Urs Tillmanns, 13. Dezember 2020, 10:38 Uhr

Hans Peter Jost – Baumwolle weltweit

Kürzlich hatte ich Hans Peter Jost anlässlich seiner Ausstellung «Alpen-Blicke, die schrecklich schöne Schweiz» in Schaffhausen getroffen. Die Art und Weise, wie er die Schweiz sieht und diese in Bildern darstellt, beeindruckt. Dann fiel mein Blick auf eines seiner Bücher: «Cotton worldwide» – auf Englisch, weil die deutsche Ausgabe längst vergriffen ist. Etwas darin geblättert war ich mir sicher: Diese Bilder geben eine Top Story! Und jetzt ist sie an der Reihe …

Baumwolle ist einer der wichtigsten Rohstoffe. Sie wird rund um den Erdball angebaut, aber zu den unterschiedlichsten Umwelt- und Produktionsbedingungen. In den reichen Ländern sorgen gigantische Maschinen für die Ernte, in den armen Regionen ist sie karge Handarbeit, schlecht bezahlt und gesundheitsschädigend. Meist werden die mit gefährlicher Chemie behandelten Blüten von Kindern gepflügt, die kaum oder gar nicht dafür entlöhnt werden.

Hinzu kommt ein unvorstellbar hoher Wasserverbrauch. Zur Produktion von einem Kilo Baumwolle wird im weltweiten Durchschnitt mehr als 10‘000 Liter Wasser benötigt. Wasser, das es in den meisten Regionen kaum gibt. Beispiel: Der riesige Aaralsee ist zu 70 Prozent ausgetrocknet, was weitgehend auf die Wasserentnahme für den Anbau von Baumwolle zurückgeht. Das gibt zu denken …

 

Indien Die Bevölkerung der Region Vidarbha im Osten Indiens ist sehr arm. Baumwolle ist ihre wichtigste Ertragsquelle. Ist die Ernte schlecht, reicht der Erlös kaum zum Leben, vor allem aber nicht um die Kreditzinsen zu bezahlen. Hinzu kommen Familien- und Alkoholprobleme. Viele verzweifelte Bauern sehen keinen Ausweg und begehen Selbstmord. Vidarbha hat eine aussergewöhnlich hohe Selbstmordrate. In anderen Regionen, wie zum Beispiel in Madhya Pradesh, verschulden sich, Dank der Hilfe von bioRe und dem Anbau von Biobaumwolle, die Bauern nicht mehr.  

 

Baumwolle ist eine sehr anfällige Pflanze, deshalb werden enorme Mengen gefährlichster Pestizide und Dünger für den Anbau benötigt, bedeutend mehr als für jedes andere landwirtschaftliche Produkt. Der massive Einsatz von Pestiziden vernichtet nicht nur die Schädlinge, sondern auch viele Nützlinge. Die Baumwollbauern und ihre Kinder werden krank davon, weil sie die Warnungshinweise gar nicht lesen können.

Diese Fakten hat Hans Peter Jost sorgfältig studiert, bevor er sich 2006 entschloss, das Thema der weltweiten Baumwollproduktion fotografisch aufzugreifen. Er hat auf seinen Reisen nach Indien, China, Brasilien, Amerika, Usbekistan, Mali und Tansania ein fotografisches Porträt der Menschen und ihrer Lebensbedingungen geschaffen, die in Anbau, Ernte, Verarbeitung und Vermarktung der Baumwolle involviert sind. Er hat verschiedenste Anbaumethoden dokumentiert. Perfekte ebenso, wie miserable – ja menschenverachtende.

 

Mali Früher mieden die Frauen in Mali die Baumwollfelder, weil sie als Folge der eingesetzten Chemikalien Fehlgeburten befürchten. Zudem bekamen viele Frauen keine Kredite von den Banken und waren auf sogenannte «Tantines» angewiesen, das sind Microkredite, die von Frau zu Frau ausgehandelt werden. Dank Helvetas , welche den Anbau von Biobaumwolle fördert, ist die Situation besser geworden: Die Frauen arbeiten wieder mit und können so auch an den Tantines teilnehmen. Die vormals staatliche Spinnerei ist heute in der Hand von investitionsfreudigen Chinesen.

 

Wir haben Hans Peter Jost zum Thema befragt und wollten wissen was er auf seinen Reisen erlebt hat und ob sich die Arbeitsmethoden seither verbessert haben.

Fotointern: Von wann bis wann hast Du Dich fotografisch mit dem Thema Baumwolle befasst?

Hans Peter Jost: Für das Buch Baumwolle weltweit waren wir von September 2006 bis Dezember 2009, jeweils bis zu zwei Monaten in sieben Ländern unterwegs. Von 2012 bis 2020 konnte ich für die Remei AG in Indien die Entwicklung von biologischen Baumwollsaatgut begleiten und in Kurzfilmen festhalten. 

Du hast so ziemlich alle wichtigen Baumwollanbaugebiete bereist. Wo war es am eindrücklichsten?

Jedes Land wurde von uns unter einem bestimmten Aspekt bezüglich der Baumwollproduktion und deren Verarbeitung bereist. In China war es vorwiegend der Boom der Industrialisierung. In Brasilien die Abholzung des Regenwalds zu Gunsten der Agrarfläche (erst kommen die Rinder, zwei Jahre später Baumwolle oder Soja, abhängig vom Weltmarktpreis). In Uzbekistan hat uns die Verlandung des Aralsees und die staatlich verordnete Kinderarbeit beeindruckt, in den USA die Lobby der Baumwollfarmer, welche in der Nationalen Politik stark vertreten ist und so zu Subventionen kommt, die wiederum die weltweiten Baumwollmärkte zu Ungunsten nicht subventionierter Farmer verzerren. In Mali besuchten wir NGOs wie Helvetas, welche dank der BioBaumwolle Frauen fördern konnten.

 

Tansania ist ein politisch relativ stabiles Land mit geordneten Verhältnissen. Der Baumwollanbau und die Verarbeitung im Land ist verhältnismässig gut organisiert. Zudem werden hier sehr viele Gebrauchtkleider aus Europa und Amerika gehandelt und getragen.

 

Was war das tiefgreifendste Erlebnis?

Sicher die Begegnungen mit Witwen von Bauern, die Selbstmord begingen wegen Verschuldung und Hoffnungslosigkeit. Schuld daran ist einerseits das von Monsanto und dem indischen Staat eingeführte hybride, gentechnisch modifizierte Baumwollsaatgut. Doch kommt es auch zur Verschuldung durch die Mitgift bei der Verheiratung von Töchtern.

Gab es an gewissen Orten Probleme, weil Du diese Missstände fotografieren wolltest?

Unsere Erfahrung zeigt, dass es in allen Ländern immer Menschen, Behörden, Betroffene gibt, welche das Fotografieren und Recherchieren nicht unterstützen oder gar zu verhindern suchen. In Mali zum Beispiel wollte ich Frauen fotografieren, die bis zur Hüfte in einem Bach voller Farbchemikalien standen um gefärbten Stoff auszuwaschen. Der Versuch endete auf einem Polizeiposten, da es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung kam.

 

USA Im «Cotton Belt» in North Carolina, South Carolina, Georgia, Alabama, Mississippi, Tennessee, Arkansas, Louisiana, Texas, Oklahoma, Missouri, Kentucky, Florida und Virginia wird die Baumwolle mit modernsten Methoden angebaut und geerntet. Ein grosser Teil davon wird auch in den USA verarbeitet und vermarktet. Sogar die Dollarnoten bestehen zu 70% aus Baumwolle. Zudem bestimmt die New Yorker Börse der weltweiten Baumwollpreis.

 

Das Buch ist vor rund zehn Jahren herausgekommen. Glaubst Du, dass sich seither etwas zum Schlechten oder zum Guten verändert hat?

Ich denke schon, dass heute kaum mehr ein Konsument in der westlichen respektive ersten Welt mit gutem Gewissen sagen kann, er wüsste nichts über den hohen Wasserverbrauch der Baumwolle, den exzessiven Einsatz von Pestiziden und Kunstdünger oder den Arbeits- und Lohnverhältnissen der Textilarbeiter/innen. Der Marktanteil von Bio-Baumwolle ist weltweit zwar immer noch sehr gering, doch glaube ich, dass die Konsumenten heute etwas genauer hinschauen, unter welchen Umständen etwas produziert wird. Dies gilt natürlich nicht nur für die Baumwolle.

Hat Dich nach dem Buch und den verschiedenen Ausstellungen das Thema ‘Baumwolle’ noch weiter beschäftigt?

2002 wurde in Indien GVO – modifizierte Baumwolle durch Monsanto eingeführt mit dem Ergebnis, dass zehn Jahre später 90 Prozent des indischen Saatguts gentechnisch modifiziert war. Im biologischen Landbau ist die Nutzung von GVO Sorten jedoch nicht erlaubt. Daher setzte sich die Firma Remei AG/bioRe, die unter anderem die Firmen Mammut, Naturaline, Muji mit Biobaumwolle beliefert, im Jahr 2012 zum Ziel, in den nachfolgenden acht bis zehn Jahren mit Hilfe des FiBL (Forschungsinstitut Biologischer Landbau, Frick) und der indischen Agraruniversität Dharwad neues, qualitativ hochwertiges biologisches Saatgut zu entwickeln. In den vergangen acht Jahren konnte ich diese Arbeit in Indien filmisch begleiten.

 

Usbekistan Die Schulen werden während der Ernte Zeit geschlossen und die Kinder müssen auf den Feldern mitarbeiten, was vom Westen viel kritisiert wird. Die grossen Flüsse Amu Darya und Syr Darya erreichen den Aralsee nicht mehr, sie werden schon vorher leergepumpt, damit die Baumwollfelder bewässert werden können. Als Folge fehlt dem Aralsee 70% seiner ursprünglichen Grösse. Die Stadt Mujnak, einst am Aralsee gelegen, hat kein fliessendes Wasser mehr. Das Wasser für den Haushalt muss täglich an öffentlichen Wasserstellen bezogen werden.

 

Wie siehst Du das Thema im Rückblick?

Es gab uns einen Einblick, nicht nur in die weltweite Baumwollproduktion sondern auch in die Mechanismen der Globalisierung. Brasilianische Baumwolle wird in chinesischen Textilfabriken verarbeitet, in der westlichen Welt getragen. Die Kleidung kommt als Mitumba (Second-Hand-Kleider des toten, weissen Mannes) nach Tansania, von wo aus sie über grosse Teile Afrikas verkauft wird – mit entsprechend negativen Einfluss auf die dortige Textilindustrie. Das Buch hat auch nach zehn Jahren seine Gültigkeit nicht verloren …

Hans Peter Jost wurde auf seinen Reisen von Christina Kleineidam begleitet, die den Text zum Buch verfasste. Ergänzend erläutert die Ökonomin Pietra Rivoli in ihrem Vorwort die globalen Zusammenhänge von Anbau und Vermarktung der Baumwolle.

Während die deutsche Ausgabe vergriffen ist, verfügt der Verlag Lars Müller Publishing noch über einen Restbestand des englischen Buches.

Sämtliche Fotos von Hans Peter Jost
Text: Urs Tillmanns

Bibliografie

Hans Peter Jost «Baumwolle – weltweit»
Texte von Christina Kleineidam und Rietra Rivoli
220 Schwarzweiss-Fotografien, Hardcover
320 Seiten, Format 19,5 x 26 cm
Deutsch (nur noch antiquarisch) und Englisch
Preis ca. CHF 64.90 / Euro 39.90
ISBN 978-3-03778-200-2, Deutsch
ISBN 978-3-03778-201-9, Englisch
Verlag Lars Müller Publishing, Zürich

Weitere Arbeiten von Hans Peter Jost finden Sie auf seiner Webseite

 

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