen auf Lanzarote mit ihren Motorradhelmen ein improvisiertes Stativ baute, um ein Selfie von sich mit dem Selbstauslöser aufzunehmen. © Martin Zurmühle
Text: Martin Zurmühle
Bildmaterial aus dem Buch des Autors
Lesen Sie auch:
Folge 1: «Das Vier-Augen-Modell von Martin Zurmühle», 13.11.2020
Folge 2: «Vier-Augen-Modell: Das Form-Auge», 20.11.2020
Die nächste Folge: Das «Gefühls-Auge» drückt in der Bildsprache die Welt der Emotionen aus.
Das Buch zum Thema
Diese fünfteilige Artikelfolge basiert auf dem Buch «Lehrbuch Bilder analysieren» von Martin Zurmühle. Als zweites Buch der Trilogie Technik, Gestaltung und Wirkung in der Fotografie zeigt es Ihnen, wie Sie die Qualität von Fotografien bewerten, ihre Wirkung auf den Betrachter analysieren und das Besondere einer originalen, authentischen und kreativen Bildsprache erkennen können. In 10 Abschnitten (mit insgesamt 73 Kapiteln) werden die Bildwertung mit dem Doppelten Dreieck und die Bildanalyse nach dem Vier-Augen-Modell vorgestellt. Mit Aufnahmen von herausragenden Fotografen werden die verschiedenen Augen des Vier-Augen-Modells erklärt und den Einsatz des Modells in der Praxis und bei der Entwicklung einer eigenen Bildsprache aufgezeigt. Das Buch ist im 4-Augen-Verlag erschienen und kostet CHF 59.90 (inkl. Versand).
> Lesen Sie auch die Buchbesprechung auf Fotointern (15.12.2018)