«Der Nachteil der Studiofotografie ist: Es windet nicht!» Andreas Feininger (1906–1999)
«Patrizia im Spiegel». Diese Aufnahme entstand für eine Hotelgruppe im Beautybereich bei natürlichem Tageslicht. Das Model spiegelt sich in einem Kosmetikspiegel, wobei der Fokuspunkt aufs Spiegelbild gesetzt ist. Die Umgebung ist noch spürbar, lässt den Blick jedoch auf dem Gesicht ruhen. Das Tageslicht ist stets anders und selten neutral, dadurch entstehen immer wieder interessante Farbstimmungen. Im Studiolicht hingegen werden alle Bilder gleichbleibend farbneutral. Hohe ISO-Zahlen und Objektive mit grosser Öffnung helfen das Tageslicht einzufangen. (Nikon D3 mit 50-mm-1,2-Objektiv, bei Offenblende und ISO 600)
Fotografieren mit Available Light aus praktischer Sicht
Lichtmenge und Lichtqualität können sich je nach Situation stark unterscheiden, was aufmerksame Augen voraussetzt und erforderlich macht, den Lichtcharakter für den fotografischen Einsatz jedes Mal fallweise zu beurteilen.
Die Lichtmenge ist heute dank unserer leistungsfähigen Digitalkameras nicht mehr so entscheidend, die auch mit sehr wenig Licht gute Fotos aufnehmen können. Sinnvollerweise verwenden wir Objektive mit hoher Lichtstärke und schrauben die ISO-Zahl etwas höher, was eigentlich alle Kameras im Semiprofi- und Profibereich gut wegstecken. Im Still-Life-Bereich kann natürlich auch mit Stativ gearbeitet werden und dadurch mit tieferen ISO-Werten sowie etwas längeren Belichtungszeiten.
Wichtiger als die Lichtmenge ist für die Available-Light-Fotografie also die Qualität des vorhandenen Lichts. Unter »Lichtqualität« versteht man einerseits die Farbtemperatur und Farbcharakteristik des Lichts, andererseits die Grösse der Lichtquelle und die Lichtführung im Raum. Welche Farbe hat das Licht und wie wirkt es sich auf die Stimmung aus? Passt es zu meiner Bildvorstellung? Ist das Licht diffus gestreut und ohne klare Richtung oder gibt es eine sichtbare Lichtführung durch Fenster oder Raumöffnungen?
Lässt sich eine klare Lichtrichtung ausmachen? Situationen mit undefiniertem Licht ergeben meist flache Bilder ohne Licht- und Schattenbereiche, die für eine räumliche Wirkung wichtig sind. Grosse Fenster helfen das Tageslicht in den Raum zu bringen, Wände und Türen schaffen Schattenzonen. Beides ist wichtig für eine plastischeund charaktervolle Lichtführung.
Die beiden Faktoren (Farbtemperatur und Lichtführung) versuche ich zu beurteilen und berücksichtige sie in der Wahl des Standorts. Da ich Fenster oder Türen nicht verschieben kann, muss ich meine Position im Raum den Lichtverhältnissen anpassen. Meist suche ich die Nähe einer Lichtquelle, um mein Objekt zu positionieren. Ich bevorzuge eine eindeutige Lichtrichtung gegenüber Licht, das undefiniert aus allen Richtungen kommt.
Die Farbtemperatur wiederum setze ich für Farbstimmungen ein, wozu ich vom automatischen Weissabgleich an der Kamera zur manuellen Eingabe der Farbtemperatur in Kelvin wechsle, um eine mir vorschwebende Farbstimmung zu erreichen. Dies ist ein probates Mittel, um aktiv in die Stimmung einzugreifen und das entstehende Bild kreativ zu beeinflussen. Farbstimmungen sind Geschmackssache und können ganz unterschiedlich empfunden werden. Meist gibt es aber Gründe für die eine oder andere Interpretation.
Drei Stillleben – ein Ort
«Drei Stillleben», fotografiert in einer alten Seilerei (Bild rechts) mit wunderschönen Nordlichtfenstern, die ein ideales Licht geben. Die Aufnahmen zeigen, wie man vorhandenes Licht auf verschiedene Art nutzen kann. (Nikon D810 ab Stativ und 100-mm-Makroobjektiv von Zeiss)
Das erste Stillleben ist ganz nahe am Fenster entstanden, im weichen Gegenlicht des grossen Fensters. Das Licht ist breit gestreut und umfliesst förmlich die Macarons. Diese Aufnahme belichtete ich eher auf der hellen Seite.
Das zweite Stillleben entstand etwa 1 m vom Fenster entfernt auf einer alten Holzbank im Seitenlicht des Fensters. Das Licht hat eine eindeutigere Lichtrichtung und zeigt nun schon tiefere Schatten. Das Bild zeigt die Location, in welcher alle drei Stillleben-Aufnahmen entstanden sind.
Das dritte Stillleben vom Whisky fotografierte ich ganz an der hinteren Wand, nur mit dem Seitenlicht von der etwa 3 m entfernten Fensterfront. Hier ist die Lichtquelle aufgrund des Abstandes noch kleiner geworden und die Lichtwirkung entsprechend härter, die Schatten erscheinen ausgeprägter und dunkler.
Bildbeispiele «Patrizia». Beide Porträts im winterlichen Raumlicht eines Lofts haben etwas für sich. Das kühlere Bild wurde mit 3700 Kelvin aufgenommen und das wärmere mit 5500 Kelvin. Entweder ist es das Spiel mit dem Farbkontrast oder das mit der Farbharmonie, was die Bildwirkung bestimmt. (Nikon D5 mit 70–200-mm-Objektiv bei Blende 2,8, aus der Hand fotografiert, 1/250 Sek. und ISO 800)
Mischlicht
Stammt das Licht von mehreren Lichtquellen unterschiedlicher Farbtemperatur und Farbcharakteristik, sprechen wir von Mischlicht. Zum vorhandenen Licht kann Blitzlicht oder Kunstlicht dazukommen, welches wir als Akzentlicht oder als Aufhelllicht einsetzen. Wir fotografieren immer noch mit der vorhandenen Lichtstimmung, die wir aber partiell an unsere Bildvorstellung anpassen. Mischlicht bedeutet fast immer, mit unterschiedlichen Farbtemperaturen der verschiedenen Lichtquellen zu arbeiten und sie in die Bildgestaltung einzubeziehen. Dabei kann man sehr kreativ sein, und das macht die Available-Light-Fotografie zu einem guten Teil aus, muss aber beherrscht werden. Wir haben nun schon ein kleineres Orchester zu dirigieren und die einzelnen Lichtquellen aufeinander abzustimmen, ähnlich den einzelnen Instrumenten im Orchester, was etwas Erfahrung voraussetzt.
Es ist die Kunst des Porträtfotografen, für kurze Zeit Zugang zum Menschen vor der Kamera zu finden. Ähnlich einer Interviewsituation treten Sie für kurze Zeit in einen – manchmal auch stummen – Dialog. Verpassen Sie den flüchtigen Moment, in dem sich die Person Ihnen öffnet, bilden Sie nur die Fassade ab. Der Blick des Betrachters kann in diesem Fall auch nicht tiefer dringen, als Sie es vermocht haben.
Tipp
Reden Sie zuerst ein wenig mit der Person, bevor Sie zu fotografieren beginnen. So bauen Sie Vertrauen auf und die Person öffnet sich Ihnen. Versuchen Sie Ihr Model am Gestaltungsprozess zu beteiligen, indem Sie Ihre Idee erläutern, und kommunizieren Sie während des Shootings auch, was Sie gerade machen. Schenken Sie der Kleidung und Frisur Beachtung, genauso wie dem vielleicht störenden Hintergrund. Sollten die Hände auf dem Bild sichtbar sein, sind diese ebenfalls ein wichtiges persönliches Merkmal. Sie können den Ausdruck verstärken, deshalb achten Sie darauf, wie die Handstellung ist, und geben notfalls Tipps oder Anweisungen dazu. In dem Moment, wenn Sie eine Person fotografieren, sollte die Aufnahmetechnik in den Hintergrund treten und Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Menschen gelten.
«Physiotherapie in der Reha Clinic». Diese Bilder entstanden mit Modellen und echten Physiotherapeuten der Klinik in Bad Zurzach für Werbezwecke. Ich habe weitgehend mit vorhandenem Licht gearbeitet und nur Ranger Quadra Blitze, indirekt über die Decke, zur Aufhellung des Vordergrunds verwendet. Das Gegenlicht half mir, den sehr unruhigen Kraftraum so zu belichten, dass dieser kaum zu erkennen war, und eine helle, freundliche Gesamtatmosphäre zu schaffen. Der Mut zum Gegenlicht – mit überstrahlten Details und überbelichteten Stellen – resultiert in natürlich anmutenden Fotografien. (Nikon D5 mit 85-mm-1,4- und 58-mm-1,4-Objektiv, bei Offenblende, 1/250 Sek., ISO 640 und ohne Stativ)
Text-Copyright Dennis Savini
Lesen Sie auch:
Folge 1: «Fotografisches Sehen lernen» (19. März 2021)
Folge 2: «Den richtigen Moment erfassen» (26. März 2021)
Folge 3: «Den Blick fokussieren» (1. April 2021)
In der nächsten Folge, die am kommenden Freitag um 16:00 Uhr auf Fotointern erscheint, geht um Mischlicht, und wie man dieses meistert.
Dieser Artikel von Dennis Savini, Leiter der cap fotoschule, ist eine Leseprobe aus dem Buch «Professionell fotografieren lernen», das 2019 im Verlag dpunkt erschienen ist. Das Buch kann im Buchhandel, direkt beim Verlag oder im Ausland hier bestellt werden. Lesen Sie dazu auch die Buchbesprechung auf Fotointern.ch.
216 Seiten, komplett in Farbe, Festeinband
April 2019, Format: 207 x 255 mm
dpunkt.verlag, Heidelberg
Buch ISBN 978-3-86490-504-9
Preise:
Buch CHF 46.90 / EUR 34,90
PDF: EUR 27,99 (ohne DRM) ISBN PDF: 978-3-96088-217-6
E-Book (PDF + ePub + Mobi) EUR 27,99 ohne DRM
Das Buch kann direkt beim Autor oder im Ausland hier bestellt werden.