Urs Tillmanns, 19. März 2021, 16:00 Uhr

Dennis Savini 1. Folge: Fotografisches Sehen lernen

Dennis Savini hat als Werbefotograf während Jahrzehnten alle Stilrichtungen und Arbeitstechniken nicht nur mitgemacht, sondern auch mitgeprägt. Er verfügt damit über einen unendlichen Erfahrungsschatz der kreativen, handwerklichen und wirtschaftlichen Aspekte des Fotografenberufs, den er in seinen Büchern und an der cap-fotoschule Interessierten mit auf den Weg geben möchte. In dieser Artikelreihe möchten wir einige wichtige Themen der professionellen Fotografie aufgreifen, um den Einstieg in die professionelle Fotografie zu erleichtern. (Red)

 

Das Bild erkennen

Ich glaube, das Erkennen eines spannenden Ausschnitts innerhalb der uns umgebenden Vielfalt an visuellen Reizen ist ein erstes wesentliches Merkmal des fotografischen Blicks. In der vermeintlichen Unordnung Ordnung zu finden und ein Bild herauszulösen, das lesbar wird, lässt sich erlernen. Wo setzen wir den Rahmen, was schneiden wir weg und was gehört in den Bildausschnitt hinein? Dies ist eine der schwierigsten Entscheidungen zu Beginn. Hier Sicherheit zu erlangen, braucht viel Übung und dauert lange. Da Bilder – anders als Text – in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden, müssen sie für das Auge des Betrachters einfach erfassbar gestaltet werden. Dies bedingt eine Reduktion der Information aufs Wesentliche, welches dadurch herausgeschält und wahrgenommen wird.

 

 

Übungs-Tipp: Nehmen Sie einen schwarzen Karton von etwa 20 × 30 cm Grösse und schneiden mit dem Japanmesser einen viereckigen Ausschnitt hinein. Halten Sie diesen Ausschnittrahmen im Abstand von etwa 30 cm vor Ihre Augen und blicken, am besten einäugig, durch dieses Guckloch. Sie sehen nun einen Ausschnitt (so wie ihn etwa Ihre Kamera mit Normalobjektiv sieht) und können auf diese Weise Ihren fotografischen Blick beziehungsweise Ihre visuelle Wahrnehmung aktiv trainieren. Versuchen Sie störende Elemente oder Überschneidungen wahrzunehmen und überlegen Sie, ob diese vielleicht durch einen Schritt zur Seite oder durch eine höhere bzw. tiefere Position verschwinden. Mit der Zeit brauchen Sie den Rahmen gar nicht mehr, sondern haben gelernt, Bilder auch so aus der Umgebung herauszulösen. Wenn Sie den Kartonrahmen übrigens näher ans Auge halten, sehen Sie das erweiterte Bildfeld eines Weitwinkelobjektivs, und wenn Ihr Arm ausgestreckt wird, das Bildfeld eines Teleobjektivs. Versuchen Sie so verschiedene Bilder im Quer- und im Hochformat für dasselbe Motivs zu sehen.

Sie haben damit bereits ein wesentliches Element der Fotografie integriert: die Reduktion der umfassenden Realität auf einen kleinen Ausschnitt, Ihren Rahmen. Wichtig scheint mir, dass Sie zu entscheiden lernen, was in Ihrem Bild sichtbar sein soll und was Sie weglassen wollen.

 

 

Zwei Fotos vom selben Ort in Südmarokko fotografiert. Die Totale zeigt eher die weiche Dünenlandschaft, während der Ausschnitt die Strukturen und Formen im Sand sowie die aufblühende Vegetation in den Fokus rückt. Beide Bilder präsentieren verschiedene Aspekte dieser Landschaft.


 

Zwei Ansichten desselben Motivs – einmal als Totale fotografiert und einmal als Detailansicht der verwitterten Bootswand. Beim ersten Bild ist das verlassene Boot eingebettet in die Landschaft, das zweite Bild beschränkt sich auf die Bootswand. Beide Bilder sind Ausschnitte aus der Realität und erzählen verschiedene Geschichten.

 

Neue Bilder entdecken

Wir gehen nun noch einen Schritt weiter und setzen den Ausschnitt nicht mehr im oberflächlich Sichtbaren, sondern entdecken unser Motiv mit Adleraugen, suchen nach neuen Bildern – solchen, die der flüchtige Betrachter nicht einmal wahrnimmt. Damit sind Sie bereits zum Fotografen geworden, indem Sie Bilder schaffen, die nur Sie so sehen.

Ich möchte das an einem Beispiel aus der Landschaft des Morteratsch-Gletschers illustrieren. Erst einmal beeindruckt die gewaltige Gletscherlandschaft unsere Wahrnehmung und nimmt uns gefangen. Die Bilder, die dadurch entstehen, sind zwar hübsch, aber auch bekannt, da sie das wiedergeben, was jeder sieht. Suchen wir aber etwas weiter, können in dieser ungewöhnlichen Landschaft Dinge entdeckt werden, die sich nicht jedermann offenbaren. Ausschnitte, Detailansichten, andere Perspektiven, Formen und Muster in dieser bizarren Landschaft zu sehen, führt zu Bildern, welche diese Landschaft auf eine andere, vielleicht interessantere und neue Art zeigen.

Die Gesamtansicht der Gletscherzunge ist beeindruckend, aber nicht überraschend:

Beim Herangehen offenbaren sich spannende Details, die den kalbenden Gletscher anders zeigen als gewohnt. Nun entstehen Bilder, die in ihrer Abstraktion über die Landschaft hinausgehen und uns die Natur noch näherbringen:

Text und Bilder: Dennis Savini

In der nächsten Folge, die am kommenden Freitag um 16:00 Uhr auf Fotointern erscheint, geht es darum, den richtigen Moment für ein wirkungsvolles Bild zu erfassen.

 

Der Autor

Dennis Savini, 1955 geboren, hat nach der Schule die Lehre als Fotograf gemacht und ist seither der visuellen Welt verpflichtet. Er ist ein unbedingter Ästhet und innerhalb der Werbewelt ein in vielen Bereichen erfahrener Profi der Spitzenklasse. Mit seinem bekannten Fotostudio in Zürich ist er ein sehr gefragter Spezialist für Schmuck, Uhren, Food, Porträts und Geschäftsberichte. Diverse Veröffentlichungen in Büchern und Publikationen zur Fachfotografie sowie zahllose Artikel in vielen Ländern, machten ihn zum Begriff für eine stilvolle, klare und kreative Bildsprache. Als Gründungs- und jahrelanges Vorstandsmitglied der vfg (vereinigung fotografischer gestalterInnen) half er mit, den Beruf Fotodesigner neu zu definieren und kreativ auszurichten. Seit 14 Jahren ist er an der cap fotoschule beteiligt, an der er auch praktische Fotografie unterrichtet.

 

Das Buch

Die eben begonnene Serie «Professionell fotografieren lernen» sind Leseproben aus dem gleichnamigen Buch von Dennis Savini, das 2019 im Verlag dpunkt erschienen ist. Das Buch kann im Buchhandel, direkt beim Verlag oder im Ausland hier bestellt werden. Lesen Sie dazu auch die Buchbesprechung auf Fotointern.ch.

216 Seiten, komplett in Farbe, Festeinband
April 2019, Format: 207 x 255 mm
dpunkt.verlag, Heidelberg
Buch ISBN 978-3-86490-504-9
Preise:
Buch CHF 46.90 / EUR 34,90
PDF: EUR 27,99 (ohne DRM) ISBN PDF: 978-3-96088-217-6
E-Book (PDF + ePub + Mobi) EUR 27,99 ohne DRM

Das Buch kann direkt beim Autor oder im Ausland hier bestellt werden.

 

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