Es ist fast unglaublich: Pro Tag verschwinden in der Schweiz ein bis zwei Bauernhöfe! Das kümmert viele von uns wenig, weil wir glauben, nicht unmittelbar auf diese angewiesen zu sein. Aber der Schein trügt, denn mit jedem Hof geht der Schweiz ein Stück wertvolles Kulturgut und typischer Selbstversorgung verloren. Ganz abgesehen davon, dass hinter jeder Liquidation viele tiefgreifende Emotionen und quälende Existenzfragen stehen.
Tomas Wüthrich hat das selbst erfahren müssen, als im April 2000 der Hof seiner Eltern, Hans und Ruth Wüthrich, in Kerzers im freiburgischen Seeland mangels Rendite aufgegeben werden musste. Fast dreissig Jahre lang hatten sie hier Milchwirtschaft und Ackerbau betrieben, mit einer immer schlechteren Rendite. Bis es nicht mehr ging. Für das kantonale Amt war es nüchtern der Hof mit der Betriebsnummer 4233 – einer von vielen. Für Hans und Ruth war es ihr «Heimetli». Sohn Tomas zeigt in diesem Buch das Schicksal hinter diesen vier Zahlen.
«Ich habe sie damals während ihres letzten Bauernjahres mit der Kamera begleitet» sagt Tomas «und nebst der täglichen Arbeit die entscheidenden Momente der Hofaufgabe festgehalten: die Unterschrift des Vertrages mit dem neuen Pächter, den Abtransport der Kühe, das letzte grosse Aufräumen im leeren Stall.»
Hans und Ruth wischen gemeinsam das Tenn.
Ruth bringt zusammen mit ihrer Enkelin die Abendmilch in die Käserei. Seit den 1970er-Jahren ist die Milchproduktion kontingentiert. Wüthrichs dürfen pro Jahr 43’000 kg abliefern. Bei einem Milchpreis von 77 Rp. / kg ergibt dies ein Bruttoeinkommen von Fr. 33’110.— im Jahr.
Wüthrichs lassen ihre Zuckerrüben seit 1996 von einem anderen Bauern mit einem Vollernter ausfahren. Die Ernte nach alter Methode ist mit viel Handarbeit verbunden und für sie zu anstrengend geworden. Seit der Zuckerrübenverlad auf die Bahn in Kerzers eingestellt worden ist, müssen die Bauern ihre Rüben selbst in die Zuckerfabrik nach Aarberg bringen. Dazu braucht es grosse Wagen und entsprechende Traktoren, die Wüthrichs nicht haben.
Hans und Ruth spalten Holz in ihrem Wald. Der Sturm Lothar hat an Weihnachten 1999 einige Buchen umgeworfen. Der Brennholzbedarf der Familie Wüthrich ist nun für ein paar Jahre gedeckt.
«Die Fotos in diesem Buch sind vor zwanzig Jahren entstanden und haben dennoch nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Bis heute verschwinden in der Schweiz jeden Tag zwei Bauernbetriebe. 1905 gab es mehr als 240’000 Bauernhöfe in der Schweiz, heute sind es noch 50’000. Seit 1900 ist der Anteil der Bauern an der Bevölkerung von 31 Prozent auf 2,5 Prozent gesunken. Der Begriff «Bauernsterben» fehlt in sämtlichen offiziellen Verlautbarungen, man spricht lieber von Strukturwandel.»
Hans hat die untersten Äste eines Apfelbaums abgesägt, weil sie so weit herunterhingen, dass man das Gras darunter nicht mehr mähen konnte. Zu Hause wird er daraus Wedele machen.
Hinter dem Haus.
Der Pachtvertrag ist unterschrieben. Der Pächter bekommt den grössten Teil der 6,48 ha Land von Hans und Ruth. Pachtland ist sehr begehrt.
Hans schliesst das Tor zum Schopf.
«Der Beruf des traditionellen Landwirts wird ersetzt durch Agrarunternehmer und Teilzeit-Landschaftsgärtner. Der Staat will eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft und fördert Betriebe mit viel Land und grossen Maschinen. Gleichzeitig soll die Landwirtschaft ökologischer werden. Es ist schwer, darin keinen Widerspruch zu sehen. Fortschreitendes Artensterben, kontaminiertes Trinkwasser und verdichteter Boden zeigen, dass es in die falsche Richtung geht.»
Die Kühe werden abgeholt. Der Chauffeur führt eine nach der anderen aus dem Stall. Die drei schönsten Kühe und ein Rind konnte Hans an Bekannte im Berner Oberland verkaufen, dort sind sie in guten Händen und er hat die Möglichkeit, seine Tiere zu besuchen.
Hans hilft beim Einladen seiner Tiere. Alles geht sehr schnell, in wenigen Minuten ist der Stall leer.
Der Abschied von den Kühen ist für alle ein schwerer Moment. Deborah, die einst stolzeste Kuh im Stall, reckt während des Wegfahrens für einen Moment ihren Kopf und wirft einen letzten Blick zurück
Hans und Ruth im leeren Stall. Mit Wehmut geht für sie eine Epoche zu Ende.
Das Buch – das noch Hilfe braucht
Das Buch «Hof Nr. 4233» erscheint im renommierten Zürcher Kunst- und Fotobuchverlag Scheidegger & Spiess in zwei Sprachversionen, auf Deutsch und auf Französisch. Veröffentlicht wird es am 3.Februar 2021 anlässlich einer Fotoausstellung im Musée gruérien in Bulle.
Dass die Buchfinanzierung zusehends schwieriger wird, musste Tomas Wüthrich auch mit diesem Projekt erfahren. Leider fehlen zur Zeit noch 10’000 Franken, um die Produktions- und Verlagskosten zu decken, Tomas’ unzählige ehrenamtliche Arbeitsstunden nicht eingerechnet. Um diesen Fehlbetrag zu stemmen ist er auf die Hilfe der Fotointern-Leser*innen angewiesen! «Ich freue mich» sagt Tomas, «wenn Ihr das Buch auf diesem Weg vorbestellt. Ich habe einige spezielle Belohnungen vorbereitet und bin sicher, dass sie Euch gefallen werden.»
Das Buch präsentiert auf 176 Seiten eine Auswahl von 73 Schwarzweiss-Fotografien in einer sorgfältig zusammengestellten Reihenfolge und wird, wie schon der 2019 erschienene Fotoband «Doomed Paradise – Die letzten Penan im Regenwald von Borneo», von Atlas Studio gestaltet. Zudem enthält das Buch zwei Texte von Peter Pfrunder, Direktor der Schweizerischen Fotostiftung, und vom Journalisten Balz Theus, der unter anderem im Magazin des Tages Anzeigers publiziert.
Update 01.02.2021: Das Buch ist Ende Januar 2021 im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen und kostet CHF 49.00 / EUR 48.00
Der Fotograf
Tomas Wüthrich, geboren 1972, ist unserer Leserschaft kein Unbekannter. Wir haben bereits seinen Fotoband «Doomed Paradise» und sein Engagement für die letzten Penan im Regenwald von Borneo besprochen. Nach einer Berufslehre als Möbelschreiner und der Arbeit mit geistig behinderten Menschen sowie einer Fotografie-Ausbildung am Medienausbildungszentrum MAZ Luzern ist er seit 2001 als Pressefotograf tätig. Seit 2007 arbeitet er freischaffend im Bereich Reportage und Porträt und veröffentlicht seine Bilder regelmässig in Zeitschriften und Zeitungen. Wüthrich wurde unter anderem mit dem Swiss Photo Award und mehrmals mit einem SwissPressPhoto Award ausgezeichnet. Er ist European Sony Ambassador.
Mehr über die Arbeiten von Tomas Wüthrich finden Sie auf seiner Webseite
Eindrucksvolle Bilder – mit grosser Wahrscheinlichkeit damals analog auf S/W-Film belichtet – und ein spannender Text, der den den bäuerlichen Strukturwandel beleuchtet. Auch der Videoclip auf der entsprechenden Crowdfunding-Site gefällt mir. Meine bescheidene Unterstützung hat das Projekt. Ich freue mich jetzt schon auf das Buch.
Vielen Dank für ihre Unterstützung !
grossartig gemacht.
aber vielleicht etwas sehr auf die Tränendrüse gedrückt.
Ich bin selber Fotograf und Landwirt.
Danke Christian Meier ! Du hast recht die Fotos sind zum Teil traurig, aber diese Gefühle waren echt und ich bin heute noch erstaunt, dass sie mit den Bilder einfangen konnte. Als Fotograf weisst du wie schwer das ist.
Herzliche Grüsse
Wer aus dem Glashaus postet, muss damit rechnen, dass die andern zu googeln beginnen, Herr Meier. Danach erscheint das Wüthrich-Projekt gleich noch attraktiver.
Merci, Herr Hänggi.
Absolut tolle Fotos, sehr interessantes Zeitzeugnis. Und die Fotos haben einen sehr emotionalen
Ausdruck. Künstlerisch und dokumentarisch zugleich.
Toller Beitrag. Vielen Dank!
Grüsse aus Basel
Dieses Buch werde ich gleich bestellen, schön hab ich es noch entdeckt! Bin gespannt, wenn das Buch dann bei mir ist! Gestern zufällig im Du Nr. 728 (2002) geblättert. „ Europas Bauern. Unser täglich Brot“ eindrückliche Reportagen!