Er hat ein Auge für sie. Er, der Fotograf und frühere Co-Direktor des Schweizerischen Kameramuseums Jean-Marc Yersin, sie, die monumentalen Bauwerke, die irgendwo in der Landschaft stehen. Brücken, Sperren, Staumauern, Industriebauten, Mühlen, Stützpfeiler … Sie fallen auf, die hellgrauen Giganten, in der grünen Umgebung, die als reine Zweckbauten ihre spezifischen Aufgaben haben. Sie dienen dem Verkehr, sie regulieren einen Wasserstand, in ihnen wird irgendetwas produziert, gelagert oder bearbeitet. Wir haben uns längst an ihre Existenz gewöhnt – ob wir sie nun schön finden oder nicht.
Die Bilder zeigen eine Spannung, einen Konflikt zwischen Beton und Natur, aber auch zwischen Gegenwart und Zukunft. Was wird dereinst aus diesen Gesteinsstrukturen, aus diesen Spuren (Vestiges) unserer Zivilisation? Sie dokumentieren die Gegenwart und sie reflektieren in eine ungewisse Zukunft – in die vierte Dimension.
Jean-Marc Yersin will uns auf sie aufmerksam machen. Sie sind für ihn zum Vorzugsmotiv geworden, mit denen er dokumentiert, gestaltet, aber auch anklagt. Brauchen wir sie wirklich, diese Monumente, und wenn ja, wie lange noch? Yersin verbringt Stunden damit diese Betonmonumente aus ungewohnten Ansichten und Perspektiven zu zeigen – nicht so, wie wir sie vom Vorbeifahren her kennen, sondern er nimmt sich Zeit, um andersartigen Ansichten zu finden, um die Betonstrukturen perfekt in sein Bildformat zu gestalten. Hier spielt nicht der Zufall Regie, sondern sein geübtes grafisches und fotografisches Auge.
Sein bevorzugtes Format ist das Quadrat, das mit seinem gleichschenkligen Seitenverhältnis eine Ruhe und Harmonie ausstrahlt. Es ist der ruhige Pol in diesen Bildern und beeinflusst deren Inhalt weder in der Horizontalen noch in der Vertikalen. Das Auge des Betrachters findet im Quadrat seine Ruhe und konzentriert sich voll auf das, was sich innerhalb des Bildrahmens abspielt.
Es wirkt paradox, aber Yersin fotografiert mit einer Leica M10-R, einer Kamera, die auf das Seitenverhältnis 2:3 ausgelegt ist. Schon bei der Aufnahme «sieht» Yersin das fertige Bild vor sich, das Quadrat, das er hinterher exakt so gestaltet, dass das Motiv darin harmonisch seinen Platz findet. Die Vertikalen sind exakt geradegestellt, mit dem Shift-Objektiv oder nachträglich bei der Bildbearbeitung – so wie es die perfekte Architekturfotografie verlangt. Es ist angeschnitten, was angeschnitten sein darf, es hat genügend Freiraum um jene Motivteile, die «Platz zum Atmen» brauchen. Der Bildausschnitt ist exakt harmonisiert – jede Ausschnittänderung würde zu einer Verfälschung, zu einem schlechteren Bild führen.
Yersins Bilder sind Schwarz-Weiss. Schwarzweiss, weil dies die Sprache der Abstraktion ist, mit einem Bildausdruck, der sich etwas von der Realität entfernt und dem Betrachter mehr gedanklichen Freiraum lässt. Die Objekte werden damit in die Zukunft kolportiert, in eine Zeit der Ungewissheit und in die Welt der Fantasie des Betrachters.
Schwarzweiss fasziniert. Die harten Kontraste von sattem Schwarz zu zartem Weiss mit einer unendlichen Fülle von Tonwertmodulationen dazwischen, fesseln unser Sehempfinden, das eine bunte, oft schreierische Farbvielfalt gewohnt ist. Das Auge findet Ruhe in diesen Fotos, die von Schwarz bis Weiss geprägt sind und konzentriert sich damit stärker auf die Aussage des Bildes.
Noch sind sie da, alle diese Betongiganten. Viele werden noch gebraucht, andere nicht mehr. Der Zahn der Zeit nagt an ihnen, frisst sich langsam durch Beton und Stahl. Alles, was nicht gepflegt ist, wird sich die Natur eines Tages zurückholen …
Text: Urs Tillmanns
Bilder: Jean-Marc Yersin
Ausstellung Vestiges im Kameramuseum Vevey
Die Ausstellung «Vestiges» ist noch bis 2. Januar 2022 im Schweizerischen Kameramuseum in Vevey zu sehen.
Weitere Informationen finden Sie unter cameramuseum.ch
Jean-Marc Yersin
Nach seiner Ausbildung in einem Studio für Werbefotografie in Carouge arbeitete Jean-Marc Yersin in verschiedenen Bereichen. Während einer langen Reise nach Nordamerika im Jahr 1981 entstand das Buch «Downtown», das die Frage nach dem Platz des Individuums in der amerikanischen Stadt stellt. Gemeinsam mit seiner Frau Pascale Bonnard Yersin, einer Archäologin, übernahmen sie 1991 die Leitung des Schweizerischen Museums für Fotografie in Vevey, wo sie 1995 zu den Gründern des Festival Images gehörten. Nach der Errichtung des Erweiterungsbaus des Museums im Jahr 2012 konnte Jean-Marc Yersin nach und nach seine eigenen fotografischen Projekte wieder aufnehmen. 2016 kehrte er in die Region Chicago zurück, um «Crisis», den ersten Band von «Notebooks from Another Time», zu produzieren. Seit Juni 2018 ist er als Co-Direktor des Schweizerischen Kameramuseums im Ruhestand und hat seine Arbeit als Fotograf wieder aufgenommen, um «Vestiges» zu produzieren, ein umfangreiches Projekt, das in den ersten Monaten seiner Tätigkeit am Museum entstand und 2020 als Privatedition veröffentlicht wurde. Info: jean-marc-yersin.ch
Das Buch «Vestiges»
Dier Bilderserie «Vestiges» gibt es in einer limitierten und nummerierten Privatauflage von 200 Exemplaren. Es umfasst 96 Seiten mit 97 Bildern sowie Texte von Jean-Marc Yersin, Luc Debraine, Daniela und Guido Giudici sowie Urs Stahel.
Das Buch im Format 24 x 24,5 cm kostet CHF 45.00 (zzgl. Versandspesen CHF 10.00) und in der Luxusausgabe mit Schuber und einem Originalprint CHF 200.00 (nur 20 Exemplare).
Das Buch kann per E-Mail beim Autor bestellt oder im Shop des Schweizerischen Kameramuseums in Vevey erworben werden.