Der Titel der Ausstellung «Nach der Natur» mag für viele Leute nicht unbedingt ein klarer Hinweis darauf sein, worum es sich handelt. Der Ausdruck war damals üblich, um zu betonen, dass es sich bei den Bildern um echte Fotografien handelte und nicht etwa um zeichnerische Darstellungen, die oft übertrieben und unrealistisch waren. «Daguerréotype d’après nature» oder «nach dem Leben photographiert» bedeutete auch, dass das Bild mit Hilfe eines mysteriösen Kastens entstand, (fast) ohne das Dazutun von Menschenhand.
Gute erhaltene Daguerreotypien sind selten geworden wie dieses Familienbild von Antoine Détraz fotografiert um 1850. © Collection Nicolas Crispini, Genève
Gute erhaltene Daguerreotypien – benannt nach dem französischen Miterfinder der Fotografie Louis Jacques Mandé Daguerre (1787-1851) – sowie Salzpapiere oder Albuminabzüge sind selten geworden; die besten davon befinden sich längst in den Archiven von Museen, Bibliotheken sowie Privatsammlungen und werden nur in Spezialausstellungen gezeigt. Die Schweizerische Fotostiftung zeigt noch bis 30. Januar 2022 eine noch nie dagewesene Vielfalt dieser Raritäten, welche die ersten 50 Jahre der Fotografie in der Schweiz repräsentieren. Es sind ausnahmslos Originale ausgestellt, die man in dieser Vielfalt wahrscheinlich nie wieder zu sehen bekommen wird.
Die Fotostiftung Schweiz in Winterthur zeigt in allen Räumen einige Hundert Originale aus den ersten 50 Jahren der Fotografie in der Schweiz
Nachdem die Fotografie 1839 in Paris als französische Erfindung proklamiert worden war, eroberte das neue Medium in kürzester Zeit ganz Europa. Der Wettlauf um technische Verbesserungen und die Entwicklung des neuen Gewerbes gingen zwar von den kulturellen Zentren des Kontinents aus, aber bald wurden die schweren Kameras auch in die Dörfer und aufs Land, in abgelegene Täler und auf die Berge getragen, wo die Fotografinnen und Fotografen mit ihren Aufnahmen «nach der Natur» Aufsehen erregten. Wie war es möglich, dass sich die Fotografie so rasant verbreitete? Wer waren die Pioniere, die sich immer neue Anwendungen ausdachten, vom repräsentativen Porträt bis zum Fahndungsbild, von der Natur- und Landschaftsstudie bis zur Darstellung von Industrie und Technik, von der wissenschaftlichen Illustration bis zur Dokumentation von Ereignissen?
Die Ausstellung belegt alle fünf Räume der Fotostiftung und ist nach Art und Epoche der Fotografie unterteilt
Die als Koproduktion von Fotostiftung Schweiz (Winterthur), Photo Elysée (Lausanne) und Museo d’arte della Svizzera italiana (Lugano) organisierte Ausstellung, kuratiert von Martin Gasser und Sylvie Henguely, zeigt ein bisher wenig erforschtes Kapitel der Schweizer Fotografie. Erstmalig werden in einer Überblicksschau die ersten 50 Jahre des neuen Mediums in der Schweiz beleuchtet. Sie führt exquisite Werke aus zahlreichen öffentlichen und privaten Sammlungen zusammen, um die folgenreiche Erfindung in ihrer künstlerischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung zu erfassen. Auch die Konkurrenz und Wechselwirkung der verschiedenen Bildmedien wird anhand eindrücklicher Beispiele vermittelt. Denn bis in die 1890er-Jahre wurden fotografische Bilder am Vorbild der Malerei gemessen; häufig wurden sie auch in druckgrafischen Verfahren umgesetzt, da diese vertrauenswürdiger erschienen und sich in grosser Zahl reproduzieren liessen.
Daguerreotypien waren Unikate, man konnte keine Kopien davon anfertigen. Deshalb zeigen die frühen Fotos meist Einzelpersonen oder Familien. Landschaftsbilder sind selten, weil dafür niemand Geld ausgeben wollte. Drei Daguerreotypien (v.l.n.r) von Bruder Frères, «Frauen mit Kind», 1850er-Jahre, © Sammlung Fotostiftung Schweiz; Emanuel Friedrich Dänzer, «Die Tochter Marie des Fotografen», um 1856. © Privatsammlung Liestal; und Johann Kürsteiner, Tierpräparator, um 1850, von einem unbekannten Fotografen © Privatsammlung Zürich
Die Schweiz im internationalen Kontext
Die Schweiz kann nicht mit der gleichen Fülle von international herausragenden Fotografen und Fotografinnen aufwarten wie etwa Frankreich, Deutschland oder England, dazu war das Land mit seinen kleinräumigen, föderalistischen Strukturen und den grossen kulturellen und politischen Differenzen ein ungünstiger Nährboden. Obschon die Geschichte der Fotografie und die Geschichte des 1848 gegründeten Bundesstaats zeitlich ineinandergreifen, verliefen ihre Entwicklungen keineswegs synchron. Wie es kein eigentliches kulturelles Zentrum der Schweiz gab, so gab es auch kein Zentrum der Fotografie. Während sie sich in der französischen Schweiz im direkten Austausch mit den Fotopionieren der ersten Stunde in Paris fast explosionsartig verbreitete, wurde sie in der Deutschschweiz von weitgehend unbekannt gebliebenen Wanderfotografen eher lokal und regional eingeführt. Hier wurde lange Zeit der Daguerreotypie den Vorzug gegeben, wohingegen Fotografen in der französischen Schweiz schon früh auch das Talbot’sche Salzpapierverfahren einsetzten. Bei diesen Unterschieden dürfte eine Rolle gespielt haben, ob man eher die künstlerischen Aspekte der Fotografie auf Papier bevorzugte (wie in der Romandie) oder die Klarheit und Präzision des Verfahrens auf Metall schätzte (wie in der Deutschschweiz). Der italienische Einfluss wiederum macht sich bei den wenigen frühen Fotografen der Südschweiz bemerkbar, die ihr Handwerk in Italien lernten; sie konnten sich erst in den 1860er-Jahren in der ländlichen Umgebung ihrer Heimat wirklich etablieren. Doch mit der Einführung der Glasnegative und Albuminabzüge kam das Geschäft beidseits des Röstigrabens und im Tessin in Schwung – ein reger Austausch zwischen den Regionen entstand. Die Fotografie galt jedoch immer als Handwerk, das in der Landesausstellung in Zürich 1883 zum ersten Mal einem gesamtschweizerischen Publikum vorgeführt wurde. Die Diskussion darüber, ob Fotografie auch ein künstlerisches Medium sein könne, begann erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in Opposition zu ihrer unaufhaltsamen Entwicklung zum visuellen Massenmedium.
Mit dem Aufkommen des Kollodiumprozesses und der Albuminabzüge waren auch Landschafsfotos wieder gefragt. Hier der Märjelensee am Fusse des Aletschgletschers um 1854 fotografiert von Friedrich von Martens, © Collection Nicolas Crispini, Genève
Die französischen Gebrüder Louis-Auguste Bisson (1814–1876) und Auguste-Rosalie Bisson (1826–1900) waren oft in der Schweiz, um die Alpenlandschaften zu fotografieren; hier das «Wellhorn und Wetterhorn», um 1865 © Collection Nicolas Crispini, Genève
Das Besteigen der Schweizer Gletscher und Gipfel war eine besondere Herausforderung. Hier eine Gruppe auf dem Rhonegletscher – mit Kletterstock und Sonnenschirm, fotografiert vom Elsässer Fotografen Adolphe Braun, 1864, © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
Unterschiedliche Gebrauchsweisen und materielle Vielfalt
Die Entdeckung der Schweiz durch die Fotografie, der Erfolg des neuen Bildmediums, Fotografie als Geschäft, Fotografie und Kunst, Identität und Kontrolle, Fotografie in Industrie und Wissenschaft, Fotografie in Ausstellungen und Büchern – solche Themen werden in der Ausstellung anhand von über 300 Originalobjekten und -abzügen aus der Zeit (Vintage-Prints) verhandelt, wobei auch die faszinierende Materialität früher Fotografie zur Geltung kommt. So kann man etwa die unterschiedliche Wirkung zwischen einer Daguerreotypie und einem gleichzeitig entstandenen Salzpapierabzug im direkten Vergleich erfahren. Und es wird nachvollziehbar, weshalb das neue Bildmedium auch Verwirrung stiftete: Handelte es sich um eine neue Art Zeichnung? Oder eine Malerei, der einfach noch die Farbe fehlte? Was bedeutete «daguerréotype d’après nature» oder «nach dem Leben photographiert»? Dass sich in der Fotografie die sichtbare Welt auf magische Art selbst abbildete, als ob die Natur den Zeichenstift geführt hätte – wie ein «pencil of nature» (Henry Fox Talbot) –, brachte die Betrachterinnen und Betrachter zum Staunen und provozierte eine Debatte über das Verhältnis von Realität und Abbild, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüsst hat.
Für den Ausbau der Eisenbahnlinien in der Schweiz wurden mächtige Bauwerke errichtet, wie beispielsweise der Mittelpfeiler der Kerstellenbachbrücke, fotografiert von Johann Adam Gabler um 1880. © Zentralbibliothek Zürich
«Moderne Verkehrsmittel» wurden fotografiert, um den Fortschritt der Technik zu dokumentieren. Das Bild von Romedo Guler zeigt die Dampf-Traject-Fähre der Schweizerischen Nordostbahn auf dem Zürichsee, um 1885. © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
Wasserfälle haben die Fotografen immer wieder fasziniert. Dieses Bild vom Staubbachfall hat der britische Fotograf Francis Frith um 1862 fotografiert. © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
Neben der Präsentation herausragender Einzelstücke und unbekannter Werke werden die besonderen Leistungen wichtiger Fotografinnen und Fotografen gewürdigt, so etwa von Johann Baptist Isenring (St. Gallen), Carl Durheim (Bern), Jakob Höflinger (Basel), Adrien Constant-Delessert (Lausanne), Jean-Gabriel Eynard (Genf) oder Angelo Monotti (Tessin). Daneben soll vor allem das Zusammenspiel der verschiedenen Erscheinungsformen und Gebrauchsweisen von Fotografie einen differenzierten Gesamteindruck vermitteln. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung und der schnellen Handy-Fotografie ist es wichtig, sich wieder auf die analogen Anfänge des Mediums zu besinnen, als nur schon die Belichtungszeit mehrere Minuten dauerte, und es auch nach stundenlanger Dunkelkammerarbeit keinesfalls sicher war, dass überhaupt ein Bild zustande kommen würde.
Die Ausstellung «Nach der Natur» ist noch bis 30. Januar 2022 zu sehen in der
Fotostiftung Schweiz
Grüzenstrasse 45
CH–8400 Winterthur
Tel. 052 234 10 30
Die Ausstellung wurde kuratiert von Martin Gasser und Sylvie Henguely. Sie ist eine Koproduktion von Fotostiftung Schweiz (Winterthur), MASI – Museo d’arte della Svizzera italiana (Lugano) und Photo Elysée (Lausanne). Die Leihgaben der Ausstellung stammen aus mehr als 60 Museen, Bibliotheken, Archiven und Privatsammlungen.
Publikation: Anfangs Dezember erscheint eine 440 Seiten umfassende Publikation in einer deutschen und französischen Fassung im Steidl Verlag, Göttingen.
Sonderveranstaltungen:
Sonntag 14. November, 11.30 Uhr: «Pioniere und Profiteure»
Ausstellungsrundgang mit Martin Gasser (Kurator) und Sylvie Henguely (Kuratorin)
Sonntag 5. Dezember, 13.30 Uhr: «Nach der Natur. Schweizer Fotografie im 19. Jahrhundert»
Podiumsgespräch und Buchvernissage mit Mirjam Fischer (Produktion), Martin Gasser (Kurator) und Olivier Lugon (Autor). Die Publikation erscheint im Steidl Verlag, Göttingen
Sonntag 16. Januar, 11.30 Uhr: «Magie der Daguerreotypie»
Dialogische Führung mit Madleina Deplazes (Research Curator Fotostiftung Schweiz) und Werner Bosshard (Sammler)
Weitere Informationen finden Sie unter www.fotostiftung.ch