Das menschliche Auge scheint alles scharf zu sehen, was genau genommen jedoch nicht der Fall ist. Das Auge fokussiert nur fortlaufend und sehr schnell die Dinge, die wir nacheinander anvisieren. So entsteht in unserer Wahrnehmung der Eindruck, alles gleichzeitig scharf zu sehen. Die Kamera hingegen bildet jeweils nur die Ebene scharf ab, auf die das Objektiv fokussiert wurde.
Durch Abblendung können wir zwar eine Verringerung der Unschärfe erreichen, doch grundsätzlich wird nur eine Ebene scharf fokussiert. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur visuellen Wahrnehmung des Auges. Was das Auge im Gegensatz zur Kamera hingegen nicht beherrscht, ist ein Objekt scharf in einer unscharfen Umgebung zu isolieren. So haben wir mit der Kamera ein Gestaltungsmittel zur Hand, das wir bildgestalterisch einsetzen können.
Tipp
Setzen Sie den Fokuspunkt bewusst ein, um Ihr Objekt aus der Umgebung herauszulösen und so die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Gerade bei Porträts oder bei Detailaufnahmen kann es hilfreich sein, den Hintergrund in die Unschärfe abzusetzen, sodass er an Wichtigkeit verliert und nicht mehr von der Person oder dem Hauptmotiv ablenkt.
«Industrie». Durch einen klaren Fokuspunkt lenkte ich das Auge auf die bildwichtige Stelle und ließ das Umfeld unscharf verschwinden. Es dient nur noch der Stimmungsbildung und lenkt so nicht vom wesentlichen und scharf fokussierten Bildelement ab. Die Bilderserie entstand mit der Nikon D4 und dem 85 mm-1,4-Objektiv, bei Offenblende und ISO 2000 aus der Hand. Der Weißabgleich lag bei 3000 Kelvin.19
Tipp
Setzen Sie bewusst durch Abblenden die Schärfentiefe ein, um den Hintergrund miteinzubeziehen und das Hauptobjekt so in die Umgebung einzubetten. Auf diese Weise lassen sich Vordergrund und Hintergrund miteinander verschmelzen.
«Rheinhafen». Hier sind alle Ebenen gleich wichtig für das Bild. Durch maximale Abblendung werden sie scharf und damit im Bild gleichwertig dargestellt. Diese beiden Aufnahmen entstanden mit der Nikon D810 mit dem 24 mm-Tilt/Shift-Objektiv bei Blende 22 und ISO 64. Zum Einsatz kam hier ein Stativ, was mir mehr Zeit für eine sorgfältige Komposition gab. Ich achtete speziell auf die Linien und Überschneidungen der Elemente im Bildausschnitt.
Die Unterschiede menschlicher Wahrnehmung und Fotografie
Damit haben wir vier unterschiedliche Wahrnehmungsmerkmale herausgearbeitet und analysiert, welche den Blick des menschlichen Auges von dem der Kamera unterscheiden.
Auf den ersten Blick scheinen dies vier Minuspunkte für die Fotografie zu sein, da das menschliche Sehen in Zusammenarbeit mit unserem Gehirn ja eine nahezu perfekte Wahrnehmung bietet. Doch bei vertiefter Betrachtung entdecken wir auch entscheidende Vorteile der Fotografie gegenüber dem menschlichen Sehen:
1. Der Ausschnitt des Bildes aus der vielgestaltigen, umfassenden und darum manchmal verwirrend vielfältigen Realität hilft uns eine Selektion zu treffen und den Blick aufs Wesentliche zu lenken.
2. Der Mangel an Dreidimensionalität und die Beschränkung auf nur noch zwei Ebenen bringen die Dinge in ein flaches Bild, welches dadurch schneller erfassbar wird.
3. Der Faktor Zeit und der entscheidende Moment lösen ein Ereignis aus dem Fluss der Zeit, halten es fest und machen es dadurch erst sichtbar.
4. Der Fokus schält das Wichtige heraus, lässt Unwichtiges in der Unschärfe verschwinden und beschränkt die Informationsflut auf das Wesentliche. Er erleichtert so die Lesbarkeit und das Verständnis.
Damit haben wir die bestimmenden Charaktereigenschaften der Fotografie begriffen. Diese Kenntnis hilft uns, die Mittel, welche die Fotografie bietet, bewusst und kreativ wahrzunehmen und einzusetzen. Dazu kommen die formalen Gestaltungsmittel, deren zielgerichteter Einsatz die Fotografie zu einem einzigartigen und wirkungsvollen Kommunikationsinstrument macht. Sie bilden zusammen mit dem Grundverständnis fotografischen Sehens die wesentlichen Gestaltungsmittel der Fotografie.
Info
Grundsätzlich bietet die Fotografie ein eingeschränktes Bild der Wirklichkeit. Gerade dies kann jedoch, wenn wir das Wesentliche aus der komplexen Realität herausschälen, zu einer Konzentration führen, und damit komplexe Inhalte auf den Punkt bringen.
«Cutis» – ein Langzeitprojekt von Simon von Guten
«Cutis» ist ein Langzeitprojekt von Simon von Guten, das Menschen unter ultraviolettem Licht betrachtet und portraitiert. Es illustriert die Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung: Die Aufnahmen enthalten einen hohen Anteil an ultravioletter Strahlung, welche zwar von der Kamera, jedoch nicht vom menschlichen Auge selbst wahrgenommen werden können.
Text-Copyright Dennis Savini
Lesen Sie auch:
Folge 1: «Fotografisches Sehen lernen» (19. März 2021)
Folge 2: «Den richtigen Moment erfassen» (26. März 2021)
In der nächsten Folge, die am kommenden Freitag um 16:00 Uhr auf Fotointern erscheint, geht um vorhandenes Licht und Lichtführung.
Dieser Artikel von Dennis Savini, Leiter der cap fotoschule, ist eine Leseprobe aus dem Buch «Professionell fotografieren lernen», das 2019 im Verlag dpunkt erschienen ist. Das Buch kann im Buchhandel, direkt beim Verlag oder im Ausland hier bestellt werden. Lesen Sie dazu auch die Buchbesprechung auf Fotointern.ch.
216 Seiten, komplett in Farbe, Festeinband
April 2019, Format: 207 x 255 mm
dpunkt.verlag, Heidelberg
Buch ISBN 978-3-86490-504-9
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Buch CHF 46.90 / EUR 34,90
PDF: EUR 27,99 (ohne DRM) ISBN PDF: 978-3-96088-217-6
E-Book (PDF + ePub + Mobi) EUR 27,99 ohne DRM
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