Gastautor/-in, 4. Dezember 2020, 16:00 Uhr

4. Folge: 4 Vier-Augen-Modell: Gefühls-Auge

Während die rationalen und weitgehend objektiven Form- und Erzähl-Ebenen noch einfach und logisch zu erklären sind, stossen wir mit dem «Gefühls-Auge» in die mehrheitlich subjektiv geprägte Welt der Emotionen vor. Auch wenn wir oft unterschiedlich auf die von Bildern vermittelnden Gefühle reagieren, so sind doch Gefühle und die dadurch ausgelösten Emotionen universell und die entsprechenden Gesichtsausdrücke und Gesten werden von uns verstanden. Bei Aufnahmen von Menschen und Tieren ist die Körpersprache mit Mimik und Gestik wichtig, um den Aufnahmen einen starken Ausdruck zu geben. Bei anderen Bildern spielen die Darstellung von Raum und Zeit sowie Licht und Farben eine zentrale Rolle bei der gezielten Beeinflussung der Bildstimmung.

Mit unserem «Gefühls-Auge» spüren wir Stimmungen und Emotionen, die in einem Bild liegen. Mit einer geeigneten Bildsprache können, durch den Einbezug unserer Erinnerung an starke Momente im Leben, neben dem Sehsinn auch andere Sinne angesprochen werden. Mit Raum- und Bewegungssymbolen können Gefühle für die Tiefe des Raumes und die Geschwindigkeit der Bewegung vermittelt und mit Licht und Farben spezielle Stimmungen im Bild erzeugt werden.

 

Kräftige Farben und schöne Formen können uns auch gefühlsmässig ansprechen. Deshalb sind solche Lichtsituationen in der Landschaftsfotografie sehr beliebt. © Martin Zurmühle

Aufgrund der unterschiedlichen Lebenserfahrungen reagieren Menschen wesentlich individueller auf solche Bilder. Gefühle auf Bildern können nur wahrgenommen werden, wenn wir die entsprechende Stimmung kennen und schon einmal erlebt haben. Wir bewegen uns deshalb hier in der Welt der weichen Faktoren. Im Bereich der Peoplefotografie lassen sich viele Gefühle sehr gut mit der Körpersprache ausdrücken. Weil Gefühle nur unscharf beschrieben werden können, werden diese Effekte in den Fachlehrbüchern meistens nur pauschal und ungenau besprochen. Die Gefühls-Ebene entspricht der Beziehungs-Ebene des Kommunikationsquadrats von Friedemann Schulz von Thun.

 

Dank der Körpersprache «lesen» wir die Mimik und Gestik von Menschen auf Bildern und werden dadurch auch gefühlsmässig direkt angesprochen. © David Sünderhauf

Gefühle sind von zentraler Bedeutung für die Wirkung, die ein Bild auf uns ausübt. Unser ganzes Leben wird gesteuert durch Gefühle. Sie schützen uns vor Gefahren, steuern das Zusammenleben in der Gruppe und sind für unser persönliches Wohlbefinden wichtig. Ich wage hier die Aussage, dass alle Bilder, die beim Betrachter eine starke Wirkung hinterlassen, immer auch gezielt die Gefühle ansprechen, unabhängig vom Motiv und dem gewählten Bildthema.

 

Wissen wir nicht, dass wir fotografiert werden, so sind unsere Gesichtsausdrücke authentischer, als wenn wir für eine Aufnahme in Pose gehen. Solche Bilder entfalten in der Regel eine stärkere Wirkung auf den Betrachter. © Laura Sbircea

Wie aber können Bilder Gefühle ansprechen? Sie können zum Beispiel Stimmungen und Gefühle vermitteln durch:

• erzeugen optischer Akkorde,
• ansprechen von weiteren Sinnen (Erinnerung),
• einsetzen von Symbolen für Raum und Zeit,
• erzeugen von Stimmungen mit Licht und Farben,
• einsetzen der Körpersprache.

 

Durch das Kippen der Kamera, den scharf mitgezogenen Motorradfahrer und den verwischten Hintergrund wird ein starkes «Gefühl» für die Geschwindigkeit vermittelt. © Martin Pluskota

Mit dem Ansprechen der Gefühle des Betrachters bauen wir eine Beziehung zwischen dem Bild und dem Betrachter auf. Wir müssen dabei aber vorsichtig vorgehen. Ein zu starkes Betonen der Gefühle (z.B. durch eine übertrieben starke Bildbearbeitung oder zu plakative Effekte) kann kitschig wirken oder den Betrachter ermüden. Waren zum Beispiel HDR- und Color-Key-Bilder zu Beginn sehr erfolgreich, können diese Bilder heute kaum mehr punkten, weil diese Effekte zu plakativ sind und so schnell an Wirkung verlieren. Gehen Sie deshalb vorsichtig mit solchen Gestaltungsmitteln um.

 

Eine lange Belichtungszeit führt zu surreal wirkenden weichen Wasseroberflächen. In Kombination mit den pastellartigen Farben wird eine die Gefühle ansprechende Bildstimmung erreicht. © Martin Zurmühle

 

Das gleiche Motiv, aufgenommen bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen, kann völlig unterschiedlich wirken. Es lohnt sich deshalb, ein Motiv während verschiedenen Tageszeiten, Wetter- und Lichtverhältnissen aufzunehmen. Das obere Bild habe ich in Paris am Morgen bei bedecktem Himmel fotografiert. Es wirkt spannungslos und wenig interessant. Dasselbe Motiv, aufgenommen ca. 30 Minuten vor Sonnenaufgang während der Blauen Stunde und mit einem nassen Boden, wirkt völlig anders. Der dunkelblaue Himmel, die Strassenlaternen, die violett beleuchtete Hausfassade und die farbigen Spiegelungen am Boden erzeugen eine viel interessantere und wirkungsvollere Bildstimmung. © Martin Zurmühle

Text: Martin Zurmühle
Bildmaterial aus dem Buch des Autors

Lesen Sie auch:

Folge 1: «Das Vier-Augen-Modell von Martin Zurmühle», 13.11.2020
Folge 2: «Vier-Augen-Modell: Das Form-Auge», 20.11.2020
Folge 3: «Vier-Augen-Modell: Das Erzähl-Auge», 27.11.2020

Die nächste und letzte Folge: Das «Ich-Auge» beschreibt den persönlichen Ausdruck des Fotografen in seinen Bildern.

[/fibox]

Das Buch zum Thema

Diese fünfteilige Artikelfolge basiert auf dem Buch «Lehrbuch Bilder analysieren» von Martin Zurmühle. Als zweites Buch der Trilogie Technik, Gestaltung und Wirkung in der Fotografie zeigt es Ihnen, wie Sie die Qualität von Fotografien bewerten, ihre Wirkung auf den Betrachter analysieren und das Besondere einer originalen, authentischen und kreativen Bildsprache erkennen können. In 10 Abschnitten (mit insgesamt 73 Kapiteln) werden die Bildwertung mit dem Doppelten Dreieck und die Bildanalyse nach dem Vier-Augen-Modell vorgestellt. Mit Aufnahmen von herausragenden Fotografen werden die verschiedenen Augen des Vier-Augen-Modells erklärt und den Einsatz des Modells in der Praxis und bei der Entwicklung einer eigenen Bildsprache aufgezeigt. Das Buch ist im 4-Augen-Verlag erschienen und kostet CHF 59.90 (inkl. Versand).

Lesen Sie auch die Buchbesprechung auf Fotointern (15.12.2018)

[/fibox]

Schreibe einen Kommentar

  • Kommentare werden erst nach Sichtung durch die Redaktion publiziert
  • Beachten Sie unsere Kriterien für Kommentare im Impressum
  • Nutzen Sie für Liefer- und Kontaktnachweise die Angaben im entsprechenden Artikel
  • Für Reparaturanfragen und Support bei Problemen wenden Sie sich bitte direkt an den Hersteller (siehe dessen Website) oder Ihren Händler
  • Beachten Sie, dass Fotointern.ch eine reine und unabhängige Informationsseite ist und keine Waren verkauft oder vermittelt
  • Ein Kommentar darf maximal 800 Zeichen enthalten.

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Noch 800 Zeichen

Werbung
Werbung

Abonnieren Sie jetzt Fotointern per E-Mail direkt in Ihr Postfach und verpassen Sie keine Beiträge mehr. Wir nutzen MailChimp für den Versand. Weitere Infos finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Ihr Browser ist veraltet!

Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser, um diese Website korrekt dazustellen.Den Browser jetzt aktualisieren

×